(Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nöthig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen …)
*
18.
Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich als verwandt mit der entscheidenden und an sich werthvollen Seite des Daseins zu beweisen – wie es alle Metaphysiker thun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werthe cardinale Werthe sind. Wer Gott fahren ließ, hält umso strenger am Glauben an die Moral fest.
*
19.
Jede rein moralische Werthsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus nothwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als werthsetzend zu betrachten.
*
20.
Die Frage des Nihilismus »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von Außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer anderen Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emancipirt von der Theologie, umso imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für eine persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der sociale Instinkt (die Heerde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus acceptiren), Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der Meisten.
Man sagt sich
1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nöthig,
2. ist gar nicht möglich vorherzusehn.
Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nöthig wäre, ist er am schwächsten und kleinmüthigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens für’s Ganze.
*
21.
Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisirt in’s Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschen nicht, – er läßt sie fallen.
*
22.
Nihilismus. Er ist zweideutig:
A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.
B. Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.
*
23.
Der Nihilismus ein normaler Zustand.
Er kann ein Zeichen von Stärke sein, die Kraft des Geistes kann so angewachsen sein, daß ihr die bisherigen Ziele (»Überzeugungen«, Glaubensartikel) unangemessen sind (–: ein Glaube nämlich drückt im Allgemeinen den Zwang von Existenzbedingungen aus, eine Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen, unter denen ein Wesen gedeiht, wächst, Macht gewinnt…); andererseits ein Zeichen von nicht genügender Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben zu setzen.
Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilismus.
Sein Gegensatz wäre der müde Nihilismus, der nicht mehr angreift: seine berühmteste Form der Buddhismus: als passivischer Nihilismus, als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes kann ermüdet, erschöpft sein, sodaß die bisherigen Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden –, daß die Synthesis der Werthe und Ziele (auf der jede starke Cultur beruht) sich löst, sodaß die einzelnen Werthe sich Krieg machen: Zersetzung –, daß Alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den Vordergrund tritt, unter verschiedenen Verkleidungen, religiös, oder moralisch, oder politisch, oder ästhetisch u.s.w.
*
24.
Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß Alles werth ist zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zu Grunde … Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung, logisch zu sein … Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urtheils« stehen zu bleiben: – das Nein der That kommt aus ihrer Natur. Der Ver- Nichtsung durch das Urtheil secundirt die Ver-Nichtsung durch die Hand.
*
25.
Zur Genesis des Nihilisten. – Man hat nur spät den Muth zu Dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalismus, mit dem ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß »die Ziellosigkeit an sich« unser Glaubensgrundsatz ist.
*
26.
Der Pessimismus der Thatkräftigen: das »Wozu?« nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundertmal wichtiger ist, als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen, – und folglich auch, ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft.
*
27.
Ursachen des Nihilismus: 1) es fehlt die höhere Species, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrecht erhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)
2) die niedere Species (»Heerde«, »Masse«, »Gesellschaft«) verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werthen auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisirt: insofern nämlich die Masse herrscht, tyrannisirt sie die Ausnahmen, sodaß diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.
Alle Versuche, höhere Typen auszudenken, manquirt (»Romantik«; der Künstler, der Philosoph; gegen Carlyle’s Versuch, ihnen die höchsten Moralwerthe zuzulegen).
Widerstand gegen höhere Typen als Resultat.
Niedergang und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie« u. s. w.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maaßstab für die Höhe der Seele.
Es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der That, nicht nur der Umdichter.
*
28.
Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin.
Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem.
*
29.
Die Arten der Selbstbetäubung. – Im Innersten: nicht wissen, wohinaus? Leere, Versuch, mit Rausch darüber hinwegzukommen: Rausch als Musik, Rausch als Grausamkeit im tragischen Genuß des Zugrundegehens des Edelsten, Rausch als blinde Schwärmerei für einzelne Menschen oder Zeiten (als Haß u.s.w.). – Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft: das Auge offen machen für die vielen kleinen Genüsse, z.B. auch als Erkennender (Bescheidenheit gegen sich); die Bescheidung über sich zu generalisiren, zu einem Pathos; die Mystik, der wollüstige Genuß der ewigen Leere; die Kunst »um ihrer selber willen« (»le fait«), das »reine Erkennen« als Narkosen des Ekels an sich selber; irgend welche beständige Arbeit, irgend ein kleiner dummer Fanatismus; das Durcheinander aller Mittel, Krankheit durch allgemeine Unmäßigkeit (die Ausschweifung tödtet das Vergnügen).
