a. Skizze des sechsten Vortrags (Optimistisch-hoffnungsvoll).
(Frühling 1872)
Mein Freund entgegen gegangen.
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Früher nur auf Ruinen.
Jetzt Einflüsse aus der metaphysischen Wirkung des Kriegs zu erhoffen.
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Rede auf Beethoven.
Aufgabe: die zu ihm gehörige Cultur zu finden.
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Vorletzte Scene:
Wie der Einzelne sich bilden müsse.
Wie allein möglich?
Einsiedlerthum. Kampf.
Eine Erzählung.
Zwei Meister (Schopenhauer, Wagner).
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Die letzte Szene als Anticipation der Zukunftsanstalt.
»Die Flamme reinigt sich vom Rauch«
Pereat diabolus atque irrisores.
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Die Zukunftsrede. Aufruf an die wahren »Lehrer«.
Die momentane Erfüllung der Zukunft.
Der Schwur um Mitternacht. Vehmgericht.
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b. Zum sechsten und siebenten Vortrag (Enttäuscht-pessimistisch).
(Herbst 1872.)
VI. und VII. Vortrag. Contrast des Künstlers (Litterat) und des Philosophen. Der Künstler ist entartet. Kampf. Die Studenten bleiben auf der Seite des Litteraten.
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Der Philosoph hatte zuletzt stehend, am Pentagramm gesprochen, niederblickend. Jetzt heller Glanz unten am Walde. Wir führen ihn entgegen. Begrüßung. Inzwischen errichten die Studenten einen Holzstoß.
Zuerst nur privates Zwiegespräch abseits. »Warum so spät?« Der eben gehabte Triumph – Erzählung.
Der Philosoph traurig: er glaubt nicht an diesen Triumph und setzt einen Zwang voraus bei dem Andern, dem er nachgeben mußte. »Für uns giebt es doch wohl hier keine Täuschung?« Er erinnert an ihre jugendliche Übereinstimmung. Der Andre verräth sich als bekehrt, als Realist. Immer größere Enttäuschung des Philosophen.
Die Studenten holen den Andern an den flammenden Holzstoß, um zu reden. Er spricht über den jetzigen deutschen Geist (Popularisirung, Presse, Selbständigkeit, in Reih und Glied, historisch, Arbeit für die Nachwelt (nicht reif werden), der deutsche Gelehrte als Blüthe, Naturwissenschaft).
– »Du lügst«! Heftige Entgegnung des Philosophen. Unterschied von Deutsch und Afterdeutsch: Hast, Unreife, der Journalist, gebildete Vorträge, keine Gesellschaft, Hoffnung auf Naturwissenschaft. Die Bedeutung der Geschichte. Höhnisches Siegesbewußtsein – wir die Sieger, uns dient alle Erziehung, jede nationale Erregung dient uns (Universität Straßburg). Hohn auf Schiller-Goethe-Zeit.
Protest gegen diese Ausnutzung großer nationaler Erregungen: keine neuen Universitäten. Je mehr aber jener Geist überhandnimmt und die einbrechende Barbarei, um so sicherer werden die kräftigsten Naturen bei Seite gedrängt, zur Vereinigung gezwungen. Gefahr der Vereinzelung grenzenlos. Schilderung der Zukunft dieser Vereinigung. Schwerer Seufzer; woher Ausgangspunkt? Gebet um einen Keim der Rettung. Hindeutung auf die neue Kunst.
Der Holzstoß bricht zusammen. Er ruft: »Heil diesen Wünschen!« Mitternachtsglocke.
Gegenantwort: »Fluch diesen Wünschen.«
Höhnisches Abziehen der Studenten: pereat diabolus atque irrisores.
Schmerzlicher Verzicht auf den alten Freund.
Wir sind erschüttert und beschämt.
Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch.
(1872.)
