Czytaj książkę: «Salzgras & Lavendel»

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Gabriele Behrend

Salzgras & Lavendel

Außer der Reihe 48

Gabriele Behrend

SALZGRAS & LAVENDEL

Außer der Reihe 48

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelabbildung: Gabriele Behrend

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 208 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 883 8

1.

Douglas wartet auf die Einfahrt der Linie 03, Nord-Süd-Achse. Er steht auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station, halb im Schatten eines Rundpfeilers verborgen, und tut so, als sei er viele. Er übt es heimlich, dieses Zucken im Gesicht, die subtilen Veränderungen der Körperhaltung. Er versucht, ein Gefühl dafür zu bekommen, mehr zu sein, als er ist.

Da baut sich ein Hüne vor ihm auf. »Mach ihn nicht an, Alter.«

Douglas weicht einen Schritt zurück. Er kann keinen Ärger gebrauchen, das kann niemand hier.

»Du machst dich lustig über ihn, stimmt’s?« Der Riese schiebt sich vor Douglas. »Ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand über ihn lustig macht, verstanden? Also entschuldige dich, und zwar dalli!«

Douglas räuspert sich. »Entschuldigen Sie, Sir. Soll nicht wieder vorkommen.« Seine Augen sind zu Boden gerichtet. Nur niemals so einem Kerl in die Augen sehen. Die sind reizbar, allesamt. Er wartet. Einen Herzschlag lang, zwei.

Der Hüne verliert plötzlich an Größe, als ob einem Luftballon die Luft ausgehen würde. »Schon gut, Sir. Ich muss mich entschuldigen. Mein Wachhund hat sich vorschnell dazwischen geschaltet. Er macht sich manchmal selbstständig.«

Douglas nickt vage, als ob er’s verstünde.

Der Hüne, der kein Riese mehr ist, sondern ein durchschnittlich grauer Mann in grauem Trenchcoat, wendet sich ab, schlurft ein paar Schritte nach rechts.

Douglas kann sehen, wie der Typ dabei mit sich selber redet, ohne einen Laut von sich zu geben. Es scheint ein heftiges Streitgespräch zu sein. Wer wohl gewinnen mag?

Douglas macht unbeteiligte Miene zum verwirrenden Schauspiel. Er greift nach dem Riemen seiner quadratischen Officebag, in dem auf kleinem Raum Datenwürfel, Laptop, Agenda und Smartphone zusammengepackt sind, und hält sich daran fest. Wenn doch nur die Bahn käme!

Ein Blick auf die elektronische Anzeige verrät ihm, dass es noch drei Minuten dauern wird. In drei Minuten kann viel passieren. Douglas sieht sich verstohlen um. Überall stehen Menschen, perfekt eingepasst in die persönliche Distanz. Keiner nimmt einem anderen den Platz. Überall maskenhafte Ruhe. Über den Köpfen baumeln in regelmäßigen Abständen Schilder:

»Halte deine Meute in Schach! Dein Nachbar wird’s dir danken!«

»Hier herrscht Gelassenheit!«

»Nehmt nichts persönlich!«

Dazwischen Smileys.

Douglas hat etwas gegen diese verordnete Fröhlichkeit. Die lachenden Rundgesichter sind zu grell, zu fröhlich, springen ihn an wie neongelbe Baseballbälle. So einer ist hart, wenn er mit voller Wucht geschleudert wird, sehr hart. Douglas zuckt zurück. In seinem Kopf erklingt ein meckerndes, ein hämisches Lachen. Schon formen sich Gesichter aus dem Nebel seiner Seele, Unwesen, schemenhaft, aber durch und durch bösartig. Douglas reißt die Augen auf. Bloß nicht allein sein, mit sich und dem inwendigen Gejohle. Seine Augen heften sich auf eine Videowall, die in die Tunnelwand eingelassen ist. Ferien in Norfolk, blühende Lavendelfelder. Sanftes Licht, sanfte Farben. Er sieht sich daran satt. Dann wird die Wall dunkel. Die U-Bahn fährt ein.

Ein Weckton zirpt durch den Raum. Etwas bewegt sich in der Tiefe der Bettdecken. Ein dunkelbrauner, lockiger Schopf rutscht tiefer zwischen das Weiß der Laken, dann wiederum strecken sich zwei schmale Arme darunter hervor. Mit einem ausgiebigen Gähnen folgt der dazugehörige Mensch. Es ist eine junge Frau, die gerade in diesem Moment unwillig das Gesicht verzieht und sich herumdreht. Nun liegt sie bäuchlings auf der Matratze und steckt den Kopf unter das Kissen. Der Weckruf wird lauter.

