Czytaj książkę: «KüstenSaat»

Czcionka:

Der alte Schlager verursachte ihr Angst …

„Rede oder sterbe!“

Die russischen Reste lagen im …

„Hilfe!“, krächzte sie, „ich will hier raus.“

… der Wolf kam im Morgengrauen …

… und dann herrschte Stille, tödliche Stille.

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8398-9

Gaby Kaden

KüstenSaat


Vorwort

Liebe Leser und Leserinnen, ein spannender Kriminalroman erwartet euch, doch vorab …

… ein herzliches DANKESCHÖN für eure Treue, für die vielen positiven Rückmeldungen, ob persönlich, per Post oder über soziale Medien, für eure Besuche bei meinen Lesungen. Danke, dass ich für euch schreiben darf.

Nach sieben erfolgreichen Küstenkrimis aus Ostfriesland, der Nordseeküste, den Inseln, Carolinensiel und umzu – darf ich nun meine Nummer 8 präsentieren –KÜSTENSAAT und das habe ich euch zu verdanken.

Und sonst? Geschrieben habe ich, aber außer mir sind noch weitere Menschen daran beteiligt, dass aus Fantasie, aus geschriebenem Wort, aus einem Manuskript ein fertiges Buch entstehen kann. Darum:

Danke an den Geschäftsführer Carsten Holzendorff von den CW Niemeyer Buchverlagen und an das ganze Team. Danke an Brigitte Pacholeck, Sarah Krasemann, Rebecca Frankowitz, die mich unterstützen und immer ein offenes Ohr haben. Danke Carsten Riethmüller, der für die kreativen und genialen Cover steht.

Danke auch wieder an Kerstin für konstruktive und hilfreiche Kritik am Text sowie an die „echte“ Kommissarin Irina, ihre „kriminalfachliche“ Beratung und die Ermahnungen: „Gaby, das gibt es nur im Fernsehen, aber die echte Polizei macht das nicht!“

Ich darf immer wieder Menschen aus meinem Umfeld in meinen Büchern nennen, danke dafür. (Anne, Mariechen …)

Ein ganz großer Dank geht an die Buchhandlungen und Geschäfte, in denen meine Bücher angeboten werden.

Danke an Werner, meinen Mann, für die tatkräftige und kritische Unterstützung, an meine ganze Familie, danke für „Leah-Sophie“, die Bereicherung meines Lebens.

Ich danke euch allen – OHNE EUCH WÄRE ALLES NICHTS!

Und, liebe Leser und Leserinnen, bedenkt, dass auch in KÜSTENSAAT alles meiner Fantasie entsprungen ist und nehmt es, wie es gemeint ist, nämlich mit einem Augenzwinkern.

Ein schönes Mädchen

Freitagabend …

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada* ♫

Jana fuhr schon eine Weile auf der Autobahn gen Norden, als sie die ersten Klänge dieses alten Schlagers im Autoradio vernahm. Es war früher Abend und sie wusste, dass es noch weit über eine Stunde dauern würde, bis sie den Hof ihrer Eltern endlich erreichte. Es goss wie aus Kübeln, die Autobahn glänzte vor Nässe und war stark befahren. Eine ungemütliche Fahrt in ihr langes Wochenende, wie sie genervt feststellte.

Grelle Lichter auf der Gegenfahrbahn und auch immer wieder aufblendende rote Bremslichter vor ihr forderten die volle Konzentration der jungen Frau. Vorsicht war angesagt.

Und noch etwas bereitete Jana Unbehagen.

Seit geraumer Zeit schon hing, wie sie im Rückspiegel erkennen konnte, ein Auto dicht hinter ihr. Besetzt, so schien es, mit einer einzelnen Person, einem Mann. Es verwunderte sie, dass der Fahrer ihren Wagen nicht überholte.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

… trällerte es weiter aus dem Radio.

Irgendwie kam ihr diese Melodie bekannt vor … und dann …

♫ Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen – Sie fährt allein’ und sie scheint hübsch zu sein … ♫

… kam es aus dem Radio. Jana schaute automatisch in den Rückspiegel.

♫ Ich weiß nicht ihren Namen und ich kenne nicht ihr Ziel – Ich merke nur, sie fährt mit viel Gefühl … ♫

Jana wurde es heiß und sofort wieder kalt.

