Czytaj książkę: «Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer», strona 8

Czcionka:

Stu­der wur­de auf­merk­sam.

– Wann denn das Auto fort­ge­kom­men sei? er­kun­dig­te er sich. – Ges­tern Abend, war die Ant­wort. Er habe es hier vor dem ›Bä­ren‹ ste­hen las­sen, aber wie er dann um Mit­ter­nacht habe heim­wol­len, sei es fort­ge­we­sen. Er habe ver­ges­sen, es ab­zu­schlie­ßen.

Stu­der fluch­te in­ner­lich. Nicht ein­mal auf den Mur­mann war Ver­lass. Wa­rum hat­te der Land­jä­ger ihm das nicht er­zählt?

– Er kom­me gleich wie­der zu­rück, sag­te Äsch­ba­cher und ging mit der Wir­tin. Sei­nen di­cken Bauch trug er vor sich her wie ein Hau­sie­rer das Brett, auf dem er sei­ne Wa­ren aus­ge­legt hat.

Der alte El­len­ber­ger war plötz­lich wie­der der sehr vor­neh­me Freund des Re­si­den­ten, er re­de­te sein ge­pfleg­tes Fran­zö­sisch und gab Stu­der zu ver­ste­hen, er müs­se sich vor dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten in acht neh­men.

Stu­der er­wi­der­te, er habe ge­meint, der Äsch­ba­cher sei düm­mer als ein zwei­tä­gi­ges Kalb?

Das sei nur eine Re­dens­art ge­we­sen, mein­te El­len­ber­ger und ließ die Kar­ten in ei­ner Kas­ka­de auf den Tisch sprü­hen. Er sei nicht dumm, der Äsch­ba­cher, oh nein… Es wür­de ihn, El­len­ber­ger, gar nicht wun­dern, wenn auch der Dieb­stahl des Au­tos nichts wei­ter sei als ein Trick. Da kam aber der Ge­mein­de­prä­si­dent schon zu­rück. Ein un­an­ge­nehm höh­ni­sches Lä­cheln zog sei­nen Ka­ter­schnurr­bart schief.

»In Thun ha­ben sie den Mann er­wi­scht«, sag­te er. »Ich muss es ho­len ge­hen. Aber Ihr sollt ans Te­le­fon kom­men, Wacht­meis­ter, der Un­ter­su­chungs­rich­ter will mit Euch re­den…«

»Heut? Am Sonn­tag?«

»Ja… Dann könnt Ihr heut abend nach Bern zu­rück­fah­ren. Der Fall ist er­le­dig­t…«

»Hä?« sag­te der alte El­len­ber­ger.

Aber Äsch­ba­cher drück­te sei­nen breit­ran­di­gen Filz­hut auf den Kopf, grüß­te: »Le­bet wohl!« und ver­ließ den Gar­ten.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war wirk­lich am Te­le­fon.

Sei­ne ers­ten Wor­te wa­ren:

»Der Schlumpf hat also ge­stan­den, Wacht­meis­ter…«

»Ge­stan­den?« brüll­te Stu­der ins Te­le­fon. Er be­gann rich­tig wild zu wer­den. Es kam auch wirk­lich zu viel zu­sam­men: Der Traum der vo­ri­gen Nacht, der Re­vol­ver, die lee­ren Hül­sen in der Vase auf dem Kla­vier, das An­ge­bot des Ge­mein­de­prä­si­den­ten, die Span­nung zwi­schen El­len­ber­ger und Äsch­ba­cher, Son­ja Wit­schi, be­son­ders die Son­ja, die mit dem Coif­feur­lehr­ling tanz­te – und dann, vor al­lem, die Ant­wort des Land­jä­gers Mur­mann auf die Fra­ge, ob er den Schlumpf für schul­dig hal­te: ›Cha­bis‹, hat­te der Mur­mann ge­sag­t… und nun flö­te­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter ins Te­le­fon:

»Der Schlumpf hat also ge­stan­den, Wacht­meis­ter…«

»Wann?« frag­te Stu­der böse zu­rück.

»Heu­te nach dem Mit­ta­ges­sen, um halb eins, wenn Sie die ge­naue Zeit in­ter­es­sier­t…« Auch noch Iro­nie! Das war zu viel für den Wacht­meis­ter Stu­der!

