Agathe wandte sich um und ging die Treppe wieder hinunter. Vielleicht trieb nur der Neid die Frau an, so zu reden. Wer doch je die Wahrheit erfahren könnte!
Wäre Mama damals nicht so empört gewesen und hätte Wiesing nicht so schonungslos fortgejagt – und sie selbst hatte sich ja auch voll Abscheu von ihr abgewandt, – hätte man sich um sie gekümmert in ihrer schweren Stunde und dafür gesorgt, dass das Kind zu ordentlichen Leuten getan wäre, und vielleicht den Lohn des Mädchens erhöht, damit sie ein gutes Kostgeld für das Würmchen zahlen konnte – wäre sie dann in die Hände dieser Krämern gefallen und hätte ihr junges Leben so geendet, mit dem stumpfen Blick auf die graue, schmutzige, zerkratzte, von hundert Namen und widerlichen Bildern bedeckte Wand?
Aber das wäre unmoralisch gewesen, und darum durfte es eben nicht geschehen.
Freilich – furchtbar leichtsinnig musste ein Mädchen schon sein, um sich so weit zu vergessen.
Und wenn Lutz gewollt hätte …?
O mein Gott, warum wurde das Unrecht, die fürchterliche Schande plötzlich ein gutes Recht, nachdem der Pastor ein paar Worte gesprochen? Das war ein schauerliches Geheimnis.
Agathe hatte nun das Elend gesehen – das tötliche Elend. Und die Polizei hatte auch dabei zu tun gehabt? Wer mochte wissen, was für abscheuliche Dinge sich da noch verbargen.
Und das alles hatte dieses kleine Mädchen, das mit ihr zusammen am gleichen Tage fröhlich ins Leben hinausgetreten war, in den paar Jahren, in denen sie sie aus den Augen verloren, gesehen, erfahren, durchlitten.
Und sie und ihre Mutter waren schuldig. Ja – ja – ja – sie waren schuldig.
Aber Mama würde das niemals verstanden haben. Agathe ging zu ihr und sagte ihr von Luisens Tode und von dem Leiden, das sie um sie trug – und Mama blieb ganz ruhig und kühl. »Ja – diese Frauenzimmer – sie taugen alle nichts – sie sind zu unserer Qual erschaffen«, war ihre Antwort.
Wie kam es nur? Ihre Mutter war doch sonst eine gutmütige Frau? Warum war sie in dieser einen Beziehung so ganz blind?
Ein hartes Urteil fiel ihr ein, das Martin Greffinger einmal über die Frauen der Bourgeoisie gefällt hatte – über ihre verknöcherte Engherzigkeit. Aber der war doch Sozialdemokrat oder irgend so etwas Ähnliches. Er durfte nicht Recht behalten! Er durfte nicht!
Agathe hatte wahrhaftig keine Ursache, beständig so verstimmt zu sein und ihr Los zu beklagen. Das heißt: äußerlich merkte man ihr ja die Verstimmung noch nicht an – so viel Selbstbeherrschung hatte sie denn, Gott sei Dank, doch noch. Sie hatte es ja auch so gut im Vergleich mit dem armen Geschöpf. Und nun sah sie, wohin es führte, wenn man den Liebes-Gedanken Raum gab und sich nicht dagegen wehrte. Freilich, kein Mann würde es wagen, sie, Agathe Heidling, Tochter des Regierungsrats Heidling, in Versuchung zu führen – ach, lieber Himmel, gegen sie waren die Herren ja alle die vornehmste Anständigkeit – es war schon beinahe langweilig.
Ja – aber – zeigte das nicht erschreckende sittliche Verderbtheit, dass sie oft wahrhaftig beinahe wünschte … So weit war sie schon gekommen. Wer weiß, wie schnell es da weiter ging – hinab – hinab … ohne Halt – ohne Wiederkehr!
Kein gefallenes Mädchen richtet sich wieder auf, sagte Papa einmal, und unerbittlich sah er dabei aus, wie der Engel mit dem feurigen Schwert an der Paradiesespforte.
Wahrscheinlich hätte alles nichts genutzt, was für das kleine Hausmädchen geschehen konnte – also nur schnell und ordentlich in den Schlamm hinunter.
Und Eugenie? Und der Commis in der Stube mit den Zigarrenproben? Es war grässlich, dass Agathe immer noch daran denken musste.
