Czytaj książkę: «Nils geht»
Gabi Kreslehner
Nils geht
2020
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Nele Steinborn
Satz- und Layoutgestaltung: Nele Steinborn, Wien
Schriften: Questa, Questa Sans
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3843-8 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3844-5 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Facebook: Tyrolia Verlag Kinderbuch
… Nils schreckte hoch.
Nein, nicht weiter, so viel war sicher.
Man konnte nicht davonlaufen.
Vor fast nichts …
INHALT
Erster Teil
Zweiter Teil
Erster Teil
ERSTE BEFRAGUNG // SARA AUSTER
Montag, neunzehnter Juni, Beginn: vierzehn Uhr dreißig
Hallo Sara!
Sara reagiert nicht.
Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?
Sara zuckt die Schultern.
Gut. Sagst du mir deinen ganzen Namen, bitte?
Sara Auster.
Gut, Sara, dann fangen wir jetzt an. Magst du mir erzählen, was passiert ist?
Pause. Dann: Sara schüttelt den Kopf und steht auf.
Ich geh jetzt!
Sie geht.
// CUT //
ERSTE BEFRAGUNG // JOHANNES »JO« BELLMANN
Montag, neunzehnter Juni, Beginn: vierzehn Uhr dreißig
Hallo Jo!
Jo reagiert nicht.
Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?
Jo zuckt die Schultern.
Mir doch egal!
Gut. Sagst du mir deinen Namen noch einmal, bitte?
Wieso? Kennen Sie doch!
Stimmt! Also dann erzähl mir, was passiert ist, Jo!
Wozu? Ich hab doch alles gesagt! Was wollen Sie noch von mir? Ich bin das Opfer! Nicht der Täter! Was wollen Sie also von mir?
Dir helfen, Jo.
Mir helfen?
Jo lacht.
Brauch ich nicht! Echt nicht!
Jo geht.
// CUT //
ZWEITE BEFRAGUNG // SARA AUSTER
Dienstag, zwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Guten Morgen, Sara. Wie geht es dir?
Sara sitzt still da, die Augen gesenkt.
Weiß nicht. Besser. Nein. Keine Ahnung.
Pause.
Magst du heute erzählen?
Weiß nicht.
Was soll ich denn erzählen?
Was dir einfällt. Fang einfach an. Wir haben Zeit.
Pause.
Haben wir? Zeit? Stimmt doch gar nicht!
Pause.
Ich bin gestern noch im Wald gewesen. Weiß nicht, wie lang. Bis meine Mutter angerufen hat. Die war völlig hysterisch. Wo ich bin. Dass es spät ist. Dass ich heimkommen soll. Dass das nix bringt.
Pause.
Ich hab geglaubt, ich find den Nils. Irgendwo im Wald zwischen den Bäumen. Dass er da sitzt. Aber der war nirgends. Ich weiß nicht, wo der ist.
Pause.
Wissen Sie es? Haben die ihn gefunden?
Nein.
Nicht? Scheiße …
Sara schlägt die Hände vor das Gesicht, wendet sich ab.
// CUT //
ZWEITE BEFRAGUNG // JOHANNES »JO« BELLMANN
Dienstag, zwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Guten Morgen, Jo. Wie geht es dir?
Wie es mir geht? Pffff…
Jo wirkt angespannt und aggressiv, wippt ständig mit dem rechten Bein.
Scheißfrage! Der wollte mich umbringen! Wie soll’s mir da gehen! Der wollte MICH abstechen, der Scheiß-Nils!
Jo springt auf.
Ihr kapiert das einfach nicht! Ihr kapiert das nicht!! ICH Opfer – ER Täter!! Nicht umgekehrt!! Ach Scheiße …
Jo schlägt die Hände vor das Gesicht, schüttelt den Kopf, wendet sich ab, zögert, wendet sich zur Tür, geht darauf zu.
Ich geh jetzt. Sie können mich nicht zwingen zu bleiben.
Jo dreht sich um.
Seine Mutter schläft nicht mehr, hab ich gehört. Sagen die.
Er deutet nach draußen.
Stimmt das?
Ja.
Jo nickt.
Okay … na ja … ist ja erst eine Nacht.
Jo starrt vor sich hin, dann geht er.