Im lieben niederträchtigen Deutschland liegt jetzt die Bildung so verkommen auf den Straßen, regiert die Scheelsucht auf alles Große so schamlos und tönt der allgemeine Tumult der zum »Glücke« Rennenden so ohrbetäubend, daß man einen starken Glauben, fast im Sinne des credo quia absurdum est, haben muß, um hier auf eine werdende Cultur doch noch hoffen und vor Allem für dieselbe – öffentlich lehrend, im Gegensatze zu der »öffentlich meinenden« Presse – arbeiten zu können. Mit Gewalt müssen Die, denen die unsterbliche Sorge um das Volk am Herzen liegt, sich von den auf sie einstürmenden Eindrücken des gerade jetzt Gegenwärtigen und Geltenden befreien und den Schein erregen, als ob sie dasselbe den gleichgültigen Dingen zurechneten. Sie müssen so scheinen, weil sie denken wollen, und weil ein widerlicher Anblick und ein verworrener, wohl gar mit den Trompetenstößen des Kriegsruhms gemischter Lärm ihr Denken stört, vor Allem aber, weil sie an das Deutsche glauben wollen und mit diesem Glauben ihre Kraft verlieren würden. Verargt es diesen Gläubigen nicht, wenn sie sehr aus der Entfernung und von oben herab nach dem Lande ihrer Verheißungen hinschauen! Sie scheuen sich vor den Erfahrungen, denen der wohlwollende Ausländer sich preisgiebt, wenn er jetzt unter Deutschen lebt und sich verwundern muß, wie wenig das deutsche Leben jenen großen Individuen, Werken und Handlungen entspricht, die er, in seinem Wohlwollen, als das eigentlich Deutsche zu verehren gelernt hat. Wo sich der Deutsche nicht in’s Große erheben kann, macht er einen weniger als mittelmäßigen Eindruck. Selbst die berühmte deutsche Wissenschaft, in der eine Anzahl der nützlichsten häuslichen und familienhaften Tugenden, Treue, Selbstbeschränkung, Fleiß, Bescheidenheit, Reinlichkeit, in eine freiere Luft versetzt und gleichsam verklärt erscheint, ist doch keineswegs das Resultat dieser Tugenden; aus der Nähe betrachtet sieht das zu unbeschränktem Erkennen antreibende Motiv in Deutschland einem Mangel, einem Defekte, einer Lücke viel ähnlicher als einem Überfluß von Kräften, fast wie die Folge eines dürftigen formlosen unlebendigen Lebens und selbst wie eine Flucht vor der moralischen Kleinlichkeit und Bosheit, denen der Deutsche, ohne solche Ableitungen, unterworfen ist, und die auch, trotz der Wissenschaft, ja noch in der Wissenschaft des öfteren hervorbrechen. Auf die Beschränktheit, im Leben, Erkennen und Beurtheilen, verstehen sich die Deutschen als wahre Virtuosen des Philisterhaften; will sie Einer über sie hinaus in’s Erhabene tragen, so machen sie sich schwer wie Blei, und als solche Bleigewichte hängen sie an ihren wahrhaft Großen, um diese aus dem Äther zu sich und zu ihrer dürftigen Bedürftigkeit herabzuziehen. Vielleicht mag diese Philister-Gemüthlichkeit nur Entartung einer ächten deutschen Tugend sein – einer innigen Versenkung in das Einzelne, Kleine, Nächste und in die Mysterien des Individuums – aber diese verschimmelte Tugend ist jetzt schlimmer als das offenbarste Laster; besonders seitdem man sich nun gar dieser Eigenschaft, bis zur litterarischen Selbstglorifikation, von Herzen froh bewußt geworden ist. Jetzt schütteln sich die » Gebildeten«, unter den bekanntlich so cultivirten Deutschen, und die » Philister«, unter den bekanntlich so uncultivirten Deutschen, öffentlich die Hände und treffen eine Abrede mit einander, wie man fürderhin schreiben, dichten, malen, musiciren und selbst Philosophiren, ja regieren müsse, um weder der »Bildung« des Einen zu ferne zu stehen, noch der »Gemüthlichkeit« des Andern zu nahe zu treten. Dies nennt man jetzt »die deutsche Cultur der Jetztzeit«; wobei nur noch zu erfragen wäre, an welchem Merkmale jener »Gebildete« zu erkennen ist, nachdem wir wissen, daß sein Milchbruder, der deutsche Philister, sich jetzt selbst, ohne Verschämtheit, gleichsam nach verlorner Unschuld, aller Welt als solchen zu erkennen giebt.