»Scheißding«, tönt es dumpf unter dem Kissen hervor, »hör endlich auf, ich bin ja wach!« Der Alarm macht weiter. Da schiebt die junge Frau das Kissen beiseite und bellt entnervt. »Stopp!« Der Weckton erstirbt. Die junge Frau aber dreht sich herum und setzt sich auf. Sie schlingt die Arme um die Beine und stützt ihr Kinn auf das Knie. »Jeden Morgen das gleiche«, murmelt sie. »Ist doch scheiße. Kann sich da keiner was anderes einfallen lassen?« Sie seufzt. Dann führt sie die rechte Hand an die Stelle hinter dem rechten Ohr, wo das Socket in den Schädelknochen eingelassen ist, und legt den Schalter um. Einen Moment später schwingt sie ihre Beine über die Bettkante, stützt sich mit den Händen auf der Matratze ab und scheint zu überlegen.

Etwas hat sich verändert. Die junge Frau hat ihren kindlichen Trotz überwunden und wirkt auf einmal reifer. Vernünftiger. Und das ist auch richtig so, denn Kaynee hat ihren Organisator ins Spiel gebracht. Wie jeden Morgen nach dem Aufwachen übernimmt Kora den Geist der Gesamtheit.

Sie überprüft die Dateien. Katy hat nichts Weltbewegendes geträumt, Kora findet nur eine kurze Notiz in dem Wechsellog. Sanders ist dort vermerkt, ohne nähere Erklärung. Aber Grund genug, sich den Techniker noch einmal genau anzusehen. Das ist eine Aufgabe für Karen, die Fürsorgerin. Kora trägt es gleich in deren persönlichen Kalender ein.

Danach sieht sie in der Hausgemeinschaft nach dem Rechten. Karl ist wach, hält sich aber zurück. Der Wachhund der Entität schläft kaum, ständig lauert er im Hintergrund, um sich vor die Gemeinschaft zu stellen, falls die persönliche Grenze überschritten oder Kaynee gar angegriffen wird. Kora wünscht sich manchmal, dass er entspannter wäre, aber das widerspräche seiner Natur und seiner Effizienz.

Keira und ihre Gruppe ruhen noch. Sie sind eindeutig zu gechillt in den letzten Tagen. Kora will sich das in der nächsten Zeit genauer anschauen. Sollte sich das so weiterentwickeln, dann muss sie über eine Nachprägung nachdenken. Die Entität ist auf das Sozial-Ich angewiesen, denn es ist die längste Zeit am Tag im Einsatz. Auch wenn Kay mit den ihren manchmal Sturm dagegen läuft. Aber Kaynee verbringt nun einmal mehr Zeit mit ihren Kollegen als mit sich selbst. Da kann sie sich keine Fehler leisten, da darf sie es nicht.

Der letzte Blick gilt der ungestümen Kay, deren Gruppe das Privat-Ich bildet. Es ist typisch für Kay, dass sie Katy den Schlaf überlassen hat. Einmal noch so unbeschwert spielen wie ein Kind, das wollte doch jeder. Um der Effizienz willen verschieben die meisten Menschen diesen Wunsch in die Nachtzeit. Im Traum kann man toben und tollen, ohne dass das Leben davon beeinflusst wird. Katy hat sich nach ihrem nächtlichen Einsatz bereits zurückgezogen, sie muss müde sein. Kora lächelt kurz. Alles ist so, wie es sein soll. Nun kann sie sich in ihr Büro zurückziehen, die Verbindung mit dem Internet herstellen und den Officekalender abrufen. Keira muss wissen, wann sie wo zu sein hat und wen sie aus ihrem Team wann einsetzen muss.

Auf dem Weg zu sich selber, treppauf, treppab im Gefüge von Kaynees Verstand, kommt Kora an der Tür zum Keller vorbei, ihr fährt ein leichter Schauer über den Rücken. Die Tür ist Ken. Ken ist der Türsteher am geistigen Abgrund. Hinter Ken steckt das Chaos, die Dämonenschar, die in dem geordneten Geist der Entität keinen Platz hat. Die inneren Dämonen, die der Effizienz wegen verbannt werden. Ausschalten darf man sie nicht, sonst gerät der komplexe Geist aus dem Gleichgewicht, aber durch die Kartografie der neuronalen Strukturen kann man sie herausfiltern und abscheiden und hinter einem festen Schloss sicher verwahren. Trotzdem ist da immer dieser Hauch der Ungewissheit. Was könnte alles passieren, wenn einmal der Riegel aufgestoßen würde? Wenn Ken versagte?