1) Willensschwäche als Resultat.
2) Extremer Stolz und die Demüthigung kleinlicher Schwäche im Contrast gefühlt.
*
30.
Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Werthungen, mit dem Maaße von Energie, das eben eine solche extreme Überwerthung des Menschen im Menschen erzeugt hat.
Jetzt ist Alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:
a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Socialismus: »Gleichheit der Person«);
b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens-Verneinung);
c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;
d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;
e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: sodaß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);
f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;
g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –
*
31.
Es gab denkendere und zerdachtere Zeiten, als die unsere ist: Zeiten, wie z.B. jene, in der Buddha auftrat, wo das Volk selbst, nach Jahrhunderte alten Sekten-Streitigkeiten, sich endlich so tief in die Klüfte der philosophischen Lehrmeinungen verirrt fand, wie zeitweilig europäische Völker in Feinheiten des religiösen Dogma’s. Man wird sich am wenigsten wohl durch die »Litteratur« und die Presse dazu verführen lassen, vom »Geiste« unsrer Zeit groß zu denken: die Millionen Spiritisten und ein Christenthum mit Turnübungen von jener schauerlichen Häßlichkeit, die alle englischen Erfindungen kennzeichnet, giebt bessere Gesichtspunkte.
Der europäische Pessimismus ist noch in seinen Anfängen – ein Zeugniß gegen sich selber –: er hat noch nicht jene ungeheure, sehnsüchtige Starrheit des Blicks, in welchem das Nichts sich spiegelt, wie er sie einmal in Indien hatte; es ist noch zu viel »Gemachtes« und nicht »Gewordenes« daran, zu viel Gelehrten- und Dichter-Pessimismus: ich meine, ein gutes Theil darin ist hinzu erdacht und hinzu erfunden, ist »geschaffen«, aber nicht »Ursache«.
*
32.
Kritik des bisherigen Pessimismus. – Abwehr der eudämonologischen Gesichtspunkte als letzte Reduktion auf die Frage: welchen Sinn hat es? Reduktion der Verdüsterung. –
Unser Pessimismus: die Welt ist nicht Das werth, was wir glaubten, – unser Glaube selber hat unsre Triebe nach Erkenntniß so gesteigert, daß wir dies heute sagen müssen. Zunächst gilt sie damit als weniger werth: sie wird so zunächst empfunden, – nur in diesem Sinne sind wir Pessimisten, nämlich mit dem Willen, uns rückhaltlos diese Umwerthung einzugestehen und uns nichts nach alter Weise vorzuleiern, vorzulügen.
Gerade damit finden wir das Pathos, welches uns treibt, neue Werthe zu suchen. In summa,: die Welt könnte viel mehr werth sein, als wir glaubten, – wir müssen hinter die Naivetät unsrer Ideale kommen, und daß wir vielleicht im Bewußtsein, ihr die höchste Interpretation zu geben, unserm menschlichen Dasein nicht einmal einen mäßig-billigen Werth gegeben haben.
Was ist vergöttert worden? – Die Werthinstinkte innerhalb der Gemeinde (Das, was deren Fortdauer ermöglichte).
Was ist verleumdet worden? – Das, was die höheren Menschen abtrennte von den niederen, die Klüfte-schaffenden Triebe.
*
33.
Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus:
1. daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher verleumdet sind, sodaß das Leben einen Fluch über sich hat;
2. daß die wachsende Tapferkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben begreift und dem Leben sich entgegenwendet: 3. daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen Konflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere Art mißräth und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt, – daß, andererseits, das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, indignirt (– daß Niemand ein Wozu? mehr beantworten kann –); 4. daß die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt, – daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens, der sogenannten »Civilisation«, immer leichter wird, daß der Einzelne angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.
*
34.
Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.