»Gut«, er sprach ganz lei­se. »Ich wer­de mor­gen früh nach Thun kom­men, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter.«

»Hal­ten Sie das für op­por­tun?« frag­te die Stim­me.

Das Wort ›op­por­tun‹ schlug dem Fass den Bo­den aus. Konn­te der Mann nicht deutsch spre­chen? Konn­te er nicht sa­gen, we­nigs­tens, ob man es für ›ge­ge­ben er­ach­te‹? Nein, aus­ge­rech­net ›op­por­tun‹!

»Ja«, krächz­te Stu­der, »so­gar für not­wen­dig!«

Räus­pern am an­de­ren Ende des Drah­tes.

»Ich mein­te nur«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter ver­söhn­lich. »Näm­lich, ich habe auch mit dem Herrn Staats­an­walt ge­spro­chen und der mein­te auch, eine wei­te­re Un­ter­su­chung des Fal­les er­üb­ri­ge sich. Wir woll­ten Ihre Ab­be­ru­fung ver­an­las­sen…«

Wei­ter kam der Un­ter­su­chungs­rich­ter nicht.

»Bit­te«, Stu­der sprach sein schöns­tes Hoch­deutsch. »Das kön­nen Sie ru­hig tun. Ich wür­de Ih­nen aber den­noch ra­ten, sich in der Fachli­te­ra­tur über Ge­ständ­nis­se zu ori­en­tie­ren. Es gibt näm­lich di­ver­se Ge­ständ­nis­se… Üb­ri­gens kön­nen Sie mich ab­be­ru­fen las­sen, wenn es Ih­nen Freu­de macht. Ich habe näm­lich dar­an ge­dacht, Fe­ri­en zu neh­men. Und Ger­zen­stein ge­fällt mir aus­neh­mend. Die Luft ist so ge­sun­d… Vi­el­leicht lass ich mei­ne Frau nach­kom­men. Wann ha­ben Sie den Au­to­dieb er­wi­scht?«

»Häm­häm«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. »Den Au­to­dieb? Heut mor­gen hat ihn ein Po­li­zist an­ge­hal­ten. Ein Vor­be­straf­ter…«

»Hat er mit Schlumpf ge­spro­chen?«

»Ja… doch… ich glau­be. Wir ha­ben ihn in die glei­che Zel­le ge­leg­t…«

»Was Sie nicht sa­gen! Also auf Wie­der­se­hen, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter! Auf mor­gen! Ich brin­ge viel­leicht noch einen wich­ti­gen Zeu­gen mit…« Und Stu­der häng­te den Hö­rer in die Ga­bel.

Es tanz­te nie­mand mehr. Die Ti­sche wa­ren alle be­setzt. Die Kell­ne­rin lief mit Tel­lern her­um, auf de­nen schlan­ke Em­men­ta­ler-, feis­te, fet­t­rop­fen­de Küm­mel­würs­te oder matt­schim­mern­de Cer­ve­lats la­gen. Viel­be­gehrt wa­ren die Glä­ser mit dem hell­gel­ben Senf. Wein er­schi­en auf den Ti­schen, Fla­schen­wein. Ar­min Wit­schi hat­te eine Fla­sche Neu­en­bur­ger be­stellt. Son­ja nipp­te nur an ih­rem Glas. Sie sah ver­schüch­tert und ängst­lich aus.

Die drei Mann der ›Con­vict Ban­d‹ in ih­ren scharf­gel­ben Uni­for­men – und aus den kur­z­en Är­meln ka­men die Arme her­vor, seh­nig und braun – auch die Ge­sich­ter wa­ren braun ge­gerbt – sa­ßen um einen Tisch, den man ganz nahe an des al­ten El­len­ber­gers Tisch ge­rückt hat­te. Aber El­len­ber­ger thron­te al­lein und steif auf sei­nem Platz – vor den Bur­schen stan­den zwei Fla­schen Wein und eine große Plat­te Schin­ken.

Stu­der schritt durch die Rei­hen der Ve­s­pern­den, flüch­tig be­merk­te er, dass Ar­min Wit­schi ein höh­ni­sches Lä­cheln auf­ge­setzt hat­te – Son­ja hat­te die Wan­ge ge­gen ih­ren Han­drücken ge­legt und star­te ins Lee­re, ihr Glas war noch voll, un­be­rührt lag die saft­schwit­zen­de Küm­mi­wurst auf ih­rem Tel­ler.