Kora flüchtet in die Sicherheit ihres Büros.

Es ist kaum eine Minute verstrichen, seitdem sich die junge Frau auf die Bettkante gehockt hat. Nun steht sie auf, dehnt und streckt sich ausgiebig. Noch hat sie Kora als vorrangiges Ich in ihrem Geist aktiviert. Das Job-Team um Keira hat inzwischen alle nötigen Instruktionen für den Tag erhalten, aber solange Kaynee nicht ihren Fuß aus der Tür ihres Zimmers setzt, solange wird sie ihr Arbeits-Ich nicht die Führung übernehmen lassen.

Also geht sie unter die Dusche, wie jeden Morgen. Spürt das Wasser auf ihrem Körper und stellt sich vor, dass es ein feinfädiger Landsommerregen ist. Mit ausgebreiteten Armen tanzt sie unter dem Strahl herum und singt dabei ein Erntelied. Bevor Kora das unterbinden kann, schreitet Karen ein. Alles, was Kaynee guttut, liegt in ihren Händen. Und wenn Kaynee singen will, egal, ob das einen Zweck erfüllt oder nicht, dann sorgt Karen dafür, dass sie die Zeit dafür bekommt.

Nach dem Kaynee frisch geduscht und geföhnt das Bad verlassen hat, folgt der Sonnengruß. Zwölf Mal fließend hintereinander absolviert und Kaynee fühlt sich bereit für den Tag. Karen zieht sich zurück.

Kaynee schlüpft in die Uniform von Zenith. Ein hellblauer Kasack über weißen Hosen, kein Schmuck, nur das Logo des Instituts auf der linken Brusttasche eingestickt, so geht Kaynee zur Cafeteria. Ihr Magen knurrt. Wie jeden Morgen zur gleichen Zeit. Alles hat sich in den täglichen Rhythmus eingefunden, alles ist konditioniert. Das bildet einen verlässlichen Rahmen, in dem es sich gut leben lässt. Keira und ihr Team sind jetzt für die nächsten zwölf Stunden am Start. Ein Knopfdruck am Socket hat Kora in den Hintergrund verbannt.

Jeder Tag gleicht dem anderen. Douglas Hewitt, 32, hat sich in den Ablauf einsortiert, hat sich eine Nische gesucht und findet Zuflucht in ihr. Jeden Morgen steht er um 08:45 am Bahnsteig in der Vorstadt, fährt von dort aus in die City, passiert den Kontrollposten und verschwindet in dem Glasturm der Acodis Inc. Er nimmt den Aufzug in den dritten Stock, gerade oberhalb der Etagen für Sicherheit und Housekeeping, verschwindet dann in seinem Box Office und vertieft sich in die Arbeit.

Er ist für die Sicherheit des Datenflusses zuständig, er hält die Dinge am Laufen. Dafür braucht man nur eine Persönlichkeit und die kann er bereitstellen. Er nennt sie sein Arbeits-Ich. Die offizielle Bezeichnung lautet Sozial-Ich, aber was soll’s. Eine andere Facette seiner Persönlichkeit hat er seinen Kollegen noch nie gezeigt, aber das ist anscheinend ganz okay. Jeder von ihnen hat sein eigenes Sozial-Ich, nur manchmal blitzen ihre anderen Seiten hervor. Die meisten lassen ihn in Ruhe, übersehen ihn gar. Konzentrieren sich auf die Dinge, die es zu tun gilt. Nur Josh, der Kollege aus der Nebenbox, scheint ein beiläufiges Interesse an Douglas zu hegen.

Josh ist gerade frisch von der Uni rekrutiert worden. Ein fünfundzwanzigjähriger Milchbubi, der einen unentschlossenen Bartwuchs züchtet und jeden Tag ein anderes Mottoshirt trägt. Josh ist die Notfallpolizei, spezialisiert auf kreative Problemlösungen und Denkprozesse. Da kann es dann mitunter passieren, dass es kleinkindhaft zornig aus seiner Box tönt, wenn er in einer Aufgabe feststeckt oder – was noch schlimmer ist – Userdienst hat. Da ist es egal, ob man ein Wunderkind oder nur ein durchschnittlicher ITler ist, an keinem geht der unliebsame Kelch vorüber. Josh allerdings hasst es geradezu, Passwörter für Typen zurückzusetzen, die zu blöd sind, sich eine einzige Ziffernfolge zu merken. Er nennt es eine Beleidigung seines IQs und rächt sich bisweilen auf kindliche Weise dafür. Dann ist es ihm egal, dass er auf der Arbeit ist, und wechselt ungebremst in sein Privat-Ich.