Der Gebildete ist jetzt vor Allem historisch gebildet: durch sein historisches Bewußtsein rettet er sich vor dem Erhabenen; was dem Philister durch seine »Gemüthlichkeit« gelingt. Nicht mehr der Enthusiasmus, den die Geschichte erregt – wie doch Goethe vermeinen durfte – sondern gerade die Abstumpfung alles Enthusiasmus ist jetzt das Ziel dieser Bewunderer des nil admirari, wenn sie Alles historisch zu begreifen suchen; ihnen müßte man aber zurufen: »Ihr seid die Narren aller Jahrhunderte! Die Geschichte wird euch nur die Bekenntnisse machen, die eurer würdig sind! Die Welt ist zu allen Zeiten voll von Trivialitäten und Nichtigkeiten gewesen: eurem historischen Gelüste entschleiern sich eben diese und gerade nur diese. Ihr könnt zu Tausenden über eine Epoche herfallen – ihr werdet nachher hungern wie zuvor und euch eurer Art angehungerter Gesundheit rühmen dürfen. Illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur. (Dialogus de oratoribus cap. 25). Alles Wesentliche hat euch die Geschichte nicht sagen mögen, sondern höhnend und unsichtbar stand sie neben euch, Dem eine Staatsaktion, Jenem einen Gesandtschaftsbericht, einem Andern eine Jahreszahl oder eine Etymologie oder ein pragmatisches Spinnengewebe in die Hand drückend. Glaubt ihr wirklich, die Geschichte zusammenrechnen zu können wie ein Additionsexempel und haltet ihr dafür euren gemeinen Verstand und eure mathematische Bildung für gut genug? Wie muß es euch verdrießen zu hören, daß Andre von Dingen erzählen, aus den allerbekanntesten Zeiten heraus, die ihr nie und nimmer begreifen werdet!«
Wenn nun zu dieser historisch sich nennenden, der Begeisterung baaren Bildung und zu der gegen alles Große feindseligen und geifernden Philisterthätigkeit noch jene dritte brutale und aufgeregte Genossenschaft kommt – Derer die zum »Glücke« rennen –, so giebt das in summa ein so verwirrtes Geschrei und ein so gliederverrenkendes Getümmel, daß der Denker mit verstopften Ohren und verbundenen Augen in die einsamste Wildniß flüchtet – dorthin wo er sehen darf, was Jene nie sehen werden, wo er hören muß, was aus allen Tiefen der Natur und von den Sternen her zu ihm tönt. Hier beredet er sich mit den an ihn heranschwebenden großen Problemen, deren Stimmen freilich ebenso ungemüthlich-furchtbar, als unhistorisch-ewig erklingen. Der Weichliche flieht vor ihrem, kalten Athem zurück, und der Rechnende läuft durch sie hindurch, ohne sie zu spüren. Am schlimmsten aber ergeht es mit ihnen dem »Gebildeten«, der sich mitunter in seiner Art ernstliche Mühe um sie giebt. Für ihn verwandeln sich diese Gespenster in Begriffsgespinnste und hohle Klangfiguren. Nach ihnen greifend wähnt er die Philosophie zu haben, nach ihnen zu suchen klettert er an der sogenannten Geschichte der Philosophie herum – und wenn er sich endlich eine ganze Wolke von solchen Abstraktionen und Schablonen zusammengesucht und aufgethürmt hat, so mag es ihm begegnen, daß ein wahrer Denker ihm in den Weg tritt und sie – wegbläst. Verzweifelte Ungelegenheit, sich als »Gebildeter« mit Philosophie zu befassen! Von Zeit zu Zeit scheint es ihm zwar, als ob die unmögliche Verbindung der Philosophie mit Dem, was sich jetzt als »deutsche Cultur« brüstet, möglich geworden sei; irgend ein Zwittergeschöpf tändelt und liebäugelt zwischen beiden Sphären herum und verwirrt hüben und drüben die Phantasie, Einstweilen ist aber den Deutschen, wenn sie sich nicht verwirren lassen wollen, ein Rath zu geben. Sie mögen bei Allem, was sie jetzt »Bildung« nennen, sich fragen: ist dies die erhoffte deutsche Cultur, so ernst und schöpferisch, so erlösend für den deutschen Geist, so reinigend für die deutschen Tugenden, daß sich ihr einziger Philosoph in diesem Jahrhundert, Arthur Schopenhauer, zu ihr bekennen müßte?