// CUT //
DRITTE BEFRAGUNG // SARA AUSTER
Mittwoch, einundzwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Du kennst den Nils schon länger, Sara?
Sara nickt.
Schon ewig. Schon immer.
Pause.
Ja. Schon immer. Da waren wir noch Kinder und ich mochte seinen Namen. Nils. Von Nils Holgersson. Der Junge, der fliegen konnte. Der Winzling aus dem Buch, aus dem Film. Kennen Sie den?
Sie blickt hoch.
Ja.
Sara nickt.
Ja. Den kennt jeder.
Pause.
Aber … der Nils … der andere Nils … unser Nils …
Pause.
… der war nicht wie der Nils Holgersson, der war nicht so, dass man ihn bewundern konnte. Nein. Den konnte man nicht bewundern.
Pause. Sara beginnt zu lächeln.
Oder doch! Doch. Ja. Als wir klein waren. Kinder.
Da hab ich ihn bewundert.
Sara lächelt. Pause.
Hatte ich vergessen.
Pause.
Aber dann, als die sich gegenüberstanden, der Jo und der Nils, da ist es mir wieder eingefallen.
Was ist dir wieder eingefallen?
Dass wir gespielt haben als Kinder. Ritter und Schaf. Er war der Ritter und ich war das Schaf, ein silberner Ritter war er in einem silbernen Harnisch und mit einem silbernen Schwert und jedes Mal hat er mich vor dem Drachen gerettet.
Pause. Sara lächelt.
Ich kniete am Boden mit einem Schaffell, das hatte zwei Ausschnitte für die Arme, damit man es anziehen konnte wie einen Mantel. Und auf dem Kopf trug ich einen Haarreifen, da waren Ohren dran und dann war ich das Schaf.
Pause.
Wir haben das gebastelt, der Nils und ich mit unseren Müttern, genauso wie das Schwert und den Harnisch für Nils, die waren aus Karton und Alufolie.
Pause. Sara lächelt.
Also ich kniete am Boden und machte: Mäh! Mäh! Und tat ängstlich, als ob ich mich fürchten würde. Und Nils stellte sich vor mich hin mit weit geöffneten Armen. Er hielt das Schwert und glänzte stolz und silbern, und er kämpfte gegen den Drachen und immer gewann er.
Pause. Sara lächelt.
Manchmal hat er mich gefragt, ob ich der Ritter sein will und er das Schaf. Aber das wollte ich nie.
Sara holt tief Luft, hört zu lächeln auf.
Wissen Sie, seine Mutter ist die beste Freundin meiner Mutter. Schon immer. Da waren die noch in der Schule. Also waren wir ständig zusammen. Bei denen daheim. Bei uns daheim. Am Spielplatz. Da hatte sie immer Verbandszeug dabei. Wenn einer von uns sich die Knie aufgeschlagen hatte, holte sie es raus, tupfte mit irgendeinem Wunderzeug, da brüllten wir noch mehr, denn das brannte wie die Hölle. Aber sie ist Ärztin, da muss sie ja wissen, was sie tut. Und die Hölle … das weiß ich jetzt …
Pause.
… die Hölle brennt ganz anders.
// CUT //
DRITTE BEFRAGUNG // JOHANNES »JO« BELLMANN
Mittwoch, einundzwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Keine Nacht! Fuck!
Pause. Jo schüttelt den Kopf, wirkt hilflos.
Scheiße, die soll sich Tabletten krallen! Zum Beruhigen! Die muss das doch wissen, die ist doch Ärztin! Die kippt doch sonst um! Und was dann? Fuck!
Pause.
Mein Alter brüllt jetzt ständig rum. So nach dem Motto: Du lebst unter meinem Dach und stellst deine Füße unter meinen Tisch!
Und ich darauf: Aber ich bin fünfzehn! Du kannst mir nichts mehr erzählen!
Und er: Solange du …
Und ich: Aber ich bin …
Und so weiter und so weiter.
Pause.
Was?!
Pause.
Wieso sagen Sie nichts?
Ich hör dir zu.
Ach fuck, lassen Sie mich doch in Ruhe!