Douglas hat ihn einmal mit seinem Freund telefonieren hören und weiß seitdem, dass der Kasper von nebenan Jack heißt. Oder Jackass. Douglas fragt sich bisweilen, wie lange Sue dieses Benehmen noch tolerieren wird. Egal, ist nicht seine Sache. Aber weil er ihn mag, übernimmt Douglas manchmal Joshs Userdienst. Ihm ist es egal, was er macht, Hauptsache, er macht etwas, Hauptsache, sein Kopf ist abgelenkt.

Auf diese Weise hat sich Douglas bisher durch sein Leben geackert. Immer am Denken, immer am Arbeiten. Immer ein Ziel vor den Augen. Das aktuelle Ziel heißt –

»Hey, Douglas.« Josh steckt seinen Kopf in Dougs Quader. »Ist langweilig heute.« Er quengelt. Die schwarzen Haare strubbeln in alle Richtungen. Auf seinem Shirt steht »Nerds sind purer Sex«. »Lass uns in der Kantine ein paar Schnecken klarmachen.«

Douglas schüttelt den Kopf. »Lass mal. Ich muss das hier bis heute Mittag fertig bekommen.« Er wedelt mit der Hand in der Luft herum, als wenn er ›das da‹ damit beschleunigen könnte.

»Soll ich mal drüber schauen?« Josh nörgelt nicht mehr, seine Hand ist unwillkürlich zu seinem Socket gehuscht und hat den Schalter umgelegt. Jetzt klingt er interessiert, seine Stimme ist tiefer, die Haltung verändert. Das Sozial-Ich hat übernommen. Er stellt sich neben Douglas und starrt auf den Bildschirm. Nach einem Moment der Stille fliegen seine Hände über die Tastatur, vier Minuten später streckt er sich und tritt zurück. »Bitte schön, Problem gelöst.«

»Danke, Mann.« Douglas lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet seinen Kollegen, der gegen die Abtrennung zur Nachbarbox lehnt, die Arme verschränkt. »Willst du immer noch Schnecken angraben?«

Josh schüttelt den Kopf. »Wie kommst du denn auf diese schiefe Ebene? Da drüben wartet noch ein kleines fieses Programm auf mich. Ich habe keine Zeit für …« Er hebt eine Braue. »… Schnecken. Bloß gut, dass Sue das nicht mitbekommen hat.«

Ein ungemütliches Schweigen breitet sich zwischen den beiden aus. Douglas sieht auf seinen Monitor. »Lass gut sein, Josh. Viel Erfolg.«

»Klar. Ebenso.« Damit zieht Josh sich in seine Box zurück.

Douglas bleibt alleine zurück, wieder einmal kalt erwischt von der Wandlungsfähigkeit seines Officenachbarn. Wie kann er damit leben?, fragt er sich. Vom Quengelbalg zum Arbeits-Ich in Nullkommanix und das scheinbar von ihm selber unbemerkt.

Douglas schließt die Augen. Was tun? Dadurch, dass Josh seine Arbeit gemacht hat, kann er einen ganzen Vormittag für andere Dinge nutzen. Nur – welche? Vielleicht doch erst einmal in die Kantine gehen, einen doppelten Espresso trinken.

Er sperrt den Rechner, steht auf. Geht an den Reihen der Box Offices vorbei, Richtung Fahrstuhl. Die Kantine liegt im einundzwanzigsten Stock, man hat einen freien Blick über die City. Ein freier Blick, ein klarer Kopf – den kann Douglas jetzt gebrauchen. Der Twin-Lift lässt auf sich warten. Douglas sieht den Gang hinunter. Aber da ist niemand, weder Postdienst, noch Sue, die Floor-Verantwortliche. Sue. Er verzieht das Gesicht.

›Was machen Sie hier, Douglas? Warum sind Sie nicht in Ihrem Office?‹ Er hat ihre Stimme im Ohr, diese strenge, kalte Stimme, die nicht zu dem zierlichen Körper mit den sanften Kurven passen will. Dabei kann sie ganz anders. Das weiß er, weil er sie einmal draußen gesehen hat, in der Mittagspause. Es war im letzten Sommer gewesen und ihr Sozial-Ich war anscheinend so entspannt, dass sich eine andere Sue in den Vordergrund geswitcht hat. Eine kleine Sue hatte mit Piepsstimme nach Eis am Stiel verlangt und lief einem Schmetterling hinterher, der sich in den weitläufigen Innenhof verirrt hatte.