„Quatsch!“, schalt sie sich kopfschüttelnd. Jedoch …, war es Zufall, dass hinter ihr dieser Wagen …? Janas rechter Fuß zuckte Richtung Bremspedal, doch sie hatte ihn im gleichen Moment wieder im Griff. Eine Vollbremsung, um den Fahrer abzuschrecken, wäre jetzt zu gefährlich.

Aus dem Lautsprecher des Autoradios erklang es weiter:

♫ Rada rada radadadada – Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen – Ich möcht’ gern wissen, was sie gerade denkt … ♫

Das ist ein Lied aus den 70ern, erinnerte sich Jana. Ja, ein uraltes Lied. In der Küche ihrer Mutter lief ein Radiosender, der alte Schlager brachte. Genau dort hatte sie es schon gehört. Wieder fiel ihr Blick in den Rückspiegel. Noch immer fuhr dieser Wagen hinter ihr, kroch fast in ihren Kofferraum hinein. Was sollte das? Die nächste Hitzewelle durchfuhr die junge Frau. Im gleichen Moment beschlugen die Fensterscheiben von innen.

Jana drehte die Lüftung voll auf.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

Sie wusste nicht, warum, aber der alte Schlager verursachte ihr Angst. Urplötzlich und nicht nachvollziehbar, heftige Angst.

Hatte es damit zu tun, dass sie als Pharmareferentin für Tiermedizin sehr oft mit dem Wagen unterwegs war? Meist allein, auf der Autobahn und vor allem auf dunklen verlassenen Landstraßen. Im Grunde machten ihr diese Fahrten nichts aus. Aber heute war das so, und der jungen Frau grauste es vor den letzten fast achtzig Kilometern Einöde in die Dunkelheit Ostfrieslands hinein, die noch kommen würden. Was, wenn der Wagen ihr auch hier folgte?

♫ Hört sie denselben Sender oder ist ihr Radio aus –Fährt sie zum Rendezvous oder nach Haus’? – Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

Eine dicke Gänsehaut kroch ihr den Köper empor, in die Arme und weiter über die Kopfhaut.

„Hühnerpelle!“, Jana schüttelte sich. Wieder flog ihr Blick zum Rückspiegel.

Verfolgte sie tatsächlich jemand – oder bildete sie sich das nur ein? Aber wer sollte das sein und was wollte der? Der? War es wirklich ein Mann? Schließlich hatte sie in einem kurzen Moment eines entgegenkommenden Scheinwerferlichtes nur eine Silhouette erkennen können.

Trotz der beschlagenen Scheiben konnte sie sehen, dass der Wagen noch immer hinter ihr war. Andere rauschten seitlich vorbei.

Sie tastete nach den Aluminiumkoffern auf dem Beifahrersitz.

♫ Was will der blöde Kerl da hinter mir nur? ♫

... erklang nun eine weibliche Stimme.

♫ Ich frag’ mich, warum überholt der nicht? Der hängt nun schon ’ne halbe Stunde ständig hinter mir – Nun dämmert’s schon und er fährt ohne Licht. ♫

„Genau!“ Die Sängerin sprach ihr aus der Seele. Warum überholte der nicht? Wer wollte da etwas von ihr? Ging es etwa um die Lieferung neben ihr auf dem Beifahrersitz? Um die beiden Koffer, die sie nahe Wiesmoor übergeben sollte? Hatte jemand von dieser geheimen Mission erfahren?

Oder fuhr da vielleicht Jonas hinter ihr?

Sie schüttelte den Kopf und beschloss, sich auf die Fahrt zu konzentrieren. „Das ist doch zu dumm!“, versuchte die junge Frau sich zu beruhigen.

Jana befand sich auf dem Weg zum Wochenendurlaub bei ihren Eltern, war zusätzlich noch in besonderer Mission unterwegs. Die Zeit drängte, eigentlich wollte sie schon am Nachmittag dort eintreffen. Aber ihr Ex hatte sie aufgehalten und wie immer gejammert, ja gebettelt, dass sie doch zu ihm zurückkommen solle. Jana hatte dann irgendwann genervt zugestimmt, noch mit ihm auf einen Kaffee in die Firmenkantine zu gehen, anschließend aber energisch darauf bestanden, dass sie nun wirklich fahren müsse. Jonas schien es dann plötzlich ebenfalls sehr eilig zu haben und hatte zu Janas Erleichterung mit einem Blick auf seine Uhr verkündet, dass er auch noch einen Termin habe.