Alle ihre Träume und Fantasien waren von dem Gift der Sünde befleckt. Wie schlecht, wie durch und durch verdorben war sie!
Hohe Zeit, dass ein Abschnitt gemacht wurde! Alles Beten und Jammern zu Gott dem Herrn um Hilfe hatte nichts gefruchtet. Wer konnte wissen, ob es einen Gott gab? Jedenfalls hatte er sich Agathe nicht geoffenbart und sie im Stich gelassen.
Sie musste sich nur einmal recht klar machen, dass ihre Jugend vorbei und es einfach schmachvoll war, sich nun noch – in reiferen Jahren – so dummen Ideen hinzugeben. Nur ein- für allemal keine Hoffnungen. Das Haar ging ihr auch schon aus, und wenn sie lachte, so hatte sie kein niedliches Grübchen mehr, sondern eine richtige Falte.
Wie viele Mädchen heiraten nicht. Das Leben bot ja auch sonst noch so viel Schönes! Und Pflichten hatte sie genug – die brauchte sie wirklich nicht außer dem Hause zu suchen. Hatte sie denn ihr Gelübde, einzig und allein für ihre Eltern zu leben, so ganz vergessen? Sie musste viel liebenswürdiger und heiterer sein!
*
Wenn Papa nach Berlin versetzt würde … Das wäre doch mal wieder ein neuer Anfang! Sie wollte sich nur nicht zu sehr freuen, sonst kam es schließlich nicht dazu.
Und es kam auch nicht dazu. Irgend ein Minister hatte Differenzen mit einem anderen Minister, oder er vertrat ein Gesetz, das im Reichstag nicht angenommen wurde – kurz, er musste sein Portefeuille niederlegen, und Papa wurde nicht vortragender Rat in Berlin, sondern bekam seinen Abschied. Wie das zusammenhing, hörte Agathe natürlich nicht. Sie hätte es doch nicht verstanden, und es wäre dem Regierungsrat überhaupt nicht eingefallen, ein junges Mädchen in Berufsangelegenheiten einzuweihen.
Man musste sich nun mit der Pension einrichten. Und Papa zahlte außerdem viel an die Lebensversicherung. Man entließ also das zweite Mädchen und nahm eine kleinere Wohnung, von der man ein Zimmer an Onkel Gustav vermietete.
Onkel Gustav hatte nicht viel Glück mit dem Jugendborn gehabt. Außer Agathes Freundinnen, denen er es schenkte, hatte niemand nach dem Toilettenwasser gefragt. Und so war die Menschheit nicht schöner und Onkel Gustav nicht reicher geworden. Er beschäftigte sich zwar immer noch in Gedanken damit, irgend eine reizende junge Erbin zu heiraten, um seine Erfindung mit ihrem Vermögen zu poussieren. Aber inzwischen hatte er sich bei seiner Schwägerin in Pension gegeben, denn sein Magen konnte das Gasthofsessen nicht mehr vertragen. Agathe rechnete nach, dass das bescheidene Kostgeld des guten alten Onkels Bedürfnisse bei weitem nicht deckte. Aber Mama glaubte jedes Mal, wenn er am ersten des Monats seine zwei Goldstücke ablieferte, sie habe einen unversiegbaren Schatz in Händen.
Die arme Mama hatte durch die Veränderungen, die durch Papas Abschied notwendig wurden, jede Fassung verloren. Sie brach bei dem geringsten Anlass in Tränen aus und wurde von der Furcht gepeinigt, sie müssten am Ende alle miteinander verhungern. Kam indessen eine Spitzenfrau ins Haus, so konnte sie nicht widerstehen, geklöppelte Einsätze zu Kopfkissen für Agathes Ausstattung zu kaufen. Das geringste Vergnügen musste man sich versagen – und immer die wunderliche Idee, für die Ausstattung zurückzulegen!
Agathe hatte jetzt tüchtig zu tun, um den Hausstand reinlich und in geregeltem Gange zu erhalten. Auf die alte Dorte war auch kein rechtes Verlassen mehr. Agathe war nicht an wirkliche Arbeit gewöhnt, und sie litt viel an krankhaften Zuständen, die sie sogar ihrer Mutter verheimlichte. Denn dann würde vielleicht Papa davon gehört haben, und das wäre Agathe unerhört peinlich gewesen. Auch geriet er gleich ganz aus dem Häuschen, wenn einem von ihnen beiden etwas fehlte.
