Czytaj książkę: «Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum»
Fritz Eckenga
Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum
Neue Texte und Gedichte
FUEGO
- Über dieses Buch -
Eckenga dringt in Problemzonen vor, die außer ihm niemand je betreten hat und wird. Kein Wunder, dass er dort von Phänomenalem überrascht wird und ein ums andere Mal wie einst der elefantenohrige Vulkanier feststellen muss: »Ja, es ist Leben, aber nicht, wie wir es kennen.«
Eckenga entdeckt hirnähnliche Strukturen in den Knien von Fußballern, kommuniziert mit Smartphone-gestützten, schreibfähigen Vormagensystemen, sogenannten »Posting-Pansen«. Er berichtet feinfühlig von menopausenresistenten Trümmerfrauen, die in nordhessischen Wäldern noch mal ganz von vorne anfangen und zum Nichtrauchen nach draußen gehen. Seine Expeditionen führen ihn zu Blind-Dates in lappländische Tattoo-Darkrooms und hinter deutsche Elektroherde, wo sich die feuchte Bratfettkakerlake und der klebrige Kochschwadenfadenacktwurm zusammen mit dem feinschuppigen Rigips-Schimmelmolch aus jahrzehntealten Teigwarenskulpturen ein lecker’ Nachtmahl zubereiten. Der Autor reist von den Ötztaler Alpen, in denen ledrige Ureinwohner abgebaut und als Wurzen an deutsche Touristen verfüttert werden, bis in den westfälischen Hintergarten, wo ein demütiger Rasenhalm sein Herrchen um Kürzung anwinselt.
»Ironie, natürlich. Mal böse, mal sanft. Eckenga beherrscht die Gefühlslagen wie die Reimformen. Und bei ihm kann alles Dichtung werden: Das Volksfest und der Einkauf, ein U-Boot-Zusammenstoß und der Hornhauthobel.«
Westfalenpost
»Fritz Eckenga ist ein wahrer Meister des lakonisch-skurrilen Humors und der überraschenden Pointe. Er ist jetzt schon als Dichter in einem Atemzug zu nennen mit Morgenstern, Busch, Roth und Gernhardt.«
WDR 5 Bücher
INHALT
Vorwort
Äpfelpressen in Nordhessen
Aschermittwochsbrief aus Westfalen
Rund fünf Millionen Humoristen
Heimatloses Osterei (auf Norderney)
Obenrum runtergekommen
Elektropost I
Veronika Merkel – Ich und Gauck – Witzlose Grüße
Mit dem Zweithirn aus dem Pansen posten
Länderkunde Österreich
Ö
Länderkunde Schweiz
Elektropost II
Trés Grand Virus – Pommes mit Ethik – Superwichtig – Große Ferien
Mørden im Nørden
Das Gedicht kreißt
Migrationsvorder-, -hinter- und –nebengründe
Irgendwas mit Schimpansen
Goodbye and Good Luck. Made in Germany
Endlich: Verpflichtende Deutschkurse für Inländer
Bargeld kommt weg
Es war nicht alles schlecht
Neues aus der Welt der Nachrichtenwelt
Elektropost III
Bad News – Nachrichtenlage – Lügenpresse – Werwolf Schäuble
Unterm Turm
Der Name des Hundes
Le Foot am Ende der Welt
Compris? Fußball-Sprachkurs Französisch-Deutsch
Johan Cruyff. König der Niederlagen
Kannitverstan? Fußball-Sprachkurs Holländisch-Deutsch
Männer in Meeren aus Tränen
Auch mal an was glauben
Immer eine Option
Von wegen VW
Totilas. Der Nachruf
Koks schießt keine Tore
Dichtung und Wahrheit
Elektropost IV
Ostern – Pfingsten – Gift im Teddy – Angestellten-Doping
Brief aus dem Dachgeschoss der Alterspyramide
Einige grundsätzliche Anmerkungen zu jahreszeitlich bedingten Lärmbelästigungen
Einige grundsätzliche Anmerkungen zum Herbst
Kleiner Gruß vom Berch
Einige Anmerkungen zum Problem der vielerorts zu besichtigenden Wanderbaustelle
Sommerloch. Ein Nachruf
Elektropost V
Panama Papers – Rekord-Buchmesse – Liebe und Toleranz
Die Eiligen Drei Torschützenkönige
Weihnachtsmarkt
Über den Autor
Über den Verlag
Impressum
Vorwort
Sie, liebe Leser, haben alles richtig gemacht. Sie sitzen nicht vor dem laufenden Fernseher. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand gleichzeitig ins Fernsehen kuckt und ein Buch liest, ist doch wohl ziemlich gering. Falls Sie das aber aus mir unerfindlichen Gründen doch tun, machen Sie bitte sofort die Glotze aus. Sie könnten nämlich davon totgehen. Das Buch aber lassen Sie bitte unbedingt an, Sie wollen ja wohl wissen, wie’s ausgeht – oder? Gut so.