*
35.
Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus …
Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt, als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.
Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesündere Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben, ein Nöthig-Haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«; »warum sind die Thränen?« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise. »Un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux.«
*
36.
Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Wer woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maaß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. ES läuft auf die absurde Werthung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zu Recht bestehen soll …
Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils für uns unlösbar ist. –
*
37.
Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der Werthe. Die Werthe, losgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend gegen das Thun.
Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich.
Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, werthvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit.
Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werthe übrig behalten – und nichts weiter!
Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1. die Schwachen zerbrechen daran;
2. die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;
3. die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.
Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.
*
38
Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man redet überall von »Pessimismus«, man kämpft um die Frage, auf die es Antworten geben müsse, wer Recht habe, der Pessimismus oder der Optimismus.
Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden müsse durch »Nihilismus«, – daß die Frage, ob Nichtsein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergangs-Unzeichen, eine Idiosynkrasie ist.
Die nihilistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence.
*
39
Zu begreifen: – Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den Gesammt-Werthurtheilen mitgearbeitet hat: daß in den herrschend gewordnen Werthurtheilen die décadence sogar zum Übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen haben, sondern alle bisherige décadence rückständig, das heißt lebendig geblieben ist. Eine solche Gesammt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche Gesammt-décadence des Werthurtheils ist das Fragezeichen par excellence, das eigentliche Räthsel, das das Thier »Mensch« dem Philosophen aufgiebt.
*
40
Begriff »décadence«. – Der Abfall, verfall, Ausschuß ist Nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffenen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird.
Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse… Aber das heißt das Leben verurtheilen … Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, umso reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, umso näher dem Niedergang sein… Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.
*
41
Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen.
Damit verändert sich die ganze Perspektive der moralischen Probleme.
Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivetät, als überflüssig: – es giebt keine »Besserung« (gegen die Reue).
Die décadence selbst ist Nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut nothwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Contagiums in die gesunden Theile des Organismus.
Thut man das? Man thut das Gegentheil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität. – Wie verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werthe? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.
(Die Cur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Civilisation seine natürliche Feindin sah.)
*
42.
Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen.
Aber auch, was man als Heilmittel gegen die Entartung betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen derselben: die »Geheilten« sind nur ein Typus der Degenerirten.
Folgen der décadence: das Laster – die Lasterhaftigkeit; die Krankheit – die Krankhaftigkeit; das Verbrechen – die Criminalität; das Cölibat – die Sterilität; der Hysterismus – die Willensschwäche; der Alkoholismus; der Pessimismus; der Anarchismus; die Libertinage (auch die geistige). Die Verleumder, Untergraber, Anzweifler, Zerstörer.
*
43.
Zum Begriff »décadence«.
1) Die Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie die Libertinage des Geistes.
2) Die Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence (Schwäche des Willens, Bedürfniß starker Reizmittel –).
3) Die Curmethoden, die psychologischen und moralischen, verändern nicht den Gang der décadence, sie halten nicht auf, sie sind physiologisch null –:
Einsicht in die große Nullität dieser anmaßlichen »Reaktionen«; es sind Formen der Narkotisirung gegen gewisse fatale Folge-Erscheinungen; sie bringen das morbide Element nicht heraus; sie sind oft heroische Versuche, den Menschen der décadence zu annulliren, ein Minimum seiner Schädlichkeit durchzusetzen.
4) Der Nihilismus ist keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence.
5) Der »Gute« und der »Schlechte« sind nur zwei Typen der décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.
6) Die sociale Frage ist eine Folge der décadence.
?) Die Krankheiten, vor allen die Nerven- und Kopfkrankheiten, sind Anzeichen, daß die Defensiv-Kraft der starken Natur fehlt; ebendafür spricht die Irritabilität, sodaß Lust und Unlust die Vordergrunds-Probleme werden.