// CUT //
DRITTE BEFRAGUNG // SARA AUSTER
Mittwoch, einundzwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Aber irgendwie war der Nils immer komisch. Ein kleiner Wicht, der sich nicht anpassen konnte. Doofes Gesicht. Irre Bewegungen. Und dabei weiß der aber alles. Den kann man fragen, was man will, der weiß es. Ich meine, da ist es doch kein Wunder, dass die ihn schon immer im Visier hatten. Schon in der Volksschule. Schon im Kindergarten. Der konnte tun, was er wollte.
Pause.
So läuft das eben. So ist die Welt.
Pause.
Wissen Sie, manchmal suche ich mein Gesicht nach Wimpern ab.
Kennen Sie das auch? Machen Sie das auch?
Ja.
Also, ich reiße mir keine aus, das nicht, aber hin und wieder verliert man doch welche …
Pause.
Oder nicht?
Doch. Ja.
Sara nickt.
Und dann, also wenn ich eine habe, dann … dann blas ich sie in den Wind. Und meine Wünsche mit.
Pause.
Ja. So funktioniert das. So macht man das. Bläst seine Wünsche in den Wind. Mit geschlossenen Augen. Und dann …
Pause.
… gehen sie in Erfüllung.
Pause.
Oder auch nicht.
Pause.
Machen Sie das nicht so?
Doch.
Finden Sie das blöd?
Nein.
Pause.
Was wünschst du dir denn, Sara?
Sara lächelt zaghaft, flüstert.
Immer das Gleiche.
Und was ist das?
Pause.
Mut.
Sara schaut hoch. Sie weint. Pause.
Dass ich mutig gewesen wäre. Früher. Als noch Zeit war.
Pause.
Aber dann …
Pause.
Ja?
… hätten sie mich auch … und dann …
Sara senkt den Blick.
// CUT //
»Detlef«, sagten sie und grinsten. »Hallo, Detlef, alter Spinner!«
Und Nils: »Nils. Ich heiße Nils.«
Er sagte das immer, jeden Tag sagte er das, wenn er morgens in die Klasse kam und sie ihn Detlef nannten und ihm die Tasche wegrissen und ihm laut grölend auf die Schultern schlugen, immer wieder auf die Schultern, jeden Tag, jeden Morgen, egal, wann er kam, spät oder früh, sie warteten auf ihn und schlugen ihm auf die Schultern und grölten: »Detlef, alte Sau!« Und er sagte: »Nils. Ich heiße Nils.« Und wurde kleiner unter ihren Schlägen, immer kleiner, aber sagte: »Nils. Ich heiße Nils.«
// CUT //
DRITTE BEFRAGUNG // SARA AUSTER
Mittwoch, einundzwanzigster Juni, Beginn: neun Uhr
Das ging immer so. Immer. Und er hat sich nicht gewehrt. Also nicht richtig, nicht mit den Fäusten. Und da haben sie wohl gewusst, dass sie machen können, was sie wollen.
Pause.
Und wir anderen alle …
Pause.
Sara flüstert.
… wir haben uns halt nicht getraut.
Pause.
Was habt ihr euch nicht getraut?
Pause.
Ihm zu helfen. Stopp zu sagen! Zu Rasmus! Zu Fadi! Zu Jo!
Und warum nicht?
Weil …
Pause.
… weil … wir Angst hatten! Also … also ich weiß es nicht von den anderen, aber ich … ich hatte Angst. Vor Rasmus und Fadi und Jo. Und auch vor Mila.
Ja.
Pause.
Das ist schwer, Sara. Das weiß ich.
Was?
Stopp sagen. Für jemand anderen. Wenn man Angst hat und um sich selber fürchtet.
Pause.
Aber ihr wart viel mehr als die. Ihr wart die halbe Klasse.
Pause.
Ja. Stimmt. Waren wir. Aber einer hätte anfangen müssen. Und wir wissen doch nichts voneinander. Wie wer zu wem steht. Wem man trauen kann. Sowas weiß doch keiner.
Pause.
Warum habt ihr euch keine Hilfe geholt, Sara?
Sara schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt zu weinen.
Wer hätte denn geholfen?! Wer hilft dir denn, wenn es dir dreckig geht?! Schaut doch jeder nur auf sich!
Sie fängt sich wieder und wischt die Tränen ab.