Das Spiel hatte ein jähes Ende gefunden, als sie in den Abteilungsleiter der Abrechnung gerannt war. Der, ansonsten jovial und umgänglich, hatte innerhalb eines Wimpernschlags seinen Wachhund von der Leine gelassen, Sue angeschnauzt und abgekanzelt. Die begann zu greinen. Dem Abteilungsleiter rutschte daraufhin ganz privat die Hand aus. Die Ohrfeige schallte über den Innenhof, sodass auch die letzten Mitarbeiter ihre Gespräche unterbrachen und sich umdrehten. Doch da gab es schon nichts mehr zu sehen. Sue verschluckte sich an einer letzten Träne, stand aber wieder gerade und stählern an ihrem Platz. Sprach leise mit ihrem Gegenüber. Danach hatte sie sich freigenommen.

Eine weitere Entgleisung hatte Douglas nicht mehr gesehen. Dabei fragt er sich manchmal, ob sie auch eine durch und durch feminine Seite hat. Gibt es in ihrem Persönlichkeitsfundus einen Vamp? In seiner Vorstellung: ja. Klar.

Der Lift tönt leise. Die Türen gleiten auf. Douglas tritt in die Kabine. Auf der kurzen Fahrt ins einundzwanzigste Stockwerk prüft er sein Spiegelbild. Ein ernstes, längliches Gesicht unter albernen blondbraunen Kräusellocken, ein Geschenk der Natur, das er nicht loswird, egal, wie sehr er es versucht – die Locken kehren zurück wie ein Bumerang. Braune Augen, zusammengezogene Brauen, prägnante Wangenknochen. Er lächelt probeweise. Es gelingt ihm nur halb, es erreicht seine Augen nicht. Die sind immer überschattet. Der Rest von ihm? Leidlich ansehnlich. Er ist nicht klein, aber gleichzeitig nicht so groß, wie er’s gerne wäre. Da ist aber immerhin kein Bauch, wie bei anderen Kollegen.

Der Lift tönt wieder, die Türen schieben sich auf. Douglas reißt sich von seiner Betrachtung los und geht schnurstracks zum Kaffeeautomaten.

Es ist nicht viel los hier oben. Es ist 10:32, die Meetings sind all überall überlaufen oder man trifft sich in den kleinen Kaffeeküchen auf den verschiedenen Ebenen, dort, wo man sich die schnelle Pause zwischendurch leisten kann.

Die Servicekraft mit den blonden Locken und dem üppigen Dekolleté, die an der Kasse sitzt, langweilt sich augenscheinlich. Sie bläst einen Kaugummi auf, lässt ihn zerplatzen, kaut, bläst erneut auf. Ihre Augen sind halb geöffnet. Für mehr lohnt sich die Mühe nicht. Als Douglas sich mit seinem Espresso nähert, richtet sie sich nur minimal auf.

»Alles, Sir?«, quäkt sie widerwillig.

»Bitte, wie?« Douglas ist abgelenkt. Die Uniformjacke der jungen Frau ist tief ausgeschnitten. Der mittlere Knopf hat sich gelöst und bietet einen interessanten Einblick.

»Ob das alles ist, Sir.« Sie nickt zu seiner Tasse.

»Ja, sicher.« Douglas stottert beinahe, fängt sich aber rechtzeitig. Dann wird er kühn. »Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?«

Sie stiert ihn verblüfft an, fährt sich unbewusst durch das Haar. Klemmt sich eine Strähne hinter das rechte Ohr und legt dabei den Schalter um. Da kräuselt sich ihr Gesichtsausdruck, als ob Wind über eine glatte Wasserfläche rippelt. Sie steht langsam auf, legt ihren Körper in erregende Kurven und beugt sich zu Douglas hinüber. »Wenn du aus dem Kaffee einen Piccolo machst, dann gerne doch.« Ihre Stimme ist um eine Oktave gefallen, sie schnurrt mehr, als sie spricht. Douglas hebt die Brauen. So einfach ist das? Das muss er Josh erzählen. Schnell greift er in die Kühltheke gleich neben der Kassenzone und holt das Gewünschte.