Es tat nicht Not, seine Stimmung noch mehr zu verdüstern. Er war ohnehin gereizt genug. Kein Wunder! Wie hatte er sich abgearbeitet, bis tief in die Nacht über den Akten gesessen, um dem Staat zu dienen. Nun warf der ihn plötzlich über Bord wie ein lästiges, überflüssiges Möbel – den kräftigen Mann, der jetzt mit seiner Zeit nichts anzufangen wusste, als in allen Zimmern herumzugehen und zu suchen, wo er etwas zu tadeln fände. Was hatte schließlich die unaufhörliche Angst, nirgends anzustoßen, nicht oben und nicht unten, nicht rechts und nicht links, dem armen Papa genützt?
Aber um Gottes willen! wenn Agathe das dem Papa einmal vorgehalten hätte … Das Gesicht, das sie da zu sehen bekommen haben würde!
Die ganze Welt war vollgestopft mit Heiligtümern, an die man nicht rühren durfte, wie Großmama ihr Nippesschrank, dessen Inhalt Agathe als Kind ehrfürchtig durch die Glasscheiben betrachten durfte. – Sie wurde von lauter Gedanken gequält, über die sie sich Vorwürfe machen musste. Es gährte ein fortwährender Aufruhr in ihr gegen jedes Wort, das die Eltern sprachen. So lange man wartete und immer wartete, so lange morgen vielleicht das neue Leben für uns selbst anbrechen konnte – so lange war es leicht gewesen, Geduld zu haben. Aber nun man sah, dass das neue Leben niemals kommen würde – dass man sich mit gegebenen Verhältnissen einrichten musste, so gut es ging – nun war es fast nicht mehr zu ertragen, immer noch als ein liebes unverständiges Kind behandelt zu werden, über dessen Meinungen man lächelte und scherzte, oder das man unterwies und erzog.
Sie musste sehr viel Geschicklichkeit aufwenden, damit Mama nicht merkte, dass sie tatsächlich den Haushalt führte – sie musste fortwährend lange Konferenzen über die einfachsten Dinge mit ihr führen, weil nur so Mama die Überzeugung behielt, sie regiere selbst und Agathe werde von ihr angeleitet. Wünsche, Bedürfnisse und Launen der drei alten Leute – eigentlich waren es vier, denn auch Dorte war alt und hatte Launen – mussten erfüllt werden. Wenn sie sich direkt widersprachen, so musste man doch jedem anscheinend den Willen tun oder ihn auf eine feine, nette Weise zu befriedigen suchen.
Papa wurde böse, sobald der geringste Angriff auf seinen Komfort und auf den vornehmen Anstrich der Haushaltung gemacht wurde. Onkel Gustav hatte allerlei Restaurant-Gewohnheiten und war schwer zu überzeugen, dass die in der beschränkten Wirtschaft große Opfer kosteten. Und Mama verfiel mit ihrer Knauserigkeit beinahe ins Krankhafte. Traf sie mit Frau Wutrow zusammen, so ließ sie sich von der immer neue Sparsamkeitsrezepte mitteilen. Bei Wutrows wurde für die Näherinnen Kartoffelbrei unter die Butter gemischt. Das wollte die Rätin auch einführen. Agathe hatte einen ordentlichen Zank mit ihr, weil sie sich vor den fremden Mädchen schämte. Neuerdings verlangte Mama, dass der Teppich im Wohnzimmer, um seine Farben länger frisch zu halten, alle Abend mit einer weichen Bürste abgekehrt und zusammengerollt werde. Frau Heidling wollte es selbst besorgen, um ihrer Tochter ein gutes Beispiel der Demut zu geben. Das konnte Agathe nicht mit ansehen. Unglücklicherweise kam Eugenie dazu, als sie mit den Knien auf der Erde herumrutschte, und machte moquante Bemerkungen.
Sie brauchte so etwas freilich nicht zu tun – – hatte ihre Mutter dergleichen Gelüste, so war das ein Privat-Vergnügen, das Eugenie weiter nicht störte. Die jungen Heidlings hielten einen Burschen, die Köchin, das Hausmädchen und das Fräulein für den kleinen Wolf. Der alte Wutrow musste zahlen.