Die Lehrer kriegen nix mit! Und wenn, dann können die auch nix tun. Oder es ist ihnen egal.
Glaubst du das wirklich?
Sara zuckt die Schultern.
Weiß nicht. Keine Ahnung.
Sara seufzt. Pause.
Wissen Sie, nach der Volksschule hat Nils’ Mutter einen Mann kennengelernt, einen Engländer, und sie ist mit ihm und Nils nach England gegangen und ich war … irgendwie froh darüber, weil es mit dem Nils in der Schule nie so besonders einfach war und weil ich dachte, jetzt gehen die weg und dann hab ich meine Ruhe und muss nicht ständig hinter ihm her zum Aufpassen.
Du hast auf Nils aufgepasst?
Ja! Sicher!
Warum?
Na, weil meine Mutter das wollte. Und Nils’ Mutter. Weil die halt schon irgendwie auch ahnten, dass …
Pause.
Na ja. Auf alle Fälle gingen sie dann weg und ich war froh. Echt froh. Aber dann … na ja … leider hat das nicht geklappt und nach drei Jahren waren sie wieder zurück.
Pause.
Und ausgerechnet da wurde in unserem Nachbarhaus eine Wohnung frei und meine Mutter wusste das und also zogen sie da ein, der Nils und seine Mutter. Und dann hat sie ihn in meiner Schule angemeldet und dann kam der auch noch in meine Klasse.
Pause.
Wie lang ist das her?
Ein Jahr. Im letzten Sommer kamen sie zurück.
Sara zupft an ihrem Taschentuch, zerlegt es in kleine Fussel.
Wissen Sie, es war halt einfach nicht so, dass ich den Nils besonders mochte.
Pause.
Eigentlich mochte ich ihn gar nicht. Ich meine, das ist doch in Ordnung, oder?
Ja.
Ich meine, man kann nicht alle mögen, oder?
Nein, kann man nicht. Muss man auch nicht.
Und der Nils, der … der hat es einem wirklich nicht leicht gemacht.
Pause.
Aber das, was da jetzt passiert ist, das hätte nicht passieren dürfen.
Sie schüttelt den Kopf.
Nein, Sara, das hätte es wirklich nicht.
Pause.
Wann hat es begonnen?
Sara denkt nach.
Ich weiß nicht. Eigentlich hat es nicht begonnen. Es war einfach. Von Anfang an.
Pause.
Wenn du das perfekte Opfer bist, dann bist du einfach das perfekte Opfer. Immer und überall.
// CUT //
Die ersten Sommertage des Jahres. Die Sonne knallte, als gäbe es kein Halten.
Frau Degenhard hatte die Klasse über den Sportplatz getrieben, nun spielten sie noch eines dieser Kickoutspiele, mit zwei Mannschaften und Ballfangen und Gegner-Abschießen, und wer am Ende noch jemanden im Feld hatte, hatte gewonnen. Mila tänzelte hin und her, war ständig in Bewegung, sprang hoch, holte sich ein ums andere Mal den Ball. Ihre bräunliche, glatte Haut glänzte vom Schweiß, der dunkle Pferdeschwanz wippte im Takt. Wieder fing sie den Ball, holte aus, schoss ihn mit Wucht zurück ins andere Feld und traf Sara. Die jaulte ein bisschen, aber lief rasch vom Spielfeld. Hinter Jo suchte sie sich einen Schattenplatz.
»Mila ist gut«, sagte Rasmus und schnalzte mit der Zunge, »verdammt gut!«
»Mila ist auch schön«, sagte Jo und lachte. »Verdammt schön. Mila ist die Schönste. Da können alle anderen sich verstecken!«
»Der Paulsen findet das auch«, sagte Rasmus. »Ich hab den gesehen, am Fenster. Der hatte Augen wie Weihwasserbrunnen. Durchleuchtet! Durchseligt! Und dabei hat die Mila gar nix gemacht. Aber der Paulsen wahrscheinlich.«
Rasmus umfasste mit seinen Fingern die Wasserflasche, schob sie in raschem Tempo auf und ab, verdrehte die Augen und stöhnte, als ob es ihm ans Leben ginge. Jo lachte, konnte dieses eine einzige Mal den Paulsen gut verstehen. Männersolidarität.