Jonas! Der größte Fehler ihres Lebens. Jana seufzte und konzentrierte sich wieder auf die Fahrt.

Stolz betrachtete sie die beiden wertvollen Koffer auf dem Beifahrersitz, die man ihr anvertraut hatte und die sie bei einem kurzen Zwischenstopp nachher abliefern sollte.

Dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Lied gelenkt.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫ ... drang es erneut an ihr Ohr.

♫ Wie schön, dass ich heut’ endlich einmal Zeit hab’ Ich muss nicht rasen, wie ein wilder Stier – Ich träum’ so in Gedanken, ganz allein’ und ohne Schranken – Und wünsch’, das schöne Mädchen wär’ bei mir. ♫

„Das träumst du wirklich!“, rief sie aus und wusste gleichzeitig, dass ihre Reaktion irre war.

„Bleib cool, verdammt“, beschwichtigte sich Jana selbst und versuchte das Lied zu verdrängen.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

Endlich kam ihre Ausfahrt und sie konnte die Autobahn verlassen. Die junge Frau setzte den Blinker, folgte dem Wegweiser über die B 437 Richtung Wiesmoor. Der Regen prasselte noch immer auf ihr Wagendach, außerdem machten die dunklen Wolken die Fahrt noch ungemütlicher.

♫ Bye-bye, mein schönes Mädchen, gute Reise – Sie hat den Blinker an, hier fährt sie ab. ♫

Wieder kroch eine Hühnerpelle über ihren Nacken bis zur Kopfhaut hoch.

„Schluss jetzt! Musik aus! Ich schaue einfach nicht mehr in den Rückspiegel.“ Jana drehte das Radio ab.

Doch ganz gelang es ihr nicht. Mit einem Auge schielte sie in den Spiegel und atmete erleichtert auf. Hinter ihr war es dunkel. Kein Auto zu sehen. Nun lagen noch ungefähr siebzig Kilometer durch Dörfer und über die Landstraße vor ihr, bis sie in Wiesmoor und später dann zu Hause war.

Erleichtert drückte sie sich in den Fahrersitz und gab Gas. Der Refrain des Liedes ging ihr allerdings nicht aus dem Sinn.

♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫

… trällerte es in ihrem Kopf.

Nachdenklich fuhr sie in die Dunkelheit Ostfrieslands hinein und schimpfte zwischendurch: „Verdammter Ohrwurm.“

Bockhorn stand auf dem nächsten Wegweiser. „Genau! Über Bockhorn und Friedeburg schnell nach Wiesmoor, die bestellte Ware abliefern“, flüsterte Jana, „und dann endlich zu Mama und Papa.“ Irgendwie fühlte sie sich unruhig, wusste aber nicht, warum.

Wieder schaute sie zu den Koffern. Ja, der Auftrag erfüllte sie mit Stolz. Auf dem einen Aluminiumkoffer klebte ein roter, auf dem anderen ein gelber Punkt. Das war das einzige Unterscheidungsmerkmal. Niemand durfte von außen erkennen, was sich darin befand. In den Koffern lag je noch ein Lieferschein, hatte man ihr gesagt, zu dem sie dem Empfänger etwas ausrichten sollte. Dieser Code, ein kurzer Satz, sei wichtig für den Empfänger und dürfe nur ihm übermittelt werden. Ohne Code sei die wertvolle Lieferung nutzlos.

Im Paket mit dem roten Punkt befanden sich drei gut verpackte und gekühlte Glasbehälter, in dem anderen einhundert kleine Ampullen. Beide Inhalte erfolgversprechend und doch unterschiedlich und nur sie konnte für die richtige Verwendung sorgen. Das war die Sicherheitsvorkehrung, die ihre Auftraggeber eingebaut hatten, falls die Lieferung in falsche Hände kommen sollte.

„Zwei vollkommen unterschiedliche Inhalte“, flüsterte sie, „beide immens wertvoll, zukunftsträchtig und erfolgversprechend und trotzdem so anders.“ Ja, sie wusste genau, was sich in den Koffern befand, hatte es von Jonas erfahren, der ihr gegenüber mit seinem Wissen prahlte. Offiziell aber durfte sie natürlich keine Kenntnis davon haben.

Jana konzentrierte sich wieder auf ihre Fahrt, sie wollte den Auftrag schnell erledigen und dann endlich nach Hause. Im Rückspiegel tauchten in der Dunkelheit nun doch zwei leuchtendgelbe Augen auf; Scheinwerfer, aber die kümmerten sie nicht.