Und der Wacht­meis­ter nahm wie­der ne­ben dem al­ten El­len­ber­ger Platz. ›The Con­vict Ban­d‹ trank ein­mü­tig dem Wacht­meis­ter zu. Ein lee­res Glas stand plötz­lich vor ihm – da er­hob sich der Schrei­er, hielt die Fla­sche in der Hand und füll­te das Glas…

»In fünf Mi­nu­ten vor der Post, Wacht­meis­ter«, flüs­ter­te der Bur­sche. »Ich muss Euch et­was zei­gen…«

Stu­der schiel­te auf El­len­ber­ger, der nichts ge­hört zu ha­ben schi­en, nick­te Schrei­er un­merk­lich zu – was hat­te das wie­der zu be­deu­ten? Was wuss­te der Bur­sche? – stieß mit den drei­en an, dem Bu­cheg­ger, ei­nem ha­gern Men­schen mit ei­nem un­re­gel­mä­ßi­gen Ge­sicht und schau­fel­för­mi­gen Zäh­nen, dem Ber­tel, des­sen Fa­mi­li­enna­me er ver­ges­sen hat­te, aber an den er sich dun­kel er­in­ner­te – hat­te er den Bur­schen auch ein­mal ge­schnappt? Jetzt spiel­te er Bass­gei­ge und hat­te sich ran­giert, schein­bar…

Laut sag­te der Wacht­meis­ter:

»Ich trin­ke auf das Wohl der Mu­sik!« und leer­te sein Glas. Ein dum­mes Sprich­wort fiel ihm ein: »Wein auf Bier, das rat ich dir, Bier auf Wein, das las­se sein…« Er wur­de die Wor­te nicht los, sag­te sie laut, pflicht­schul­digst lach­ten die drei, aber als das La­chen ver­k­lun­gen war, ver­kün­dig­te Stu­der lei­se:

»Der Schlumpf hat ge­stan­den!«

Es war merk­wür­dig, die Re­ak­ti­on der vier am Tisch zu be­ob­ach­ten. Der alte El­len­ber­ger räus­per­te sich und sag­te eben­so lei­se:

»Vous n’y com­pren­drez ja­mais rien, com­mis­sai­re…« (er wer­de nie et­was von der Sa­che ver­ste­hen…)

Der Ber­tel fuhr auf er sah aus wie ein schlau­es Äff­chen – und schmet­ter­te einen Fluch her­vor, in dem viel vom Hei­land und von Mil­lio­nen Ster­nen die Rede war.

Bu­cheg­ger, der ma­ge­re Bär, sag­te nur ein Wort:

»Idi­ot!«

Schrei­er aber fuhr sich durch das lan­ge schwar­ze Haar, wand­te das Ge­sicht ein we­nig zur Sei­te, so­dass die drei, die am an­de­ren Tisch, in etwa zwei Me­ter Ent­fer­nung, sa­ßen, es deut­lich ver­ste­hen muss­ten:

»So, so, hat der Schlumpf­li ge­stan­den!« und deu­te­te dem Wacht­meis­ter mit ei­nem lei­sen Ruck des Kop­fes an, er möge die Son­ja, ih­ren Bru­der und den Coif­feur­lehr­ling be­ob­ach­ten.

Und wirk­lich war die Wir­kung auf die­sen Tisch noch merk­wür­di­ger.

Son­ja fuhr zu­sam­men, ihre Hand ball­te sich zur Faust, sie setz­te sich ge­ra­de und starr­te ih­ren Bru­der has­s­er­füllt an. Sie frag­te ihn lei­se et­was. Ar­min zuck­te mit den Schul­tern. Der Coif­feur­ge­hil­fe Ger­ber war blass ge­wor­den, sei­ne oh­ne­hin kä­si­ge Ge­sichts­far­be wur­de grün­lich, er tät­schel­te be­ru­hi­gend Son­jas Arm, so, als wol­le er an­deu­ten, das Meit­schi möge sich nicht auf­re­gen, wenn der Schlumpf ver­lo­ren sei, so sei er im­mer­hin noch da… Dann wur­de Son­jas Aus­druck ängst­lich, sie woll­te auf­ste­hen, ihr Bru­der und Ger­ber zo­gen sie auf den Stuhl zu­rück, drück­ten ihr das Glas in die Hand. Son­ja trank. Sie zog ihr Schnupf­tuch aus der Hand­ta­sche, wisch­te sich die Au­gen, blick­te in Stu­ders Rich­tung – ihre Bli­cke be­geg­ne­ten sich, Stu­der hob leicht die Hand in ei­ner be­schwich­ti­gen­den Ge­bär­de – da lä­chel­te Son­ja plötz­lich voll Ver­trau­en, und Stu­der wuss­te, dass er auf die Hil­fe des Mäd­chens ir­gend ein­mal wür­de zäh­len kön­nen.