Er stellt die Flasche vor sie hin.

Ein Zittern geht durch das Mädchen. Wieder streicht es sich durch die Haare, dann richtet sie ihre Uniform mit ein, zwei Handstrichen. Dabei verändert sich ihr Gesichtsausdruck erneut.

Douglas entgeht es. Zu sehr hängt er mit den Augen an ihrem Vorbau und mit der Hoffnung an dem Versprechen, das dieser darstellt. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Ort, an dem wir ihn vernichten. Hast du eine Idee?« Er versucht, harmlos zu klingen, beiläufig. Cool. Dabei ist er alles andere als das.

»Das macht dann genau siebenzwanzig, der Herr.«

Es ist eine professionelle Freundlichkeit, die Douglas entgegenschlägt. Er schaut der Kassiererin endlich wieder ins Gesicht und weiß, dass er den Piccolo umsonst gekauft hat. Das war’s dann wohl. Er bezahlt eilends. Nimmt Tasse und Flasche und zieht sich an einen Tisch am Fenster zurück. Verdammte Kiste, beinahe hätte es geklappt. Er wischt sich über das Gesicht.

Das ist die Welt, in der er lebt. Alle sind wandelbar. Die Menschen verhalten sich situationsgerecht. Effizient. Nur wenn sie sich unbemerkt fühlen, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Doch welches ist das? Douglas blinzelt. Die Sonne scheint in das Panoramafenster, viel zu perfekt für seinen Tag.

Das Mädchen an der Kasse befindet sich nach dem kleinen Intermezzo immer noch in seinem Arbeits-Ich. Sie wirbelt durch ihren Bereich, wischt, putzt, ordnet. Der Kaugummi ist verschwunden, stattdessen spielt ein freundliches Lächeln um die Lippen. Mit dieser Freundlichkeit ausgestattet, taucht sie neben Douglas auf.

»Wünschen Sie noch etwas?« Dabei tauscht sie den halb leeren Zuckerstreuer auf dem Tisch gegen einen frisch gefüllten aus.

Douglas bemüht sich, seine Enttäuschung nicht durchblicken zu lassen. »Nein, danke.«

»Ich wünsche einen schönen Aufenthalt hier oben. Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Damit dreht sie sich um und verschwindet wieder hinter ihrem Tresen. Douglas sieht ihr nach. Scheinbar erinnert sich ihr Arbeits-Ich nicht an das Geschehen vor fünf Minuten. Beneidenswert.

Er kippt seinen Espresso hinunter, steht auf und ist für einen Moment unschlüssig, was er als Nächstes machen soll. Dann entscheidet er sich für den Lift. Die Arbeit wartet auf ihn.

Unten angekommen öffnen sich die Lifttüren mit einem leisen Klingen. Douglas macht einen Schritt auf den Flur hinaus, sieht sich um. Niemand da. Kein Wunder. Alle sitzen vor ihren Rechnern und machen das, weswegen sie jeden Tag hierher kommen und wofür sie am Monatsende entlohnt werden.

Sein Socket juckt. Unwillkürlich wandert seine Rechte an die Stelle hinter dem Ohr und reibt dort, wo sich die Haut vor dreißig Jahren über dem Implantat geschlossen hat. Es nutzt natürlich nichts, denn das unangenehme Gefühl entsteht an der Stelle, wo das Socket sich nach innen gewandt ans Hirn schmiegt. Er versucht aber trotzdem immer wieder aufs Neue, es abzumildern.

Während Douglas den Gang hinunter trottet, zählt er im Geiste nach, wie oft er sich in letzter Zeit hinter der Ohrmuschel gekratzt und gerieben hat und kommt zu dem Schluss, dass es zu oft war. Soll ihm das ein Zeichen sein? Er sollte das überprüfen lassen. Er hat nur kaum Geld für sein normales Leben, wie soll er da die Kosten für ein neues Implantat plus der zusätzlichen OP begleichen? Die üblichen Kontrollen hat er schon vor langer Zeit aufgegeben. Auch die waren zu teuer. Also versucht er es mit der Vogel-Strauß-Methode: Solange er nicht darüber nachdenkt, solange ist alles in Ordnung. Dabei weiß Douglas ganz genau, was es mit den Sockets auf sich hat. Er weiß auch, dass sie zwischendurch ausgetauscht werden müssen, wenn sie Ärger machen.

Douglas erreicht seine Box und setzt sich erst einmal. Mechanisch entsperrt er den Rechner, schaut auf den Monitor. Alle Systeme laufen so, wie sie es sollen.