Die junge Frau schaltete das Radio wieder ein, suchte einen anderen Sender mit modernerer Musik. Von alten Schlagern hatte sie für heute genug.

Irgendwann rauschte ein Auto an ihr vorbei.

„Idiot“, fluchte Jana, „muss das sein, in der Dunkelheit und auf der unübersichtlichen Straße?“ Der Regen hatte nicht nachgelassen und ihre Scheibenwischer schoben sich quietschend über die Frontscheibe.

Schnell waren die Rücklichter des Rasers in der Nacht verschwunden.

Laut sang sie ein Lied mit, klopfte den Takt mit den Fingern auf dem Lenkrad. Jana freute sich auf die beiden Tage zu Hause und die anstehende Geburtstagsfeier ihrer Mutter. Erst am Montag würde sie wieder losmüssen, dann hatte sie einen Termin bei einem Tierarzt in Leer. Sie sang auch das nächste Lied mit, laut und falsch, aber egal. Dann verstummte sie plötzlich und nahm verwundert den Fuß vom Gas. Was war das, da weit vor ihr? Irgendetwas oder irgendwer befand sich mitten auf der Straße. Noch konnte sie nichts Genaues erkennen und schaltete das Fernlicht ein. Jana atmete heftig. Gab es dort einen Unfall oder wollte jemand … Mit der rechten Hand griff sie nach den Koffern neben sich und hob sie hinter den Beifahrersitz.

Mitten auf der Straße stand ein Fahrzeug, unbeleuchtet, ohne Warnblinkanlage, angestrahlt von den Scheinwerfern ihres Wagens. Jana überlegte, ob sie aussteigen oder einfach den Notruf wählen sollte. Für eine Frau, allein auf der Landstraße in dunkler Nacht, war diese Situation zu gefährlich.

„Ach was!“, sprach sie sich laut Mut zu. „Wenn da jemand dringend Hilfe braucht, ist es, bis ein Arzt kommt, sicher zu spät.“ Ihr Medizinstudium, wenn auch Tiermedizin, verpflichtete sie förmlich zum Handeln.

Jana nahm ihr Telefon zur Hand, stieg aus, ließ aber den Motor laufen und ging auf das Fahrzeug zu.

„Hallo!“, rief sie laut. „Hallo, brauchen Sie Hilfe? Soll ich die Rettung rufen?“ Sie wedelte mit ihrem Handy, bekam aber keine Antwort.

Plötzlich vernahm sie von der Seite unheimliche Laute. Was war das? Im seitlichen Gestrüpp konnte sie nun zwei leuchtende Punkte sehen und mit einem Mal war da dieses schreckliche … – ja, was war das? Ein Heulen? Es klang sehr bedrohlich. Jana fröstelte. Die Sache wurde ihr unheimlich.

„Was mach ich hier, bin ich eigentlich blöd?“ Schnell drehte sie sich um und lief zurück zu ihrem Fahrzeug. Als sie es erreichte und einsteigen wollte, registrierte sie hinter sich eine Bewegung, dann traf sie ein Schlag im Nacken und sie fiel nach vorne, schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Aber das spürte sie schon nicht mehr.

Unheimliche Geräusche

Samstag, früher Morgen

Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch, und Jettchen Evers verfluchte ihr Hörgerät, das sie seit geraumer Zeit nachts nicht mehr ablegte. Einige Dinge waren in der Vergangenheit passiert, die die alte Ostfriesin hatten vorsichtig werden lassen. Ihrer Familie gegenüber behauptete sie zwar, dass der Grund darin liege, dass sie sonst den Feuermelder in der Stube nicht hören würde, aber keiner glaubte ihr das. Ihr Grund war ganz banal, sie wollte einfach nicht mehr unbemerkt im Bett überrascht werden. Ohne Hörgerät nämlich war sie taub.

Nun saß sie kerzengerade und stocksteif in ihrem Bett, verwünschte „das olle Ding“ in ihrem Ohr und lauschte doch neugierig.

Ja, da war es wieder, dieses unheimliche Heulen. Sie hörte es genau.