*
44
Allgemeinste Typen der décadence
1) man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen, Das, was die Erschöpfung beschleunigt; – dahin gehört das Christenthum (um den größten Fall des fehlgreifenden Instinkts zu nennen); – dahin gehört der »Fortschritt« –
2) man verliert die Widerstands-Kraft gegen die Reize, – man wird bedingt durch die Zufälle: man vergröbert und vergrößert die Erlebnisse in’s Ungeheure… eine »Entpersönlichung«, eine Disgregation des Willens; – dahin gehört eine ganze Art Moral, die altruistische, die, welche das Mitleiden im Munde führt: an der das Wesentliche die Schwäche der Persönlichkeit ist, sodaß sie mitklingt und wie eine überreizte Saite beständig zittert … eine extreme Irritabilität …
3) man verwechselt Ursache und Wirkung: man versteht die décadence nicht als physiologisch und sieht in ihren Folgen die eigentliche Ursache des Sich-schlecht-befindens; – dahin gehört die ganze religiöse Moral …
4) man ersehnt einen Zustand, wo man nicht mehr leidet: das Leben wird thatsächlich als Grund zu Übeln empfunden, – man taxirt die bewußtlosen, gefühllosen Zustände (Schlaf, Ohnmacht) unvergleichlich werthvoller, als die bewußten; daraus eine Methodik …
*
45.
Zur Hygiene der »Schwachen«. – Alles, was in der Schwäche gethan wird, mißräth. Moral: Nichts thun. Nur ist das Schlimme, daß gerade die Kraft, das Thun auszuhängen, nicht zu reagiren, am stärksten krank ist unter dem Einfluß der Schwäche: daß man nie schneller, nie blinder reagirt als dann, wenn man gar nicht reagiren sollte …
Die Stärke einer Natur zeigt sich im Abwarten und Aufschieben der Reaktion: eine gewisse άδιαφορία ist ihr so zu eigen, wie der Schwäche die Unfreiheit der Gegenbewegung, die Plötzlichkeit, Unhemmbarkeit der »Handlung« … Der Wille ist schwach: und das Recept, um dumme Sachen zu verhüten, wäre, starken Willen zu haben und Nichts zu thun – Contradictio. Eine Art Selbstzerstörung, der Instinkt der Erhaltung ist compromittirt … Der Schwache schadet sich selber … Das ist der Typus der décadence…
Tatsächlich finden wir ein ungeheures Nachdenken über Praktiken, die Impassibilität zu provociren. Der Instinkt ist insofern auf richtiger Spur, als Nichts thun nützlicher ist, als Etwas thun …
Alle Praktiken der Orden, der solitären Philosophen, der Fakirs sind von dem richtigen Werthmaaße eingegeben, daß eine gewisse Art Mensch sich noch am meisten nützt, wenn sie sich so viel wie möglich hindert, zu handeln –
Erleichterungsmittel: der absolute Gehorsam, die machinale Thätigkeit, die Separation von Menschen und Dingen, welche ein sofortiges Entschließen und Handeln fordern würden.
*
46.
Schwäche des Willens: das ist ein Gleichniß, das irreführen kann. Denn es giebt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen. Die Vielheit und Disgregation der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultirt als »schwacher Wille«; die Koordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen resultirt als »starker Wille«; – im erstern Falle ist es das Oscilliren und der Mangel an Schwergewicht; im letztern die Präcision und Klarheit der Richtung.
*
47.
Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u. s. w., die gebrochene Widerstandskraft; moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demuth vor dem Feinde.
Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werthe der bisherigen Philosophie, Moral und Religion mit den Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form, dieselben Übel dar …
Der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal, aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen …
Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediciner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das zu Nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zustand (Claude Bernard).
So gut »das Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.
Die erbliche Schwäche, als dominirendes Gefühl: Ursache der obersten Werthe.
NB. Man will Schwäche: warum? … meistens, weil man nothwendig schwach ist.
– Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Begehrungen, der Lust- und Unlustgefühle, des Willens zur Macht, zum Stolzgefühl, zum Haben- und Mehr-haben-wollen; die Schwächung als Demuth; die Schwächung als Glaube; die Schwächung als Widerwille und Scham an allem Natürlichen, als Verneinung des Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche … die Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.
Der Fehlgriff in der Behandlung: man will die Schwäche nicht bekämpfen durch ein système fortifiant, sondern durch eine Art Rechtfertigung und Moralisirung: d. h. durch eine Auslegung …