»Obwohl der doch die Degenhard fickt«, sagte Rasmus grinsend, »und die ist auch nicht schlecht für ihr Alter. Schau sie dir doch an!«
Er deutete zu der Lehrerin, die mit der Trillerpfeife im Mund am Rand des Spielfeldes stand, und rief ihr zu: »Na, Frau Degenhard, alles gut?«
Frau Degenhard wandte sich um und schaute ihm kühl ins Gesicht. Ansonsten ignorierte sie ihn, manchmal war das das Beste, was man tun konnte. Die Jungs lachten.
Seit man denken konnte, waren sie eine Clique, Jo, Rasmus, Fadi und Mila, fest verschworen, unbesiegbar, von manchen Mitschülern neidvoll bestaunt, von den meisten jedoch gehasst und gefürchtet. Die Lehrer nannten sie das schreckliche Quartett oder die fürchterlichen Vier. Jo war der hofierte Anführer, Rasmus der Stratege, der immer wusste, was Sache war, und alle Fäden zog, und Fadi der willige Vollstrecker aller Pläne. Und am Rand der drei tänzelte Mila herum, wandte sich mal hierhin, mal dorthin, legte sich nicht fest.
Niemand wollte den Vieren in die Quere kommen, Rasmus’ Pläne konnten vernichtend sein, also legte man sich besser nicht mit ihnen an. Musste man aber auch nicht, denn seit diesem Schuljahr hatten sie einen einzigen beständigen Feind, der alles ab- und einfing: Nils.
»Fadi!« Frau Degenhards Stimme schnitt durch die sommerliche Hitze wie Eis. »Bist du verrückt! Wir schießen hier nicht so scharf! Das weißt du genau!«
Sie beugte sich zu Nils, der am Spielfeld lag und sich krümmte. »Alles in Ordnung, Nils?«
Nils schnappte nach Luft. Wie eine stahlharte Faust war Fadis Ball in seiner Magengrube gelandet.
»Atme, Nils, atme! Ganz ruhig!«
Nils versuchte es. Es gelang.
Vom Schulgebäude ertönte die Pausenglocke. In Nullkommanichts hatte die Klasse sich verdrückt. Langsam richtete Nils sich auf, gestützt von Frau Degenhard. Ein paar Meter entfernt stand Fadi, die Hände in die Hüften gestützt, abwartend, lässig, cool.
»Das wird ein Nachspiel haben, Fadi«, sagte Frau Degenhard mit zornbebender Stimme und wusste doch genauso wie Fadi und Nils, dass es mit Sicherheit keines haben würde.
Fadis Vater war im diplomatischen Dienst, seine Mutter hatte vor ihrer Heirat Sprachen studiert und war nun Hausfrau. Seit Fadi denken konnte, waren sie von Land zu Land gezogen, von Hauptstadt zu Hauptstadt. Den Fixpunkt einer Heimat hatte es nie gegeben, wenn man davon absah, dass er mit seiner Mutter jedes Jahr im Sommer für zwei Wochen nach Tunis zu den Großeltern reiste. Fadi wusste also sehr genau, wie es war, wenn man nicht dazugehörte, wenn sie einen nicht einließen in ihre Kreise. Immer waren ihm abschätzende, misstrauische Blicke begegnet, wenn er neu an eine Schule kam, und er wusste gar nicht mehr, wie oft das gewesen war, in wie vielen Schulen er vorübergehend geparkt worden war, wie er es in Gedanken ironisch nannte. Nicht immer war es bei den misstrauischen Blicken geblieben. »Terrorist« hatten sie ihn genannt, »Scheißterrorist«, »Scheißaraber, dich sollte man in die Luft sprengen!« Auch Handgreiflichkeiten hatte es gegeben, er hatte ihren Hass zu spüren bekommen, ihren Zorn, irgendwann hatte er gelernt sich zu wehren, sogar sich zu behaupten.
Dabei, wenn man es genau nahm, war er nicht einmal Araber, Tunesien war beileibe nicht Arabien, aber das wollte keiner so genau wissen, es genügte, dass er aussah, wie er aussah, alles andere zählte nicht.