»Ich werd’ wahr­schein­lich den Schlumpf fal­len las­sen…«, sag­te Stu­der laut, stand auf, grüß­te in der Run­de und ver­ließ mit großen Schrit­ten den Gar­ten.

Nach fünf Mi­nu­ten hol­te ihn Schrei­er ein. Er hat­te sei­ne Uni­form ab­ge­legt und trug einen ein­fa­chen An­zug.

Witschis Schießstand

Ich kenn’ den Schlumpf gut«, sag­te Schrei­er und pass­te sei­nen Schritt dem des Wacht­meis­ters an. »Und ich hab’ ihm von An­fang an ge­sagt, wie er zum El­len­ber­ger ge­kom­men ist: ›Pass auf‹, hab’ ich ihm ge­sagt, ›nur kei­ne Wei­ber­ge­schich­ten, das kommt im­mer schlecht her­aus. Eine Kell­ne­rin, das macht nichts. Aber nur kein Meit­schi vom Dorf.‹ Hab’ ich nicht recht, Wacht­meis­ter?«

Stu­der brumm­te, seufz­te. Die Vor­be­straf­ten hat­ten es nicht leicht, wenn sie wie­der drau­ßen Ar­beit ge­fun­den hat­ten. Es brauch­te sie nur ei­ner wie­der zu er­ken­nen, ih­nen »Zucht­häus­ler« nach­zu­ru­fen – was soll­ten sie dann ma­chen? Kla­gen? Man brauch­te ja nicht ein­mal das Wort zu brau­chen, das Wort, das als ärgs­te Be­lei­di­gung galt, ein­fach durch das Ver­hal­ten zu ih­nen konn­te man die Ver­ach­tung zei­gen, die man für sie emp­fand. Im Grun­de wa­ren es ja meis­tens gar kei­ne schlech­ten Teu­fel… Wie Stu­der da­mals den Schrei­er ar­re­tiert hat­te, mit was war der Bur­sche be­schäf­tigt? Er half der Frau, bei der er wohn­te, Boh­nen rüs­ten. Na, ja… »Was willst du mir zei­gen?« frag­te Stu­der.

»Das wer­det Ihr se­hen, Wacht­meis­ter. Der Wit­schi hat näm­lich Selbst­mord be­gan­gen…«

Wie­der die­se Be­haup­tung! Mur­mann war der glei­chen Mei­nung… Selbst­mord!… Aber Herr­gott noch ein­mal! Der Wit­schi hat­te doch nicht he­xen kön­nen!…

Er hat­te wohl lan­ge Arme ge­habt, der Wit­schi. Aber an­ge­nom­men, er hät­te den Re­vol­ver hin­ter das rech­te Ohr hal­ten und den Schuss in die­ser Stel­lung ab­ge­ben kön­nen, dann blieb den­noch ei­ne un­er­klär­li­che Tat­sa­che: der Man­gel an Pul­ver­spu­ren. Eine leich­te­re La­dung? Un­wahr­schein­lich. Wie dann? An­ge­nom­men, der Wit­schi hät­te die Cou­ra­ge ge­habt – dann war je­mand nach dem Selbst­mord ge­kom­men, um den Brow­ning zu ho­len. Den Brow­ning, der dann un­ter dem Pack­pa­pier in der Kü­che der Frau Hof­mann ver­steckt wor­den war. Von wem? Wer hat­te den Re­vol­ver ge­holt? Eine ab­ge­kar­te­te Sa­che?