Mit ihren achtundachtzig Jahren war Jettchen Evers schon einiges gewohnt: Der „Fliegende Holländer“ zum Beispiel, den sie und Fienchen, ihre Schwester, in Arrest genommen hatten. Dann dieser Henry, der sie und Fienchen quasi entführt und ihre Enkelin Tomke fast getötet hatte. Und die ein oder andere Geschichte, die sie besser für sich behielt, gab es ja auch noch.

Tomke schimpfte immer wieder mit ihr und meinte, sie beide seien zu leichtsinnig. Das hielt Jettchen Evers natürlich für Quatsch. Sie und Fienchen waren, wie sie waren, Ostfriesinnen eben.

Andererseits natürlich wollten sie das nicht wahrhaben, aber im Inneren wusste Jettchen, dass Tomke recht hatte. Schließlich war diese inzwischen Chefin des hiesigen Kommissariats und musste es wissen, doch zugeben konnte Jettchen es natürlich nicht.

Aber ihre Enkelin hatte sich in den letzten Monaten auch verändert. Was ist mit der Deern nur los?, überlegte sie in schlaflosen Nächten immer wieder.

Doch jetzt. Jettchen horchte auf. Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch.

Nun wurde ihr doch mulmig zumute. Die alte Ostfriesin verhielt sich mucksmäuschenstill und lauschte. Schon in der Nacht war es zu hören gewesen, als sie, ob ihrer senilen Bettflucht, wie sie selbst ihre Schlaflosigkeit nannte, wieder einige Stunden wach gelegen hatte. Gegen Morgen kam es dann oft so, dass sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf verfiel. Oft musste sie dann von ihrer Schwester geweckt werden. Heute allerdings war das anders. Heute war es dieses Heulen, das sie aus dem traumlosen Schlaf holte. Es drang so unheimlich durch die dicken Mauern des alten Kapitänshauses und bis zu ihr ans Bett, dass es der Ostfriesin die Hühnerpelle über den Körper trieb. Woher kam es nur? Konnte der Wind die Ursache sein? Heulte der so unbarmherzig ums Haus? Im Wetterbericht am Ende der Tagesschau gestern Abend wurde doch gar kein Sturm angekündigt, erinnerte sie sich.

Jettchen schob die Bettdecke zur Seite und hob die Beine über die Bettkante. Vorsichtig steckte sie ihre nackten Füße in die Puschen und machte ein paar Schritte zum Fenster. Nun war es wieder still ums Haus. Komisch. Sie lugte durch die Ritzen des Rollos, konnte aber nichts erkennen, so zog sie den Rollladen langsam hoch und lauschte weiter. Aber da war nichts mehr. Jettchen griff nach der wollenen Decke auf dem niedrigen Tisch vor dem Fenster und setzte sich in den Sessel, der ebenfalls am Fenster stand.

Es herrschte gespenstische Stille in dem kleinen Küstenort. Menschenleer, wie ausgestorben schien die Straße vor ihrem Haus. Kein Auto kam an diesem frühen Morgen über die sonst so stark frequentierte Hauptstraße, die in den Ort führte. Tagsüber war es manchmal unerträglich, Auto an Auto und vor allem auch die Lkw hier viel zu schnell vorbeirasen zu hören. Seit Corona allerdings war das anders.

Im Garten auf der anderen Straßenseite bemerkte sie eine Bewegung. Mariechen, die Nachbarin von gegenüber, huschte gerade in den Hühnerstall, um ihre Lieblinge zu versorgen. Mehr war zu der frühen Stunde nicht los. Die einzige Bewegung in den umliegenden Gärten und auch auf der Straße bot der Nebel, der um die Häuser waberte.

Gespenstisch, richtig gespenstisch, wirkte der Morgen. Gespenstisch erschien ihr auch das, was sich, seit dieses heimtückische Virus in der Welt grassierte, hier abspielte. Carolinensiel zeigte sich oft menschenleer. Die Welt hatte sich derart verändert und Jettchen zweifelte, ob das noch ihre Welt war.

Von dem Geheule war nun auch nichts mehr zu hören. Ich glaube, ich werde senil, ärgerte sie sich und erhob sich mühsam aus dem gepolsterten Sessel, der noch aus der Zeit kurz nach ihrer Hochzeit stammte. Mit einem Krächzen warf sie ihren dicken Morgenmantel über die Schultern. Sicher war es unangenehm feucht und kalt draußen, aber ihren allmorgendlichen Gang um das Haus wollte sie trotzdem nicht ausfallen lassen. Mit den Worten „Hilft ja nix, wat mut, dat mut“ und einem schmerzerfüllten Stöhnen schlüpfte sie in die Ärmel des Mantels und band ihn fest zu. Es dauerte morgens meist eine Weile, bis die alte Ostfriesin sich einigermaßen schmerzfrei bewegen konnte. „Die alten Knochen wollen einfach nicht mehr so!“, erklärte sie jedem, der es hören wollte.