Hier habt ihr den Philosophen – nun sucht die zu ihm gehörige Cultur! Und wenn ihr ahnen könnt, was das für eine Cultur sein müßte, die einem solchen Philosophen entspräche, nun, so habt ihr, in dieser Ahnung, bereits über alle eure Bildung und über euch selbst – gerichtet! –
(1873.)
(Vermutlich 1874.)
Bei fern stehenden Menschen genügt es uns, ihre Ziele zu wissen, um sie im Ganzen zu billigen oder zu verwerfen. Bei näher stehenden urtheilen wir nach den Mitteln, mit denen sie ihre Ziele fördern: oft mißbilligen wir ihre Ziele, lieben sie aber wegen der Mittel und der Art ihres Wollens. Nun sind philosophische Systeme nur für ihre Gründer ganz wahr: für alle späteren Philosophen gewöhnlich ein großer Fehler, für die schwächeren Köpfe eine Summe von Fehlern und Wahrheiten, als höchstes Ziel jedenfalls aber ein Irrthum, insofern verwerflich. Deshalb mißbilligen viele Menschen jeden Philosophen, weil sein Ziel nicht das Ihre ist; es sind die ferner stehenden. Wer dagegen an großen Menschen überhaupt seine Freude hat, hat auch seine Freude an solchen Systemen, seien sie auch ganz irrthümlich: sie haben doch einen Punkt an sich, der ganz unwiderleglich ist, eine persönliche Stimmung, Farbe; man kann sie benutzen, um das Bild des Philosophen zu gewinnen: wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schließen kann. Die Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich: das »System« ist das Gewächs dieses Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems – –
Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht: ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen, Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat: es ist ein Anfang, um jene Naturen durch Vergleichung wiederzugewinnen und nachzuschaffen und die Polyphonie der griechischen Natur endlich einmal wiedererklingen zu lassen: die Aufgabe ist, Das an’s Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren müssen und was uns durch keine spätere Erkenntniß geraubt werden kann: der große Mensch.
(Gegen Ende 1879.)
Dieser Versuch, die Geschichte der älteren griechischen Philosophen zu erzählen, unterscheidet sich von ähnlichen Versuchen durch die Kürze. Diese ist dadurch erreicht worden, daß bei jedem Philosophen nur eine ganz geringe Anzahl seiner Lehren erwähnt wurde, also durch Unvollständigkeit. Es sind aber die Lehren ausgewählt worden, in denen das Persönliche eines Philosophen am Stärksten nachklingt, während eine vollständige Aufzählung aller möglichen überlieferten Lehrsätze, wie sie in den Handbüchern Sitte ist, jedenfalls Eins zu Wege bringt, das völlige Verstummen des Persönlichen. Dadurch werden jene Berichte so langweilig: denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anekdoten herauszuheben, und gebe das Übrige preis.
Es giebt Gegner der Philosophie: und man thut wohl auf sie zu hören, sonderlich wenn sie den ertränkten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerrathen, ihnen aber Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heilung durch die Musik, wie Richard Wagner, predigen. Die Ärzte des Volkes verwerfen die Philosophie; wer diese also rechtfertigen will, mag zeigen, wozu die gesunden Völker die Philosophie brauchen und gebraucht haben. Vielleicht gewinnen, falls er dies zeigen kann, selbst die Kranken die ersprießliche Einsicht, warum gerade ihnen dieselbe schädlich sei. Es giebt zwar gute Beispiele einer Gesundheit, die ganz ohne Philosophie oder bei einem ganz mäßigen, fast spielerischen Gebrauche derselben bestehen kann; so lebten die Römer in ihrer besten Zeit ohne Philosophie. Aber wo fände sich das Beispiel der Erkrankung eines Volkes, dem die Philosophie die verlorne Gesundheit wiedergegeben hätte? Wenn sie je helfend, rettend, vorschützend sich äußerte, dann war es bei Gesunden, die Kranken machte sie stets noch kränker. War je ein Volk zerfasert und in schlaffer Spannung mit seinen Einzelnen verbunden, nie hat die Philosophie diese Einzelnen enger an das Ganze zurückgeknüpft. War je Einer gewillt abseits zu stehen und um sich den Zaun der Selbstgenugsamkeit zu ziehen, immer war die Philosophie bereit, ihn noch mehr zu isoliren und durch Isolation zu zerstören. Sie ist gefährlich, wo sie nicht in ihrem vollen Rechte ist: und nur die Gesundheit eines Volkes, aber auch nicht jedes Volkes, giebt ihr dieses Recht.