Wieder wandert seine Hand hinter das Ohr. Er war schon fast fünf Jahre alt gewesen, als man es ihm eingepflanzt hatte. Fünf Jahre. Normalerweise bekam man so ein Interface gleich nach der Geburt verpasst, aber sein Leben war nicht normal verlaufen, jedenfalls nicht in den ersten Jahren.

Aus der Nachbarbox dringt ein leises Fluchen herüber. Josh spielt wieder und scheint gerade zu verlieren. Auch heute kann er das Kind in sich nicht verbergen, will es ja auch gar nicht. Damit nimmt er eine Sonderstellung ein im Heer der Arbeiterameisen. Douglas denkt weiter. Weiß Josh, dass es Leute wie er waren, die die ganze Geschichte mit den Sockets und den multiplen Persönlichkeiten in Gang gebracht hatten?

Es waren Gamer gewesen, die sich zuerst die Interfaces installieren ließen. Damit konnten sie ihre Spielfähigkeit potenzieren. Nur hatte das irgendwann zu dem Phänomen geführt, dass die Spielcharaktere ein Teil von ihnen wurden, ein eigenständiger Teil. Die meisten der neuen Persönlichkeiten waren Krieger, gaben dem ursprünglichen Ich mehr Stärke, mehr Schutz.

Da schaltete sich schnell die Forschung ein. Zuerst entdeckte man verschiedene neuronale Muster. Dann gelang es, diese Muster isoliert und in einer personalisierten Cloud abzuspeichern. Als es später glückte, ein derartiges Muster wieder herunterzuladen und in einen bereits bestehenden Geist zu implantieren, war der Run auf die neue Technik nicht mehr zu bremsen. Schon fragte man sich, wie und wozu man sie einsetzen könnte. Herausgekommen war ein wild florierendes Gewerbe, in dem sich Personality-Designer, Psychologen und Techniker die Hände reichten und die ersten Menschen nach Maß schufen. Auf Knopfdruck ein anderer sein – das war das Ziel.

Das Ganze nahm solche Formen an, dass die Regierung reagieren musste. So wurde das Chippen der Neugeborenen zur Pflicht, ebenso wie die Basisabspaltung des allgemeinen Arbeits-Ichs. Alle sollten die gleichen Chancen bekommen. Wer dann mehr haben wollte – mehr Persönlichkeiten, mehr Kreativität, mehr Schutz, mehr Macht –, der sollte es sich selber verdienen.

Douglas will mehr. Er will vor allem mehr Macht über sich selber haben. Aber da er nur über die Basisausstattung verfügt, gibt es nichts, das ihn vor seinen Dämonen schützt. Sobald er aus dem Arbeitsmodus wechselt, sind sie wieder da. Manchmal, wenn es wirklich schlimm wird, kann er sie auch innerhalb seines Arbeits-Ichs hören. So wie heute Morgen. Als er wissentlich seinem Nachbarn in die Augen gestarrt und dessen Wachhund bis aufs Blut gereizt hat.

Douglas nimmt die Hand, die immer noch hinter dem Ohr ruht, wieder herunter. Er sollte vielleicht doch nicht länger den Kopf in den Sand stecken.

»Denk daran, du bist jetzt gut eingestellt. Aber vergiss nicht die Übungen. Sie werden deine Persönlichkeiten stabil halten.« Keira lächelt das warme professionelle Lächeln der medizinischen Patin, und umarmt die Frau vor ihr. »Ich wünsche dir alles Gute, Santana. Pass auf dich auf.« Sie löst die Arme von schmächtigen Schultern, dreht die schwarzhaarige, stocksteife junge Frau herum und winkt dem Taxifahrer zu. »Hey, Joe! Bring Mistress Cruz nach Suburbia, Quadrant II, 63 Elvenbrook, bitte.«

Joe verfrachtet erst das Gepäck und danach seinen Fahrgast in den Wagen, dann verschwindet er in einer Staubwolke und lässt die Patin in der Uniform des Instituts für angewandte Diversität und Stabilisierung am Bordstein zurück. Die kritzelt sich mechanisch einen Vermerk auf das E-Pad in ihrer Rechten und legt dann den Schalter hinter ihrem Ohr um.

Sie zittert in der warmen Sommerluft, einen Augenblick nur. Dann hat sie sich wieder gefangen. Löst den strengen Dutt und wirft dabei einen Blick auf das E-Pad.