Fienchen, ihre Schwester, werkelte sicher schon in der Küche umher und richtete den ersten Tee des Tages. Jettchen musste lachen. Fienchen ließ es sich einfach nicht nehmen, morgens den alten Ofen in der Küche einzuheizen, einen großen Wasserkessel aufzusetzen, um für eine erste gute Tasse Tee zu sorgen. Später erst würden sie dann gemeinsam frühstücken.

Und wieder horchte Jettchen auf. Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch, das sie in den letzten Tagen und auch heute, ganz in der Früh, vernommen hatte.

„Jetzt will ich aber wissen, was das ist!“ Kopfschüttelnd verließ sie ihr Schlafzimmer und marschierte über den Flur Richtung Küche.

„Na, bist du ut dien Nüst fallen?“, wurde sie dort von ihrer Schwester begrüßt.

„Nein, ich will wissen, wer hier diese unheimlichen Geräusche macht. Mir reicht’s. Die ganze Nacht ging das so. Moin übrigens, Schwester.“

„Quatsch, ik heb nix höört.“

„Bist ja auch ebenso taub wie ich, aber für ein Hörgerät zu geizig“, rief Jettchen ihrer Schwester zu und mit einer Geste zum alten Ofen noch: „Dein Kessel pfeift!“

„Wer ist taub?“, keifte Fienchen zurück.

Dann zog sich Jettchen den Gürtel des Morgenmantels enger und verließ kopfschüttelnd die Küche zur Hintertür hinaus.

„Du holst dir da draußen noch mal den Dood, Schwester“, schimpfte Fienchen, griff sich das Kirschkernkissen von der Ofenbank und legte es auf das heiße Wasserschiffchen des Herdes. Dann schloss sie murrend die Feuerklappe des Ofens, nahm den pfeifenden Wasserkessel auf und goss das kochende Wasser über den Ostfriesentee. Sofort verteilte sich ein angenehmer, wohliger Duft in der Küche. Anschließend stellte sie den Kessel zurück auf den Herd, zog die Flöte am Ausgießer ab und schimpfte: „Meldet sich auch nicht mehr, das olle Ding.“

Als Jettchen aus der Hintertür trat, fiel ihr Blick über die Deichkante Richtung Feld. Nebelschwaden hingen tief über dem Feld, bedeckten den Boden, darüber war alles frei, sodass man die Häuser weiter hinten am Feldrand erkennen konnte. Ein sehr mystischer Anblick, der sich hier heute wieder einmal bot. Sie atmete tief durch und rieb sich die Arme. „Schietig kalt, aber schön und so still!“, freute sich die alte Ostfriesin. „Still und friedlich.“ Sie dachte über die letzten, so schrecklichen Monate nach. Die Welt schien gerade aus den Angeln zu geraten. Ein Virus war über den Erdball gezogen und hatte viel Krankheit, Leid und auch Tod gebracht. Aber nun, so wirkte es, würde sich hoffentlich alles zum Guten wenden. Reisebeschränkungen sollten in den nächsten Tagen aufgehoben werden, Gäste durften wieder an die Küste kommen.

Sie selbst, ihre Familie, alle Freunde und Bekannte in Carolinensiel und umzu waren von dieser schrecklichen Plage, die aus China kommend über die Welt kroch, verschont geblieben. Aber es war eine harte Zeit mit Ausgangssperren, wie damals im Krieg. Jettchen schauderte es.

In den letzten Wochen schien die Welt stehen geblieben zu sein, in dem kleinen und so sehr beliebten Küstenort, der in der Regel das ganze Jahr über gut, ja oft zu gut besucht war. In diesem Jahr bisher allerdings nicht. Bisher! Was aber, wenn die Gäste wiederkämen? „Hoffentlich ist das nicht zu früh und dieses Virus kommt mit den Feriengästen doch noch zu uns hier oben“, hatte sie vor einigen Tagen noch zu ihrer Schwester gemeint.

Jettchen schüttelte die trüben Gedanken zur Seite und drehte sich um.