An dieser Schule aber war von Anfang an alles anders gewesen. Jo und Rasmus hatten ihn gesehen und ihn ungefragt in ihren Kreis aufgenommen. Fadi hatte keine Ahnung, warum.
Vielleicht war er der Quotenaraber, den eine Clique möglicherweise brauchte, um elitär zu wirken, der Quotenflüchtling, der sich gut integriert hatte, obwohl er alles andere als ein Flüchtling war. Vielleicht war Jo in ihn verliebt, wer konnte das wissen, und wenn Fadi manchmal Jos Blicke bemerkte, wenn der sich unbeobachtet fühlte, und wenn diese Blicke ihn fast zu streicheln begannen … dann … dann wurde es Fadi schummrig im Kopf und im Magen, und er stellte sich für Sekundenbruchteile vor, was sie mit so einem machten in seinem Kulturkreis … mit so einem …
Aber im Grunde war ihm das alles egal, denn er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben angekommen, und von daher war er vielleicht doch zeitlebens ein Flüchtling gewesen, denn nie zuvor hatte er dieses Gefühl verspürt, dieses Gefühl von Wärme, Schutz, Glück und Geborgenheit. Mit tausendprozentiger Sicherheit wusste er, dass er darauf niemals wieder verzichten würde, und wenn das bedeutete, dass er den Staub von Jos Füßen lecken musste, dann war das eben so.
Davon abgesehen würde Jo immer eine einflussreiche Persönlichkeit sein, der Boss eines großen Konzerns nämlich, nicht nur, weil er diese Aufgabe gleichsam von seinem Vater erben würde, sondern weil es einfach so war, dass Jo diese Kraft besaß. Andere hinter sich zu lassen. Ihnen die Kniekehlen auszuhebeln, wenn es sein musste, ihnen die Fressen zu polieren. Und alles das mit kühlem Herzen. Das war wichtig. So etwas musste kühlen Herzens geschehen. Gerader Blick nach vorn, Hacken zusammengeschlagen, leichtes Lächeln.
Auch Banker, überlegte Fadi, wäre für Jo eine Möglichkeit, einer dieser eisglatten Typen, deren Herz an nichts hing, die sich Frauen hielten oder auch Männer oder beides und Yachten und Häuser an allen Ecken und Enden dieser Welt und alles das in kühler Distanz und Gleichgültigkeit. So wie er auch die Sache mit Nils anging. Distanziert und gleichgültig. Man konnte auch sagen, grausam und mitleidlos.
Fadi aber verspürte Mitleid. Mit Nils. Manchmal. Wenn er alleine war und nachdachte. Dann kam das Mitleid. Und noch manchmaler sogar Tränen. Weil Fadi eben wusste, wie es war, ein Verstoßener zu sein.
Aber die Dinge waren, wie sie waren. Man konnte nichts machen, nichts tun.
Bloß Schule wechseln. Und hoffen, dass es in einer anderen Schule besser wurde. Hatte ja auch bei ihm geklappt. Ob er Nils diesen Tipp einmal geben sollte? Heimlich? Versteckt? Dass es niemand merkte?
Fadi bedeutet Retter, aber wie ein Retter fühlte Fadi sich nicht.
Es war Abend geworden, sie feierten den Sommer und dass bald Ferien waren, und sie taten es bei Jo daheim hinter dem Haus, wo der Garten sich in einen großen Park erweiterte. Noch nie, dachte Sara, habe ich so einen schönen Garten gesehen, so einen schönen Park, was für wundervolle Bäume, wie alt sind sie wohl, was alles haben sie schon gesehen?
»Na«, sagte Jo spöttisch, »bist du jetzt hier angewachsen? Willst du nicht weiterkommen? Zu den anderen? Zum Feuer?«
Sara zuckte zusammen. »Doch«, sagte sie schüchtern, »doch, natürlich, danke für die Einladung.«
»Keine Ursache«, sagte Jo gleichgültig, »war Rasmus’ Idee.«
Manchmal erweiterten sie ihren Kreis, speziell, wenn es um eine Party ging, und meistens waren die Eingeladenen mächtig stolz, eingeladen zu sein.