»Weißt Du – ich, als Offiziersfrau …« sagte Eugenie und bekam auf diese Weise alles, was sie wünschte.
Jeden Abend weinte Agathe ein paar heimliche Tränen auf den Teppich – sie fand es so mesquin und völlig unnötig und unpraktisch, ihn fortwährend zusammenzurollen und wieder auseinanderzubreiten.
O war das Leben langweilig – langweilig – langweilig, in dieser Fülle von zweckloser Arbeit!
Wenigstens verschonte man sie jetzt mit den Bällen. Es lud sie einfach niemand mehr ein. Aber die zwei oder drei Diners, zu denen sie noch gebeten wurde, waren auch gerade keine berauschenden Vergnügungen.
Und der Verkehr mit den Freundinnen – denen, die gleich ihr unverheiratet geblieben waren? In dem Augenblick, wo sie diese oder jene Bekannte besuchen wollte, ergriff sie oft ein solcher Widerwille, dass sie sich nicht entschließen konnte, hinzugehen.
Sie durfte ja doch kein Wort von dem reden, was sie dachte. Sie hatte beständig ein böses Gewissen. Wenn jemand geahnt hätte, was das feine, ernste, gesetzte Fräulein Heidling für Stunden durchmachte! Einmal sich aussprechen – ja, das musste eine Erleichterung sein. Hören, wie es den anderen erging, wie sie sich durchhalfen, ob sie resigniert waren oder traurig – ob sie ihr Los tapfer oder verzagt trugen …
Sonderbar – als kleine Schulmädel hatten die Freundinnen sich in die Ohren getuschelt, was sie von den Geheimnissen des Lebens, die man vor ihnen verbarg, nur herauskriegen konnten. – Als naseweise Backfische unterhielten sie sich ganz frech und vergnügt von allem Möglichen, und jede steuerte aus dem Schatz ihrer Kenntnisse bei. Nun sie achtundzwanzig bis dreißig Jahre über diese Erde gewandelt waren und keine von ihnen doch das Unglück hatte, blind oder taub geboren zu sein – nun hatten sie alle ihre Erfahrungen vergessen. Sie wussten von nichts, sie ahnten von nichts – selbst wenn sie ganz unter sich waren.
Zuweilen beklagten sie sich sogar, dass sie noch so dumm wären.
»… Denke Dir, neulich habe ich mich schrecklich blamiert«, sagte Lisbeth Wendhagen. »Ich fragte nach der Geschichte mit der Russin, von der jetzt immer so viel die Rede ist. Findest Du da etwas dabei?«
Agathe fand natürlich nichts dabei.
»Eugenie sagte nachher, danach hätte ich als junges Mädchen nicht in Gegenwart von Herren fragen dürfen. Ich verstehe gar nicht, was sie meinte.«
»Na ja – die jungen Frauen – die sind natürlich au fait.«
Agathe ekelte sich oft geradezu vor ihren Freundinnen. Aber man musste doch auch selbst sehr vorsichtig sein.
Da hatte sie neulich ein wundervolles Buch in Papas Bibliothek aufgestöbert. Bei der großen Herbstreinigung war es entdeckt. Nachdem sie, in Staub und Zug vor dem Bücherschrank kniend, ein Kapitel gelesen, konnte sie sich nicht wieder trennen, nahm es mit in ihre Schlafstube und las alle Abend im Bett – denn es wurde im Zimmer nicht geheizt – und auch nach Tisch, wenn Mama schlief.
Sie hätte geglaubt, es wäre für Frauen einfach unverständlich. Zu ihrem größten Erstaunen konnte sie dem Verfasser ganz gut folgen – sie brauchte nur aufzumerken und am Tage bei ihren Beschäftigungen das Gelesene in ihrem Kopfe sinnend zu bewegen.
Wie es sie aufrüttelte von dem geistigen Halbschlaf, dem missmutigen Hindämmern, dass sie sich die Augen rieb, sich auf feste Füße stellte und wissbegierig um sich blickte.