Schauen wir uns jetzt nach jener höchsten Auktorität für Das um, was an einem Volke gesund zu heißen hat. Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben ein für allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch, daß sie philosophirt haben; und zwar viel mehr als alle anderen Völker. Sie konnten nicht einmal zur rechten Zeit aufhören; denn noch im dürren Alter gebärdeten sie sich als hitzige Verehrer der Philosophie, ob sie schon unter ihr nur die frommen Spitzfindigkeiten und die hochheiligen Haarspaltereien der christlichen Dogmatik verstanden. Dadurch, daß sie nicht zur rechten Zeit aufhören konnten, haben sie selbst ihr Verdienst um die barbarische Nachwelt sehr verkürzt, weil diese, in der Unbelehrtheit und dem Ungestüm ihrer Jugend, sich gerade in jenen künstlich gewebten Netzen und Stricken verfangen mußte.
Dagegen haben die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu Philosophiren anfangen müsse, geben sie so deutlich, wie kein anderes Volk. Nicht nämlich erst in der Trübsal: was wohl Einige vermeinen, die die Philosophie aus der Verdrießlichkeit ableiten. Sondern im Glück, in einer reifen Mannbarkeit, mitten heraus aus der feurigen Heiterkeit des tapferen und siegreichen Mannesalters. Daß in dieser Zeit die Griechen philosophirt haben, belehrt uns ebenso über Das, was die Philosophie ist und was sie soll, als über die Griechen selbst. Wären jene damals solche nüchterne und altkluge Praktiker und Heiterlinge gewesen, wie es sich der gelehrte Philister unserer Tage wohl imaginirt, oder hätten sie nur in einem schwelgerischen Schweben, Klingen, Athmen und Fühlen gelebt, wie es wohl der ungelehrte Phantast gerne annimmt, so wäre die Quelle der Philosophie gar nicht bei ihnen an’s Licht gekommen. Höchstens hätte es einen bald im Sande verrieselnden oder zu Nebeln verdunstenden Bach gegeben, nimmermehr aber jenen breiten, mit stolzem Wellenschlage sich ergießenden Strom, den wir als die griechische Philosophie kennen.
Zwar hat man mit Eifer darauf hingezeigt, wie viel die Griechen im orientalischen Auslande finden und lernen konnten, und wie mancherlei sie wohl von dort geholt haben. Freilich gab es ein wunderliches Schauspiel, wenn man die angeblichen Lehrer aus dem Orient und die möglichen Schüler aus Griechenland zusammenbrachte und jetzt Zoroaster neben Heraklit, die Inder neben den Eleaten, die Ägypter neben Empedokles, oder gar Anaxagoras unter den Juden und Pythagoras unter den Chinesen zur Schau stellte. Im Einzelnen ist wenig ausgemacht worden; aber den ganzen Gedanken ließen wir uns schon gefallen, wenn man uns nur nicht mit der Folgerung beschwert, daß die Philosophie somit in Griechenland nur importirt und nicht aus natürlichem heimischem Boden gewachsen sei, ja daß sie, als etwas Fremdes, die Griechen wohl eher ruinirt als gefördert habe. Nichts ist thörichter, als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen, sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden, den Speer von dort weiter zu schleudern, wo ihn ein anderes Volk liegen ließ. Sie sind bewunderungswürdig in der Kunst, fruchtbar zu lernen: und so, wie sie, sollen wir von unsern Nachbarn lernen, zum Leben, nicht zum gelehrtenhaften Erkennen, alles Erlernte als Stütze benutzend, auf der man sich hoch und höher als der Nachbar schwingt. Die Fragen nach den Anfängen der Philosophie sind ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Häßliche, und in allen Dingen kommen nur die höheren Stufen in Betracht. Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer und persischer abgiebt, weil Jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie Diejenigen, welche sich über die griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können, als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne, Blitz, Wetter und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben, und welche zum Beispiel in der beschränkten Anbetung des einen Himmelsgewölbes bei den anderen Indogermanen eine reinere Form der Religion wiedergefunden zu haben wähnen, als die polytheistische der Griechen gewesen sei. Der Weg zu den Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis; ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie Das, was sie lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der Cultur und mit den Zielen der Cultur philosophirt und deshalb ersparten sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern giengen sofort darauf los, diese übernommenen Elemente so zu erfüllen, zu steigern, zu erheben und zu reinigen, daß sie jetzt erst in einem höheren Sinne und in einer reineren Sphäre zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzu erfunden.