Sara hatte noch nie diese Ehre gehabt, deshalb war die Überraschung groß gewesen, als sie auf ihrem Handy Jos Einladung gelesen hatte. Und nun war es der unheimliche Rasmus gewesen, dem sie das zu verdanken hatte? Sie spürte den winzigen Stich einer Enttäuschung, aber nun war sie einmal da und man würde sehen.
Ihrer Mutter hatte sie erzählt, dass sie mit Mandy ins Kino gehen und dann bei ihr übernachten würde. Es war Freitag, also morgen keine Schule. Nie hätte ihre Mutter ihr erlaubt, zu einer Party zu gehen, die Jo veranstaltete, wusste sie doch, dass er einer von denen war, die Nils das Leben in der Schule nicht gerade einfach machten. Die Lüge war also nötig gewesen und auch nur zum Teil eine Lüge, denn schlafen wollte sie tatsächlich bei Mandy, die ihr schon aufgeregt zuwinkte.
»Hei, bist du endlich da!« Mandy lachte und hob ihr Glas, in dem sich eine merkwürdig grünliche Flüssigkeit befand. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.«
»Meine Mutter«, sagte Sara, »ich hatte noch zu tun.«
Auch das war nur eine halbe Lüge. Ihren Kleiderschrank hatte sie durchprobiert und doch nicht das Richtige gefunden. Eine Leggings war es nun geworden und ein Minirock darüber und ein knappes Top. Mit Mila konnte sie nicht mithalten, aber das konnte keine, war quasi Naturgesetz.
»Hier«, gurrte eine Stimme von hinten, »kleine Sara, was zu trinken für dich!«
Es war Rasmus, sie spürte seinen Körper an ihrem, ein Prickeln durchfuhr sie. Er umfing sie, legte sein Kinn auf ihre Schulter, sie wollte sich freimachen, aber er ließ sie nicht, zog sie mit sich unter einen dieser alten riesigen Bäume, zwang sie, sich zu setzen. Sara schmiegte ihren Rücken an den kühlen Stamm und nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Flasche, die Rasmus ihr vorhin in die Hand gedrückt hatte. Es schmeckte bitter und alkoholisch und sie musste husten. Rasmus lachte. »Bist du nicht gewöhnt, oder?«
»Nein«, sagte sie, »bin ich nicht. Ich hätte lieber ein Cola.«
»Zu Befehl!«, rief er, sprang hoch, knallte die Hacken zusammen, stand stramm und machte sich schließlich auf die Suche nach einem Cola. Sara musste lachen. Na ja, dachte sie, vielleicht ist er gar nicht sooo …
»Nein«, sagte er, als er wiederkam und grinste, »ich bin gar nicht sooo …« Dann prustete er los über ihr verblüfftes Gesicht, ihren offenstehenden Mund. »Das hast du doch gerade gedacht, oder? Vielleicht ist der Arsch gar nicht soooo … ein Arsch?«
Er strich ihr einen Tropfen Cola von der Unterlippe und leckte seinen Finger ab. »Nein«, sagte er leise, fast behutsam, »nein, ich bin gar nicht sooo … ein Arsch.«
Jo kam heran und mit ihm Mila und Fadi. Drüben, auf der anderen Seite des Feuers, tanzten sie. »Guter Sound«, sagte Mila, »wirklich guter Sound.«
Unversehens begann auch sie zu tanzen, eine Waldfee, ein Elfending, ein Zaubervogel, und Sara konnte nicht anders, als sie anzustarren und ihr dabei zuzusehen, wie die dunklen Haare flogen, in ihrem Rücken die Flammen züngelten und Schatten auf ihren Körper warfen.
Wieder drückte Rasmus sich von hinten an Sara. »Na, kleine Sara? Eifersüchtig?«
Sara schwieg, folgte Mila mit den Augen, war ein bisschen müde. Wegen Mila. Wegen allem. »Kleine süße Sara«, flüsterte Rasmus. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr und wollte weg von ihm, abrücken von ihm, eine Wand dazwischen, den Baum dazwischen, das Feuer, was auch immer. Aber er ließ es nicht zu, hielt sie fest. »Das mit dir und Jo«, gurrte Rasmus weiter in ihr Ohr, »das wird nix. Das kannst du dir in die Haare schmieren.«
Sara erschrak. Was wusste der?
»Der will nämlich die Mila, unsere wunderschöne Mila!« Rasmus folgte Mila mit den Augen. »Da kannst du nicht mit, Saralein.«
Behutsam strich er mit seinem Finger ihren Hals entlang, dass es kribbelte. »Und außerdem: DICH will ICH!«
Panik ergriff Sara, sie wollte weg, sich lösen von ihm, aber er hielt sie eisern fest, drehte sie zu sich, kam ihrem Gesicht so nahe, dass sie seinen Atem riechen konnte, ein wenig Alkohol, nicht viel. Zugleich sah sie, wie seine Augen kühl wurden, und da wusste sie, er würde zuschlagen. Punktgenau. Es gab etwas, womit er zuschlagen konnte. Und ehe sie in der Lage war, sich zu wappnen, tat er es.
»Und wenn du mich nicht willst«, gurrte Rasmus, »dann bleibt dir ja immer noch Detlef!«
Er lächelte, nahm eine Locke ihres Haars zwischen die Finger und rieb sie in die Luft. »Der gute, alte Detlef. Der bleibt dir, meine kleine Sara. Der bleibt dir fürs Leben.«
Immer noch lächelte er. Zart und sanft lag dieses Lächeln auf seinem Gesicht, und während Sara vergeblich versuchte, dem Schlag auszuweichen, der wie in Zeitlupe auf sie zugecrasht kam, staunte sie gleichzeitig darüber, wie es sein konnte, dass da einer eine solche Zartheit in sein Gesicht brachte, wo er doch versuchte zu töten.
»Aber ich sag’s keinem«, flüsterte Rasmus weiter in ihr Ohr. »Versprochen! Wir behalten dein Geheimnis. Wir zwei beide. Meine Sara und ich und ich und meine Sara. Wir behalten es für uns.«
Sein Mund kam ihrem ganz nahe, sie wollte sich abwenden, aber seine Hände hatten sich um ihren Kopf gelegt und hielten ihn fest.
Wieder gurrte er ihren Namen, »Sara, meine Sara«, und dann spürte sie seinen Mund auf ihrem und seine Zunge an ihrer und stieß ihn weg, empört, wütend. Und weil er ein wenig betrunken war, kippte er tatsächlich nach hinten.
Augenblicklich sprang sie hoch und begann zu laufen, durch den Garten, um das Haus herum. Im Rücken hörte sie sein Lachen, er lachte und lachte und hörte nicht auf, und als sie endlich stehen blieb, irgendwo in diesem Viertel, in dem sie noch nie gewesen war, weil es eines für reiche Pinkel war, hörte sie es immer noch, Rasmus’ Lachen. Lärmend und scheppernd hatte es sich in ihre Eingeweide gebohrt und in ihr Hirn und dazwischen blinkte ihr Geheimnis, ihr sauverdammtes Geheimnis, das keiner wissen sollte … Nils wohnhaft nebenan, Tür an Tür, und als ob das nicht reichte … Nils im Kindergarten, Nils in der Volksschule und immer mit ihr, Sara, immer, weil ihre beiden Mütter sie zusammengespannt hatten, weil die das süß und niedlich fanden, weil die nichts wussten, NICHTS, nicht die Verzweiflung, nicht den Zorn, nicht dieses fürchterlich Komische und Schreckliche und nun …
Rasmus hatte alles herausgefunden, wie er immer alles herausfand, wann man aufs Klo ging und wann man seine Tage hatte und wen man verzweifelt und aussichtslos liebte. Dann machte er seine Spiele damit, lachte darüber mit einer Begeisterung, die den Schmerz und die Scham noch vertiefte und ihn, Rasmus, zum Sieger machte. Betrunken wälzte er sich unter den Bäumen in Jos Garten, lachte, lachte, lachte, behielt sein Wissen gerade noch für sich, aber würde es irgendwann benutzen, bis zum Erbrechen, bis zum Sterben, bis in die Hölle hinein.
Irgendwann war Fadi da, seine dunklen Augen, sein geschmeidiger Gang. Er brachte Sara zur Straßenbahn, schweigsam und vorsichtig. Als die Bahn anfuhr, blieb er stehen und schaute hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war.