Einer weiten Weltreise war es in seiner Wirkung zu vergleichen – einer Weltreise mit erhabenen Rückblicken in ungeheure Vergangenheiten und Fernsichten auf eine von Entwickelungskräften erfüllte Zukunft – mit Vergessen des Ich und erstaunlicher Erkenntnis des eigenen Werdens durch zahllose Ahnenreihen – mit Entdeckung neuer Verwandtschaften … mit Gewitterstürmen und brechenden Masten – mit Verlieren des Reisegepäcks und der Erwerbung ungeahnter Reichtümer.
Dass solch ein Buch existierte, und sie hatte es nicht gewusst! In dem Glasschrank stand es, unbeachtet – sie hatte beim Abstäuben seinen Titel wer weiß wie oft gesehen:
Höckels »Natürliche Schöpfungsgeschichte.«
Und ihr Vater hatte nicht vor Freude geschrien, als er es las – wie seltsam!
Immer nur die Witze über unsere Abstammung von den Affen, die eine Zeit lang Mode waren, bis man ihrer überdrüssig wurde und man in guter Gesellschaft nicht mehr davon redete.
Agathe erinnerte sich auch, vom Domprediger gehört zu haben, dass die Gelehrten längst über Darwins und Häckels Standpunkt zur Tagesordnung übergegangen seien.
Wie mochte es sich damit verhalten?
Agathe konnte es nicht glauben.
Von einer so großartigen neuen Welt-Anschauung kehrt man nicht einfach zu der langweiligen Tagesordnung zurück.
Ach, Männer, die sich hier vertiefen – die weiter forschen und grübeln durften – die Glücklichen! Die Glücklichen! Denen brauchte freilich die dumme Liebe nur etwas Nebensächliches zu sein! Am Ende fand auch sie in den neuen Gedanken ihren Frieden. Sie sah doch nun, dass es so sein musste – dass die Natur unerhört grausam war, dass Millionen Keime fortwährend untergingen, damit die anderen Raum bekämen, sich zu entwickeln. So war sie eben auch einer von den schwächlichen, unnützen Keimen – was war da weiter? Dass es eine solche Verschwendung gab, hatte sie allerdings vorher auch schon gewusst. Aber sie bezog das nie auf sich, sie hatte immer für sich selbst einen Platz außerhalb der Natur gesucht und mit einem Gotte gehadert, der Wunder tun konnte und nur keins ihr zu Liebe tun wollte!
Versinken in diesem vielgestaltigen, unermesslich reichen All! Ganz still werden – ganz still. Und doch wieder lebendig! Wie war die Natur ihr interessant geworden. Wie konnte man sich von den widerwärtigen Menschen erholen bei den Käfern und Blumen und den fabelhaften Rädertierchen. Und dann wieder die unglaublichen Beziehungen zu den Menschenwesen. Von allem musste sie noch viel, viel mehr erfahren.
Als Weihnachten kam, freute sie sich endlich einmal wieder auf das neue Jahr.
In der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« fand Agathe auf der letzten Seite ein Verzeichnis von Büchern, die empfohlen wurden, falls man sich auf naturwissenschaftlichem Gebiet weiterbilden wollte. Von Häckel selbst empfohlen – von diesem herrlichen Manne!
Sie schrieb sich eine Menge von den Namen auf. – Hätte sie nur noch ihr Toilettengeld gehabt, wie früher! Es war eine alberne Gutmütigkeit gewesen, darauf zu verzichten, im ersten Schrecken über die notwendigen Einschränkungen, die die Eltern sich auferlegen mussten. Jetzt bat sie nur um Geld, wenn eine Anschaffung durchaus nicht mehr umgangen werden konnte.
So wählte sie lange, ehe sie zwei oder drei der Bücher auf ihrem Weihnachtswunschzettel setzte. Welche mochten die interessantesten sein? Welche zu kennen die notwendigsten? Eigentlich war’s ein Lotteriespiel. Nun – auf jeden Fall würde sie sich zum Geburtstag wieder ein Buch wünschen und dann immer so weiter. Sie war schon so alt, sie musste sich wahrhaftig eilen, um nur noch einen Teil des gewaltigen Wissensschatzes sich zu eigen zu machen!
Das hätte sie nicht haben können – dazu hätte sie nicht Zeit gefunden, wenn sie verheiratet gewesen wäre. Endlich schien es doch zu etwas gut, dass sie alte Jungfer geworden war!
Ob Papa, ihr wohl die drei Bücher schenken würde? Oder nur zwei? Er war so entsetzlich erstaunt gewesen, als sie ihm ihren Wunschzettel überreichte.