Jedes Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophengesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales, Anaximander, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und Sokrates. Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit. Es fehlt für sie jede Convention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie Alle sind in großartiger Einsamkeit als die Einzigen, die damals nur der Erkenntniß lebten. Sie Alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis in’s Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden. Denn keine Mode kam ihnen hülfreich und erleichternd entgegen. So bilden sie zusammen Das, was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.
Von diesem hohen Geistergespräch habe ich mir vorgesetzt zu erzählen, was unsre moderne Harthörigkeit etwa davon hören und verstehen kann: das heißt gewiß das Allerwenigste. Es scheint mir, daß jene alten Weisen von Thales bis Sokrates, in ihm alles Das, wenn auch in allgemeinster Form, besprochen haben, was für unsre Betrachtung das Eigenthümlich-Hellenische ausmacht. Sie prägen in ihrem Gespräche wie schon in ihren Persönlichkeiten die großen Züge des griechischen Genius aus, deren schattenhafter Abdruck, deren verschwommene und deshalb undeutlicher redende Copie die ganze griechische Geschichte ist. Wenn wir das gesammte Leben des griechischen Volkes richtig deuteten, immer würden wir doch nur das Bild wiedergespiegelt finden, das in seinen höchsten Genien mit lichteren Farben strahlt. Gleich das erste Erlebniß der Philosophie auf griechischem Boden, die Sanktion der sieben Weisen, ist eine deutliche und unvergeßliche Linie am Bilde des Hellenischen. Andre Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise. Man hat mit Recht gesagt, daß ein Volk nicht sowohl durch seine großen Männer charakterisirt werde, als durch die Art, wie es dieselben erkenne und ehre. In anderen Zeiten ist der Philosoph ein zufälliger einsamer Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. Allein bei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig: wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und gleichsam aus der Höhle des Trophonios mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück, den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt, zu demselben Zwecke, zu dem in jenen Jahrhunderten die Tragödie geboren wurde und den die orphischen Mysterien in den grotesken Hieroglyphen ihrer Gebräuche zu verstehen geben. Das Urtheil jener Philosophen über das Leben und das Dasein überhaupt besagt so sehr viel mehr als ein modernes Urtheil, weil sie das Leben in einer üppigen Vollendung vor sich hatten und weil bei ihnen nicht, wie bei uns, das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalt des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur fragt: Was ist das Leben überhaupt werth? Die Aufgabe, die der Philosoph innerhalb einer wirklichen, nach einheitlichem Stile gearteten Cultur zu erfüllen hat, ist aus unsern Zustünden und Erlebnissen deshalb nicht rein zu errathen, weil wir keine solche Cultur haben. Sondern nur eine Cultur, wie die griechische, kann die Frage nach jener Aufgabe des Philosophen beantworten, nur sie kann, wie ich sagte, die Philosophie überhaupt rechtfertigen, weil sie allein weiß und beweisen kann, warum und wie der Philosoph nicht ein zufälliger, beliebiger, bald hier-, bald dorthin versprengter Wanderer ist. Es giebt eine stählerne Nothwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Cultur fesselt: aber wie, wenn diese Cultur nicht vorhanden ist? Dann ist der Philosoph ein unberechenbarer und darum Schrecken einflößender Komet, während er im guten Falle als ein Hauptgestirn im Sonnensysteme der Cultur leuchtet. Deshalb rechtfertigen die Griechen den Philosophen, weil er allein bei ihnen kein Komet ist.