»Wie bist du auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, dass der Wit­schi sich selbst er­schos­sen hat?«

»Das will ich Euch ge­ra­de zei­gen…«

Auf der Stra­ße heul­ten Au­tos. Mo­tor­rä­der knat­ter­ten ge­häs­sig. Man spür­te den Sonn­tag. Ver­las­sen sa­hen die Häu­ser aus, aber sie wa­ren nicht stumm, nicht ein­mal heu­te. Ein Kräch­zen hier, ein Sum­men dort, manch­mal ein Me­lo­die­fet­zen… Die Laut­spre­cher Ger­zen­steins spiel­ten mit den at­mo­sphä­ri­schen Stö­run­gen, es war nie­mand da, der sie be­auf­sich­tig­te… So trie­ben sie Scha­ber­nack, für sich al­lein, um die Lan­ge­wei­le des ein­sa­men Nach­mit­tags zu wür­zen… In der Wo­che gab es so viel zu tun für sie. Sie san­gen, sie spiel­ten, sie spra­chen. Pro­fes­so­ren, Bun­des­rä­te, Pfar­rer, Psy­cho­lo­gen – ge­hor­sam blök­ten die Laut­spre­cher die Wor­te nach, die ir­gend­ein be­deu­ten­der Herr von sei­nem Ma­nu­skrip­te ab­las – und die Wor­te dran­gen in die Ohren der Ger­zen­stei­ner, durch­weich­ten die Köp­fe… Sie wirk­ten wie ein Land­re­gen auf Moor­lan­d… Die Laut­spre­cher wa­ren die Be­herr­scher Ger­zen­steins. Re­de­te nicht selbst der Ge­mein­de­prä­si­dent Äsch­ba­cher mit der Stim­me ei­nes An­sa­gers?…

Da war end­lich Wit­schis Haus. Auch hier krächz­te es durch die ge­schlos­se­nen Lä­den, so laut, dass Stu­der zu­erst mein­te, es sei eine Ge­sell­schaft in ei­nem der Zim­mer ver­sam­mel­t… Aber es war eben doch nur ei­ner der ein­sa­men Laut­spre­cher, der sich die Zeit ver­trie­b…

Al­pen­ruh

in blau­er Far­be, die ab­zu­brö­ckeln be­gann.

Grüß Gott, tritt ein, bring Glück her­ein…

Wa­rum wirk­te der Spruch auf Stu­der wie ein Hohn? Glück? Wa­ren die Wit­schis wirk­lich ein­mal glück­lich ge­we­sen? Er sah den Wit­schi Wen­de­lin in Hemds­är­meln die Zei­tung le­sen, auf­ste­hen, den lo­sen Trieb ei­nes Spa­lier­bau­mes an­bin­den… Die La­denklin­gel schrill­te… Ge­sprä­che über Po­li­ti­k…

Und jetzt lag Wit­schi in ei­nem kalt­wei­ßen Raum mit ei­nem Schuss hin­ter dem rech­ten Ohr…

Stu­der schüt­tel­te sich. Schrei­er sag­te:

»Kommt nur mit, Wacht­meis­ter!« und ging vor­an durch den Gar­ten, auf den al­ten, ver­fal­le­nen Schup­pen zu, des­sen Dach­stüt­zen ein­ge­knickt wa­ren… Die Tür fehl­te, an ih­rer Stel­le gähn­te ein schwar­zes Loch.

Aber im Schup­pen war es nicht ein­mal so dun­kel. Ei­ni­ge Dach­zie­gel fehl­ten. Das spär­li­che Licht, das durch die Lö­cher drang, ver­misch­te sich mit der Fins­ter­nis zu ei­ner grau­en Däm­me­rung…

Zer­bro­che­ne Spa­ten, ein ver­bo­ge­ner Re­chen, lee­re Kis­ten, Holz­wol­le, Per­sil­kar­tons, Pack­pa­pier… Win­zi­ge, glän­zen­de Staub­teil­chen tanz­ten in den Licht­bal­ken, die vom Dach zum Bo­den reich­ten.

»Und?« frag­te Stu­der. Er muss­te hus­ten. Die Luft im Schup­pen leg­te sich ihm auf die Lun­gen.

Schrei­er war an einen Sta­pel Kis­ten ge­tre­ten, er räum­te ihn vor­sich­tig bei­sei­te, zog schließ­lich eine Tür her­vor, die Tür des Schup­pens of­fen­bar, an der noch die ros­ti­gen An­geln hin­gen.

»Habt Ihr eine Ta­schen­lam­pe?« frag­te der Bur­sche.

»Ja.«

»Zün­det ein­mal«, ver­lang­te Schrei­er.