»Santana ist weg. Weine jetzt, später hast du keine Zeit mehr dazu. K.«

Kaynee schlingt gehorsam die Arme um sich, wiegt sich hin, wiegt sich her. Nach ein, zwei Atemzügen kommen die Tränen. Einzeln zunächst, dann immer mehr, bis der ganze Mensch erschüttert wird von Kummer und Weh. »Ich habe sie gemocht. Katy und Santana. Beste Freundinnen. Forever! Was mach ich nur ohne sie?« Das Schluchzen kommt aus tiefstem Herzen. Die dunkelbraunen Locken fallen um das schmale Gesicht, verdecken es beinahe, nehmen Katy die Sicht auf den Highway, auf dem das Taxi schon lange hinter dem Horizont verschwunden ist.

Es sind exakt vierzehn Minuten, die Katy so verbringt. Doch sie ist nicht alleine in dieser Zeit. Im Hintergrund überwachen Karen, Kora und Karl die innere Schar, immer bereit, einzuspringen. Keira hat sich vollkommen in den Hintergrund zurückgezogen, denn keiner ihrer Anteile wird in diesem Moment gebraucht. Kerry und Keith pausieren, sind zwischengelagert im Upload. Dieser Augenblick des Abschieds gehört Kay – oder vielmehr Katy, dem jugendlichen Anteil des Privat-Ichs. Denn es ist Katy gewesen, die den Kontakt zu der eben verabschiedeten Patientin hergestellt hatte. Und Katy hat alles Anrecht, den Verlust zu betrauern. Sie darf – nein, sie muss weinen, um loszulassen. Denn erst wenn sie loslässt, ist sie bereit für den nächsten Besucher, dessen Patin sie werden wird. Katy steht an der Schwelle zur Hysterie. Karen ordnet den Gebrauch eines Taschentuches an, Kora lässt Katy das E-Pad zücken und einen Vermerk darauf schreiben.

Danach schaltet sich Kassy ein, schickt Katy in den Schlaf und übernimmt die Führung. Sie bindet sich das Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz auf, dreht sich herum und geht mit federndem Schritt die lang gezogene Auffahrt hinauf. Auf halber Strecke bleibt sie stehen, hebt die Hand, um ihre Augen vor der gleißenden Sonne zu schützen, und blickt auf das Gebäude, das sich auf einer leichten Anhöhe duckt.

Das Dach zieht sich bis zum Boden hinab, dünne Kunststoffbahnen mit integrierten Sonnenkollektoren, die den Hunger nach Energie decken, den das Institut Tag für Tag entwickelt. Es ist ein Kokon, denkt Kassy. Wir sind Raupen, wenn wir ihn betreten, und verlassen ihn als Schmetterlinge. Ein Energiegespinst, vollgepackt mit Technik, und die Menschen mitten darinnen. Wir entwickeln uns immer weiter.

Sie lächelt. Ein letztes Mal schnupft sie in das Taschentuch, dann steckt sie es weg, streicht sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln und nimmt ihren Weg wieder auf.

Als sie unter das Vordach tritt, gleiten die Türen automatisch auf und eine angenehme Kühle richtet ihr jedes einzelne Härchen an den Unterarmen auf. Kassy geht hinein, lauscht auf das hydraulische Seufzen hinter ihr und schlendert dann zum Empfangstresen.

Sie legt ihr E-Pad auf die Theke. »Hi, Barb, hast du Lust, meine Handschrift zu entziffern?«

Die Empfangsdame erhebt sich, zwinkert Kassy dabei zu und beugt sich über den elektronischen Notizblock. Sie liest laut vor. »Santana ist auf dem Weg in die Stadt, Keira nimmt sich für den restlichen Tag frei. Katy braucht noch Zeit.« Danach schmunzelt sie kurz. »Der Handschrift nach ist Kora mindestens ein Oberarzt«, stellt die Empfangsdame trocken fest, während sie das E-Pad zu Kassy zurückschiebt. »Danke für die Infos, ich werde Professorin Paulson in Kenntnis setzen.« Sie hält inne. »Katy hat wirklich einen fantastischen Job gemacht. Das konnte sogar ich hier sehen, und du weißt, ich habe nicht viel Ahnung von den Dingen, die ihr so treibt. Aber Santana war so … zerrissen, als sie ankam.« Barbara schüttelt den Kopf. »Ich schwatze zu viel. Sag Katy einfach nur, dass ich stolz bin auf sie. Machst du das?«

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Objętość:
380 str.
ISBN:
9783957658838
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Bookwire
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