Ich muss rein, sonst hole ich mir hier noch was weg, beschloss sie und wandte sich zur Tür.

Doch was war das? Aus den Augenwinkeln heraus vernahm sie eine Bewegung draußen auf dem Feld. Ein Hase? Nein, zu groß. Wohl eines der Feldrehe, die hier lebten, überlegte sie weiter und schaute genauer hin. Nein, das ist auch kein Reh, stellte sie fest, das ist ein Hund, nein, zwei Hunde. Was machen die da draußen? Komisch! Wer hier in der Gegend hatte Hunde, die er frei über das Feld laufen ließ? Und Touristen, die ihren Hund fürs große oder auch kleine Geschäft aus lauter Bequemlichkeit über das Feld jagten, waren auch keine im Ort. Was also war das? Sie konnte den Blick nicht von den Tieren nehmen, die langsam und behäbig durch die Nebelschwaden auf sie zu­liefen. Das sind keine Hunde, stellte sie dann erschrocken fest und blickte angestrengt über das Feld, das sind …, das sind Wölfe! Mein Gott, wir haben Wölfe an der Küste. Daher auch diese unheimlichen Geräusche. Das war Wolfsgeheule in der Nacht. Jettchen schlug sich die Hände vors Gesicht.

Die Tiere schienen sie entdeckt zu haben, liefen Schritt für Schritt auf sie zu.

Schnell riss Jettchen die Hintertür auf und schlüpfte zurück ins Haus.

In der Küche goss ihre Schwester gerade Tee in die kleinen Teetassen und stellte die Kanne wieder auf den Herd. Jettchen schlug aufregt die Küchentür zu.

„Fienchen, Fienchen, hinterm Haus laufen Wölfe, das hast du noch nicht gesehen. Zwei Stück sind es.“

Doch ihre Schwester meinte pragmatisch: „Set die daal und trink en Tee.“ Sie nahm das Kirschkernkissen vom Wasserschiff und legte es ihrer Schwester über die nackten Füße.

Die schaute sie dankbar an und nahm ihre Teetasse zur Hand.

„Da waren Wölfe, Fienchen, zwei Stück, ich habe es genau gesehen.“

„Schnack du nur!“ Fienchen hatte andere Dinge im Kopf. Heute wollte sie die Mülltonnen putzen. Altpapier, die Gelbe Tonne, Rest- und Biomülltonne mussten unbedingt geschrubbt werden. Pah, Wölfe, was ihre Schwester wohl wieder hatte.

Doch Jettchen ließ das keine Ruhe. Sie stand auf und lief zum Ofen. Dort, auf dem Boden, stand eine Kiste mit Zeitungen, die Fienchen zum Anfeuern, aber auch zum Polieren der Fensterscheiben benutzte. Sie nahm sich einen Stapel heraus, durchblätterte schnell ein paar der alten Zeitungen und knallte nun eine vor ihrer Schwester auf den Tisch.

„Da!“ Sie klopfte auf die Zeitung. „Wir haben Wölfe an der Küste. Hier im Anzeiger steht es schwarz auf weiß. Bisher trieben sie sich nur im Hinterland herum, doch jetzt sind sie auch hier. Ich wusste doch, dass ich da was gelesen habe. Und es gibt auch einen Wolfsbeauftragten, den muss ich unbedingt anrufen.“ Sie riss kurzerhand ein Stück aus der Zeitung, auf dem die Telefonnummer des Wolfsberaters stand.

Fienchen nahm einen letzten Schluck Tee und winkte ab.

„Das nützt ja alles nix, heute sind die Mülltonnen dran, Schwester! Räum du den Tisch ab, ich geh schon mal hinters Haus und nehme mir vor dem Frühstück die Gelbe Tonne vor.“

Sie griff sich einen bereitgestellten Eimer, Lappen, Putzmittel sowie ein paar Bürsten und verließ die Küche.

Jettchen konnte es nicht fassen, dass ihre Schwester so ignorant war. Sie räumte die Tassen zusammen, rutschte aus der Eckbank und trug das Geschirr Richtung Spüle. Kurz bevor sie es in den Spülstein stellen konnte, erscholl von der Hintertür ein gellender Schrei.

„Schwester?“, schrie Jettchen auf, „was ist passiert?“

„Die Wölfe!“, fiel ihr ein. Sie ließ die Tassen fallen und lief los.

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