Stu­der ließ den Licht­ke­gel über die Tür strei­chen. Er pfiff ganz lei­se zwi­schen den Zäh­nen.

Zwei, vier, sechs, zehn – fünf­zehn Ein­schüs­se. Über die Mit­te der Türe ver­teilt. Sie sa­ßen alle in ei­nem Recht­eck, das etwa sech­zig Zen­ti­me­ter hoch und vier­zig Zen­ti­me­ter breit war. Und das Recht­eck, in dem die Schüs­se sa­ßen, war ein hel­ler Fleck in der sonst al­ters­schwar­zen Tür. Stu­der beug­te sich tiefer. Rich­tig, das Recht­eck war ge­ho­belt wor­den. Man sah noch die Spu­ren des Ho­bels…

Aber das Merk­wür­digs­te an die­sen Ein­schüs­sen war fol­gen­des:

Die ers­ten Ein­schüs­se, links oben im Recht­eck, zeig­ten deut­lich an ih­ren kreis­för­mi­gen Rän­dern Ver­bren­nungs­spu­ren.

»De­fla­gra­ti­onss­pu­ren!« sag­te Stu­der lei­se.

Es wa­ren fünf Lö­cher, die sol­che Spu­ren tru­gen. Beim sechs­ten Loch wa­ren die Spu­ren ge­rin­ger, sie nah­men ab, je wei­ter un­ten im Recht­eck die Ein­schüs­se sa­ßen. Die letz­ten drei Ein­schüs­se hat­ten sau­be­re Rän­der, das Holz um sie her­um war weiß…

Die Tür war dick. Alle Ku­geln steck­ten im Holz. Stu­der nahm den dün­nen Blei­stift aus sei­nem No­tiz­buch und be­gann die Tie­fe der Lö­cher zu mes­sen. Die Lam­pe hat­te er Schrei­er in die Hand ge­drückt. Er maß ver­schie­de­ne Male, er gab sich Mühe, er press­te den Dau­men­na­gel fest auf den Blei­stift, umso ge­nau als mög­lich – auf den Bruch­teil ei­nes Mil­li­me­ters – den Un­ter­schied fest­zu­stel­len, der viel­leicht in der Tie­fe der Lö­cher be­stand. Alle fünf­zehn Lö­cher wa­ren gleich tief. Also wa­ren auch die letz­ten Schüs­se, de­ren Rän­der sau­ber ge­blie­ben wa­ren, aus der glei­chen Ent­fer­nung ab­ge­ge­ben wor­den wie die ers­ten. Wa­rum aber hat­ten nur die ers­ten ver­brann­te Rän­der?

»Wa­rum ha­ben nur die ers­ten Lö­cher Pul­ver­spu­ren?« frag­te Stu­der laut.

Schrei­er ki­cher­te. Es war ein un­an­ge­neh­mes Geräusch. Es er­in­ner­te Stu­der an Zucht­haus, die­ses Ki­chern. Es klang so ver­drückt.

»Red’ schon, wenn du et­was weißt«, schnauz­te er.

»Ich bin ja nicht si­cher, Wacht­meis­ter«, sag­te Schrei­er. »Aber Ihr wisst es doch auch: wenn man vor die Mün­dung ein Blatt Pa­pier hält und dann ab­drückt, so blei­ben alle Pul­ver­teil­chen an dem Pa­pier haf­ten und…«

Stu­der wur­de böse:

»Und du bil­dest dir ein, der Wit­schi hat vor die Mün­dung ein Zei­tungs­blatt ge­hal­ten, mit der lin­ken Hand, und dann den Schuss ab­ge­ge­ben? Mach mir das ein­mal vor…«

Schrei­er schüt­tel­te den Kopf. Er zog et­was aus der Ta­sche, ließ das Licht dar­auf fal­len. Es war ein ro­tes Kar­ton­vier­eck. ›Riz La Croix‹ stand dar­auf zu le­sen. Der Um­schlag ei­nes Heft­chens Zi­ga­ret­ten­pa­piers.

»Das hab’ ich hier im Schup­pen ge­fun­den«, sag­te Schrei­er be­schei­den. »Da­mals, wie ich hier ge­stö­bert hab’. Am Tag nach der Ver­haf­tung vom Schlumpf. Ja.«

»Und?« frag­te Stu­der.