»Du willst ja gewaltig hoch hinaus«, hatte er lächelnd gesagt. »Was willst Du Dir denn für unverständliches Zeug in Dein kleines Köpfchen packen?«
»Ach Papa – ich muss mich ein bisschen bilden!«
»Nun ja – dagegen bin ich durchaus nicht.«
»Die natürliche Schöpfungsgeschichte habe ich ganz gut verstanden.«
»So – die hast Du also gelesen? Das war recht überflüssig. Ein andermal fragst Du mich, ehe Du Dir etwas aus meinem Bücherschrank holst. Verstanden? Junge Mädchen fassen dergleichen Werke oft ganz falsch auf.«
»Das Buch mit den schrecklichen Illustrationen?« fragte Frau Heidling. »Aber Agathe, so etwas möchte ich doch nicht lesen.«
»Mama, es ist wirklich sehr interessant. – Und wenn – wenn man nicht heiratet, muss man doch irgend etwas haben, was einem Spaß macht.«
Agathe schämte sich über die kindische Art, in der sie von einer Frage redete, die wahrhaftig schwer und ernst genug war. Aber sie konnte nichts dafür – es kam ihr geziert vor, zu sprechen, wie es ihr eigentlich ums Herz war.
»Na – wir wollen einmal sehen«, sagte der Regierungsrat.
Sie fiel ihrem Vater um den Hals und küsste ihn stürmisch.
»Du Wirbelwind«, bemerkte er zärtlich, ihr die Wangen klopfend. »Und das nennt sich alte Jungfer!«
Agathe hatte die schönsten Erwartungen. Nein – so grausam – so grausam konnten die Eltern nicht sein … sie würden ihr schon den Wunsch erfüllen!
Auf ihrem Weihnachtstisch fand sie ein reizendes Jabot aus rosa Krepp – sie hatte es einmal in einem Schaufenster bewundert – und einen Prachtband mit bunten Bildern: die Flora von Mitteldeutschland, zum Gebrauch für unsere Töchter, – daneben eine geschnitzte Blumenpresse.
»Siehst Du, liebes Kind«, sagte ihr Vater freundlich, »hier habe ich ein sehr hübsches Werk gefunden, das besser für Dich passt, als die Bücher, die Du da aufgeschrieben hast. Ich blätterte in den Sachen – sie wollten mir gar nicht für mein Töchterchen gefallen. Hier findest Du eine Anweisung, wie man Blumen trocknet – daraus fabriziert Ihr ja jetzt allerliebste Lichtschirme! Das wird Dir auch Spaß machen!«
Agathe sah stumm vor sich nieder. Sie musste an den Herwegh denken, den man ihr einst gegen die fromme Minne eingetauscht … Wiederholte sich denn jedes Ereignis immer aufs neue in ihrem Leben? Und würde sich’s nach zehn Jahren ebenso wiederholen?
Entwickelten sich denn alle Wesen in dieser Welt zu höheren Daseinsformen und nur sie und ihresgleichen blieben davon ausgeschlossen? Sie war »das junge Mädchen« – und musste es bleiben, bis man sie welk und vertrocknet, mit grauen Haaren und eingeschrumpftem Hirn in den Sarg legte –?
Wusste denn keiner, dass es grausam war, eine Blume, die nach Entfaltung strebte, durch ein seidenes Band zu umschnüren, damit sie Knospe bleiben sollte. Wusste keiner, dass sie dann im Innern des Kelches verrottete und faulte?
Jedes Mal, wenn Agathe durch ihres Vaters Zimmer ging und ihr Blick den Bücherschrank streifte, der nun verschlossen war, stieg heißer Zorn gegen ihren Vater in ihr auf.
Er wusste ja nicht, was er tat, dachte sie, um ihn gegen sich selbst zu verteidigen.
Täglich nahm er sie in den Arm und küsste sie, des Morgens und des Abends – aber was sie ihr Leben lang empfunden und durchgerungen, davon ahnte er nichts. Wie zart und geübt, wie gütig und geschickt hätte die Hand sein müssen, der es gelungen wäre, die dunklen Instinkte, die gährenden Gewalten, die in verschwiegenem Kampf sie zerwühlten, bis in die Form des Wortes herauszulocken.