Ich fasse zusammen: Der Fernseher ist aus – das Buch läuft. Das erhöht Ihre Überlebenschancen um ein Vielfaches. Nicht, weil Sie lesen, was hier steht, sondern einzig und allein wegen der Tatsache, dass Sie nicht vor dem beleuchteten Flachschirm sitzen. Wenn Sie das nämlich täten – und das auch noch stundenlang – und das auch noch täglich – und nächtlich – dann, liebe Risikofaktoren, können Sie auch gleich wieder Kette rauchen. Oder schwanger werden. Oder die Anti-Baby-Pille nehmen. Oder alles gleichzeitig. Und wenn Sie dabei dann noch vor dem angeschalteten Fernseher sitzen, dann sind Sie praktisch schneller tot, als Sie einschlafen können.
Sie müssen mir das nicht glauben, glauben Sie’s mir. Sondern dem japanischen Kardiologen Dr. Shirakawa von der Universität Osaka. Der hat’s nämlich herausgeforscht: Menschen, die täglich fünf Stunden oder mehr vor dem TV-Gerät veröden, haben ein doppelt so hohes Risiko, eine tödliche Lungenembolie zu bekommen, wie Menschen, die sich nur weniger als zwei Stunden von dem Gerät beim Davorsitzen beobachten lassen.
Unverbesserliche Couch-Potatoes haben im Grunde genommen nur eine Chance, dem plötzlichen Glotzentod zu entgehen. Zwischendurch ab und zu aufstehen, immer mal was trinken und Thrombosestrümpfe tragen. Die Wissenschaftler dementierten in diesem Zusammenhang die Meldung, dass fünfstündige, von Johannes B. Kerner moderierte Spendengalas überhaupt nur in Ganzkörperthromboseanzügen zu überleben seien. Das sei eine unseriöse Pointe, die sich wahrscheinlich ein oberflächlicher Humorist ausgedacht habe. Stimmt.
Äpfelpressen in Nordhessen
Es war ein zauberhafter Oktober. Einer, der nicht von der Willkür der Weltmeere und von den Launen des Luftdrucks gezeugt schien, sondern vielmehr wie entworfen von der zarten Feder einer Rosamunde Pilcher, am silbrig schimmernden Tisch im Garten eines südenglischen Landhauses leichthin auf blassgelbes Bütten getupft. Ein idealer, ein Idyll-Oktober, wie nach dem Einfältigkeitsgebot zusammengebraut in der Hirnschale des grinsenden Glücksdiscounters Eckart von Hirschhausen.
Gelbgoldig strahlte die Sonne ohne Unterlass vom wolkenlosen Himmel, gerade so, als wollte sie ihre nur sporadische Anwesenheit in den Sommermonaten nun durch eine umso prächtigere Präsenz vergessen machen. Und wie ihr das gelang. In den Morgenstunden schien es, als könne sie es gar nicht abwarten, den Tau von den nachtfeuchten Blechen der schlaftrunkenen Fahrzeuge zu lecken. Heiter blinzelte die Frühaufgeherin über Giebel und Baumspitzen, wärmte Gefieder der emsigen Meise wie Fell des fleißigen Eichhorns, das wohl noch selten in solch zeitigem Licht die Frucht des Haselnussbaumes aus zartem Schalengrün gezutzelt und die Abfälle vor den Hauseingang geworfen hatte. KLOCK. ZCK. ZCK. Und noch eine Frucht. KLOCK. ZCK. Und noch eine. KLOCK. ZCK. ZCK.
Faszinierend und enervierend zugleich, diese niemals versiegende Energie. Genauso wie damals bei unseren hyperaktiven Kindern. Die hochnäsige Psychologin behandelte uns wie den letzten Abschaum. Geschlagene sechs Monate hatte es gedauert, bis wir bei der arroganten Schnepfe endlich die ADHS-Diagnose für die beiden Zappelphilippe durchgeboxt hatten. Im Apotheken-Alibert wurden wir fündig. Doch alle Versuche, auch das Eichhörnchen mit Ritalin zu füttern, schlugen fehl.
Was also blieb uns übrig, als es dem durchgeknallten Vieh nachzumachen und ihm zuzurufen: »KLOCK. ZCK.« Keine Reaktion. Wir wählten die Übersetzung in die Menschensprache: »Verpiss Dich!«
Das Eichhörnchen zeigte sich unbeeindruckt. Es KLOCKTE und ZCKTE weiter, ohne sich einen Deut um uns zu scheren. Voll konzentriert. So, als hätte es immer gut zugehört, wenn Oliver Kahn in Katrin Müller-Hohenstein hineingenüsselt hatte: »Im Herbst hast du als Eichhörnchen natürlich immer diesen wahnsinnigen Druck. Da musst du als Eichhörnchen natürlich immer wahnsinnig konzentriert bleiben. Da bist du als Eichhörnchen natürlich im Tunnel.«
Wir brüllten das Tier an. So wie der frühe Oliver Kahn gegnerische Mittelstürmer angebrüllt hatte, kurz bevor er ihnen die Ohren abbiss. »Ist es nicht ein zauberhafter Oktober!?« Das Eichhörnchen war voll im Tunnel. Unablässig fuhr es fort, Haselnussschalen aufzuzutzeln. KLOCK. ZCK. Sollten wir ihm die Ohren abbeißen? Wahrscheinlich hatte es sich Nüsse hineingesteckt, um nicht am Eigenlärm zugrunde zu gehen.
Uns fiel der Anfang eines Herbstgedichtes ein. »Das Eichhorn knackt die Haselnuss / und wir bekommen Tinnitus.« Nein, so ging das nicht. Daran würden wir später weiterarbeiten, wenn wir die zum Verfassen nachhaltig gültiger Lyrik erforderliche Ruhe gefunden hätten. Doch wie? Und vor allem wo? Wo könnten wir diesen Oktober genießen. Diesen herrlichen, zauberhaften Oktober?
* * *
Bestimmt wusste Gieseking Rat. Genauer: Dr. Gieseking. Dr. Bernd Gieseking ist Universalgelehrter. Eines seiner zahlreichen Spezialgebiete ist das Erforschen menschenfeindlicher Gegenden. Er promovierte 1992 an der ostwestfälischen Eliteuniversität Kutenhausen über das Thema »Vernachlässigenswerte Primärvegetation in postkommunistischen Todesstreifen«.
Wir erreichten Gieseking auf seinem icePhone 1. Das icePhone 1 ist, wie die Produktbezeichnung schon andeutet, ein Einzelstück. Zum icePhone 2 ist es nie gekommen. Giesekings selbst entwickelte, nie lizensierte und deswegen auch nie in Serie gegangene Spezialversion des berühmten Apple-Smartphones hat eine Diesel-App, funktioniert aber auch mit Handkurbelstrom, und zwar ausschließlich in Gegenden, in denen kein Netzempfang möglich ist. Wir erreichten Gieseking im nördlichsten Finnland, in Lappland. Er saß am Rande eines mit linksdrehendem Eigenurin hergestellten Eislochs und verspeiste, wie er sagte, »die erste warme Mahlzeit seit Tagen«, eine Handvoll frisch geernteter Robbenleber. Wir schilderten unser Problem. Dr. Gieseking, der als Halbwüchsiger ein zweimonatiges Berufspraktikum als Fischtreppenhausmeister in den Katakomben der Edertalsperre absolviert hatte, riet zu einem Aufenthalt im Bundesland Hessen.
»Ist von euch aus schnell zu erreichen. Wenn ihr Ruhe wollt, ist das das Sicherste. In der Nähe von Fulda gibt’s einen Ort, der ist wie für Euch gemacht, ›Sterbfritz‹. Total tote Hose. Aber nee, Moment, besser nicht, im Oktober sind da immer Theater-Festspiele auf der Freilichtbühne. Dieses Jahr inszeniert Guido Knopp die Biographie von Günter Grass, ›Ich war dabei‹. Nee, nee, bleibt mal lieber da weg. Fahrt lieber nach Nordhessen. Das ist noch näher. Und da ist echt nix. Gar nix. Noch nicht mal Guido Knopp. Absolute Ruhe. Alle Eichhörnchen sind wegen des Kulturangebotes schon lange nach Kassel oder ins Ruhrgebiet ausgewandert. Auch die Wälder sind so gut wie leer. Die nordhessische Natur hat Burnout. Nordhessen hat die deutschlandweit höchste Selbstmordrate bei Rotwild. Die letzten verbliebenen Jäger dezimieren sich gegenseitig. In Nordhessen gibt es mehr Bäume als in Lappland, aber weniger Menschen. Die Grundstückspreise sind total im Keller. Die einzigen, die da noch siedeln, sind geschäftstüchtige Grüne. Ziehen die letzten Einheimischen über den Tisch, kaufen sie aus den alten Höfen raus, machen tiptop biologisch-ökologische Luxussanierung und stellen Schilder auf: ›Draußen rauchen ist Mord am ungeborenen Baum.‹«
Gieseking hatte es jetzt eilig. Er müsse Schluss machen, das Husky-Taxi sei grad vorgefahren. Er habe gleich ein Blind-Date mit einer Läppin, die Tätowierungen mache. Sie werde ihm ein traditionelles samländisches Motiv stechen, einen Arsch ohne Geweih. »Oh, klingt interessant«, antworteten wir, aber ob ein Blind-Date für so eine Tätowierung nicht etwas unpraktisch sei. »Nein, das ist nichts Ungewöhnliches«, verabschiedete sich Gieseking, »hier am Polarkreis ist eigentlich jede Verabredung ein Blind-Date, die Sonne geht ja praktisch erst März/April wieder richtig auf. Ganz anders als in Nordhessen. Hähä, obwohl es umgekehrt ja viel gerechter wär’. Hähä, naja, egal. Wünsch’ euch viel Spaß da.«
* * *
So kamen wir nach Nordhessen. Gieseking behielt in allem recht. Hier gab es tatsächlich nichts. Nichts als Bäume. Geräuschlose Bäume. Die Kronen getupft wie von Rosamunde Pilchers Aquarellpinseln. Jedes Blatt einzeln. Ganz langsam. Tagelang. Wochen-, monate-, jahrelang. Ein Blatt nach dem anderen. Hellrot, Rostrot, Karminrot, Blutrot – äh, nein – das war kein Blattlaub, das waren die eingetrockneten Überreste eines Jägers, der die Konsequenzen gezogen hatte. In seiner Mundhöhle steckte der Lauf seiner Flinte, in seinem Hut ein Zettel. Aufschrift: »Wer das liest, ist doof. Wie kann man hier nur spazieren gehen, echt ey.« Ganz schön frech, aber wo er recht hatte, hatte er recht. Wir nickten Zustimmung und zogen weiter. Schon nach 30 Minuten Wanderung entfuhr uns ein hilfeschreiähnliches »Ist es nicht ein zauberhafter Oktober?« Doch niemand antwortete. Niemand. Nicht einmal eine Fliege. Nicht einmal der Wind. Was hätten wir jetzt für ein einziges »KLOCK ZCK«, für ein komplett rammdösiges, was hätten wir jetzt für ein Eichhörnchen im ADHS-Endstadium gegeben.
Wir wanderten weiter durch das nordhessische Vakuum. Keine Abwechslung. Immer nur nichts. In unserer Not riefen wir Gieseking an. Die Bedingungen waren gut. Es gab kein Netz. Aber er nahm nicht ab. Wahrscheinlich war der Arsch noch nicht fertig.
* * *
Nach Stunden erreichten wir eine Siedlung. Welch eine Überraschung. Lebten hier tatsächlich Menschen? Wenn ja, müssten es besserverdienende Menschen sein. Die Häuser frisch gestrichen, das Fachwerk gepflegt, die Dächer neu gedeckt. Namensschilder an den Eingängen. Schilder, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen hatten, handgefertigt aus einem Material wie aus einer fernen Zeit: Salzteig. Was war das hier? Ein Manufactum-Musterdorf? Oder ein Filmset der Degeto, der TV-Produktionsfirma, die für das greise ARD-Publikum immer diese Seifen-Streifen dreht, in denen menopausenresistente Trümmerfrauen noch mal ganz von vorne anfangen? In Afrika, in Mallorca, jetzt auch in Nordhessen? Würde gleich Christine Neubauer in Hunter-Carnaby-Gummistiefeln um die Ecke biegen und eine Schicksalsprüfung bestehen? Am Landrover einen Reifen wechseln, der Milchkuh den entzündeten Euter eincremen, in ein selbstgeschmiertes Butterbrot beißen und nicht zunehmen?
Wir warteten und warteten. Doch nichts geschah. Niemand kam. Keine Neubauer, keine Kuh, kein Butterbrot.
Dies wäre jetzt haargenau die passende Stelle für den klassischen Überbrückungssatz: »Und irgendwo bellte ein Hund.« Aber es bellte kein Hund. Es KLOCKTE noch nicht mal ein Eichhörnchen. Etwas anderes passierte. Irgendwo vibrierte ein Handy. In unserem Rucksack. Eine SMS aus Lappland: »Der Arsch ist fertig. Gleich gibt’s Essen. Mett-Igel aus Rentierhack. Wodka bis zum Augenstillstand. Hier ist gut was los. Bei Euch möcht’ ich echt nicht tot überm Zaun hängen. Bei Euch möchte’ ich noch nicht mal der Zaun sein.«
Wir simsten Gieseking einen Salmonellenvirus aufs icePhone und gingen vorsichtig weiter, Schritt für Schritt durch das leblose Geisterdorf. Dann, an einer Wegekreuzung, eine Hinweistafel: »Dorfcafé, gleich rechts um die Ecke.« Konnte das wahr sein? Sollte es hier tatsächlich eine Einkehrmöglichkeit geben?
Jawohl, gleich rechts um die Ecke ein gepflasteter kleiner Hof, darauf Tische, Stühle. Im Fachwerkhaus dahinter eine offene Tür. Das Dorfcafé. Darin ein großer, für 12 Personen eingedeckter Holztisch, an einer Wand eine Leinwand, an den anderen Wänden Regale mit Saftflaschen, fair gehandeltem Kaffee, fair gehandeltem Tee, fair geschleudertem Honig und eine Theke mit frischgebackenem Apfelkuchen. Für wen war der? Erwartete man lebendige Gäste? Außer uns lebte hier nichts. Noch nicht mal ein Wirt oder eine Wirtin. Wir setzten uns an den Tisch und lasen die Aufschrift der Speisekarte:
»Global denken – lokal handeln. Herzlich willkommen zu den Apfelpresstagen in Altenlotheim. Mit kostenlosem Beamervortrag.«
Apfelpresstage in Altenlotheim. Sollte es nicht besser Altentotheim heißen? Wo waren wir nur gelandet? Wir verwünschten und beneideten Gieseking gleichzeitig. Ein Königreich für einen Rentier-Mett-Igel. Ein Himmelreich für eine Handvoll Robbenleber. Jede heidnische Polarkreis-Sauerei in einem samländischen Darkroom würden wir jetzt diesem evangelischen Regionalsaftevent vorziehen. Hier musste man ja jeden Augenblick damit rechnen, dass Antje Vollmer um die Ecke schlappt und Marmelade für den Adventsmarkt der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel kocht.
* * *
Die ersten Teilnehmer erschienen zum kostenlosen Beamervortrag. Immerhin, Antje Vollmer war nicht dabei, aber einige sahen aus wie sehr nahe Verwandte von Fritz Kuhn und Renate Künast, also so, als würden sie regelmäßig an Presstagen teilnehmen. Als Obst.
Bevor man uns in die Gemeinde aufnehmen konnte, ergriffen wir Gegenmaßnahmen. Neinnein, die Apfelpresstage interessierten uns überhaupt nicht. Obstsäfte nähmen wir nur in gebrannter Form zu uns. Wir zündeten uns Fluppen an und quarzten in die Kuchentheke.
Wir seien Immobilienspekulanten und hätten hier ein paar Resteinheimische davon überzeugt, nach Sterbfritz umzusiedeln. Jetzt würden wir uns ein paar Tage freinehmen, um den zauberhaften Herbst zu genießen. Neinnein, nicht hier. In Frankreich, im Département Vendée. Da fänden jetzt, wie immer im Oktober, die traditionellen Entenpresstage statt. Jaja, Entenpresse, ganz recht. Eine formidable Maschine. Darin würden nach Garvorgang und Zerlegen die Entenkarkasse und das Restfleisch ausgepresst, um aus dem abfließenden Saft eine exzellente Sauce zu machen. Der berühmte ostwestfälische Universalgourmet Dr. Gieseking habe uns im vergangenen Herbst dorthin mitgenommen. Er nähme seit Jahrzehnten am Entenpressen teil und gehöre mittlerweile zum inneren Zirkel der »Lukullischen Loge«. Nun hätten auch wir eine Einladung zum feierlichen Höhepunkt des Festes erhalten. Am Reformationstag halte man sozusagen die Entenpresse-Krönungsmesse ab. Sie gipfele in der Zubereitung eines seit Epochen von Generation zu Generation weitervererbten Gerichtes, der »Blutente«. Selbstverständlich verwende man für diese Spezialität ausschließlich regionale Produkte, die berühmten Challans-Enten, streng biologisch ernährt und in Freilandhaltung aufgezogen. Die Blutente werde nicht geschlachtet, sondern erwürgt. Das habe den Vorteil, dass alles Blut in der Ente verbleibt. Nach dem anschließenden kurzen Garen werde das Tier dann zerlegt und Knochen und Fleischreste sofort in der Entenpresse ausgequetscht. Da es praktisch keinen Blutverlust erlitten habe, erhalte man so eine besonders fleischsaftige und blutige Sauce. Das alles sei natürlich nicht ganz billig. Getränke gingen exklusive. Leider kein kostenloser
Beamer-Vortrag, dafür aber sauteurer Champagner satt. Die ganze Sause pro Nase um die 3.000 Ocken. Tja, Qualität koste halt, aber das müssten wir aufgeklärten und bewussten Verbrauchern wie den Anwesenden hier ja nicht erklären.
Von allen Plätzen des Tisches schauten uns die Geschwister Ekel und Abscheu an. Wir drückten unsere Kippen auf dem geölten Vollholzboden aus, warfen ein paar 50-Euro-Scheine auf den Tisch, riefen »Spende« und wünschten allen noch einen schönen Apfelpresstag.
* * *
Die Sonne stand tief über den schweigenden Wäldern Nordhessens. Das Abendrot wies uns den Weg in die Heimat. Westwärts. Als wir unser Zuhause erreichten, leuchtete ein fahler Vollmond über den Dachfirst und warf ein fast künstliches, neonartiges Licht in den Garten. Der Haselnussbaum war komplett skelettiert. Im Mondschein stand er da wie ein Requisit aus Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Fehlte nur noch der Walkürenritt und Robert Duvall: »I love the smell of napalm in the morning.« Wir schauten auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis Allerheiligen. Ein hartes KLOCK. ZCK. Das Eichhörnchen hatte damit begonnen, den Carport des Nachbarn zu demontieren. Das Handy vibrierte. SMS von Gieseking. »Habe die finnische Staatsbürgerschaft beantragt. Werde heiraten. Tattoo etwas entzündet. Morgen will sie mir Ohren dranmachen.«
Es war wirklich ein zauberhafter Oktober. Die Kirchturmuhr schlug zwölfmal.
Endlich November.