»Es rollt kei­ner in der Fa­mi­lie sei­ne Zi­ga­ret­ten selbst. Der alte Wit­schi hat Stum­pen ge­raucht, in der letz­ten Zeit Pfei­fe. Der Ar­min raucht eng­li­sche Zi­ga­ret­ten, die­sel­ben, die sie im La­den füh­ren. Al­so…«

»Also?« frag­te Stu­der. Der Schrei­er be­gann ihn zu in­ter­es­sie­ren.

»Ich hab’ mir die Sa­che so vor­ge­stellt: Der alte Wit­schi hat ein paar Zi­ga­ret­ten­blätt­li ge­nom­men und sie, zu­sam­men­ge­knüllt, vor­ne in den Lauf ge­sto­ßen. Er hat aus­pro­bie­ren müs­sen, wie vie­le es braucht, um sau­be­re Ein­schuss­öff­nun­gen zu be­kom­men. Da­rum hat er so oft ge­schos­sen. Bis es ge­gan­gen ist…«

»Ein­leuch­tend«, sag­te Stu­der. »Kom­pli­ziert, aber nicht un­mög­lich.«

Er dreh­te ge­dan­ken­voll den ro­ten Papp­de­ckel zwi­schen den Fin­gern. Ein dün­nes wei­ßes Blätt­chen haf­te­te noch dar­an. Stu­der riss es ab, hielt es zwi­schen den Fin­gern, zün­de­te es mit ei­nem Streich­holz an und ließ es auf sei­ner Hand­flä­che ver­bren­nen. Es gab eine kur­ze, sehr hel­le Flam­me. Auf die Asche ließ Stu­der den Licht­ke­gel der Lam­pe fal­len. Ein win­zi­ger schwar­zer Rest. Und doch, an­ge­nom­men, Wit­schi hat­te ein paar Blätt­li ge­braucht, so war die Asche si­cher nicht ganz ver­schwun­den. Spu­ren da­von muss­ten in der Wun­de zu fin­den sein. Aber der As­sis­tent im Ge­richts­me­di­zi­ni­schen hat­te von nichts Der­ar­ti­gem ge­spro­chen. Und Stu­der war si­cher, dass die Un­ter­su­chung gründ­lich ge­führt wor­den war… Man muss­te dem Ita­lie­ner noch ein­mal an­läu­ten, scha­de, dass heu­te Sonn­tag war…

»Das hast du gut ge­macht, Schrei­er, ich wär’ nie auf den Ge­dan­ken ge­kom­men. Aber ob wir da­mit ein Ge­schwo­re­nen­ge­richt über­zeu­gen kön­nen? Und dann der Brow­ning? Der ist doch nicht ne­ben der Lei­che ge­le­gen… Wer hat den auf­ge­le­sen? Fort­ge­bracht?«

»Der Schlumpf na­tür­lich«, sag­te Schrei­er. »Aber wol­len wir nicht wei­ter­ge­hen, Wacht­meis­ter? Die Alte« – Schrei­er mein­te Frau Wit­schi – »kann je­den Mo­ment heim­kom­men. Von vier bis fünf schließt sie ih­ren Kiosk. So­gar am Sonn­tag, und es ist schon fünf Mi­nu­ten über vier…«

»Ver­sor­g’ noch die Tür«, sag­te er. Und Schrei­er nahm die Türe, lehn­te sie an die Wand, schich­te­te Kis­ten, Schach­teln da­vor­auf…

»Wenn sie nur nicht ver­brannt wird«, seufz­te Stu­der. »Dann ha­ben wir kei­nen Be­weis mehr… Be­weis?… Schö­ner Be­weis!«

Sie ver­lie­ßen den Schup­pen, gin­gen durch den Gar­ten, blie­ben einen Au­gen­blick in der Gar­ten­tür ste­hen und sa­hen zum Hau­se zu­rück. Als sie auf die Stra­ße tre­ten woll­ten, ver­sperr­te eine ma­ge­re, schwar­ze Ge­stalt den Weg.

»Hat der Herr mich ge­sucht? Oder was hat er sonst zu su­chen? Auf mei­nem Grund­stück? Der Herr Wacht­meis­ter

Nach je­der Fra­ge stieg die Stim­me ein we­nig hö­her…

Gatunki i tagi
Ograniczenie wiekowe:
18+
Objętość:
1151 str. 3 ilustracje
ISBN:
9783962816315
Właściciel praw:
Bookwire
Format pobierania:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip