Czytaj książkę: «Der Weltenschreiber», strona 9

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Kapitel 18

Er stand an dem Fenster, an dem er jeden Abend zu stehen pflegte und sah hinaus auf die weite Fläche unterhalb seiner Burg. Früher jedenfalls war diese Fläche weit gewesen. Unbebaut und eben – eine Graslandschaft, die sich in der Ferne in Hügeln und einem Wald verlor und erst an den kantigen Gebirgszähnen endete, die am Horizont einen Ring um sein Reich bildeten. Er lächelte grimmig. Dabei verrutschte sein ausgesprochen makelloses Gesicht in eine zähnefletschende Maske, die wenig vorteilhaft war. Aber das störte ihn nicht. Er war mächtig. Und unantastbar. Zwar konnten die unreinen Gestalten, die dort unten für ihn das Land urbar machten und ihm sein eigenes Reich bauten, ihn oben am Fenster stehen sehen, aber er wusste genau, dass es keiner von ihnen wagen würde, aufzublicken. Schemenhafte Wesen waren sie in seinen Augen. Nicht real, aber real genug, um ihm zu Diensten zu sein. Seine Menschensklaven.

Ein weiteres grimmiges Lächeln verzog sein Gesicht. Sein Plan war einfach so wunderbar aufgegangen. Aber anders war es schließlich auch nicht zu erwarten gewesen. Alles, was er anpackte, formte er nach seinen Vorstellungen und brachte es an das von ihm gewünschte Ziel. Die Mitglieder der Gilde waren Wachs in seinen Händen gewesen. Natürlich hatte es ihn Zeit gekostet, ihnen allen das wertvolle neue Mitglied vorzuspielen, den Sohn, der nach seinem berühmten rechtschaffenen Vater kam. Aber was war das schon – Zeit. Für ihn nichts. Ein relatives Phänomen, das er nach Belieben biegen und brechen konnte.

Für einen kurzen Augenblick tauchte eine vage Erinnerung in seinen Gedanken auf, die er lieber nicht dort gehabt hätte. Das Buch. Er hatte ein Buch gebraucht, das ihm bei der Verwirklichung seines Planes helfen musste. Sein eigenes Buch hatte sich bereits so sehr seinem unmoralischen Charakter angepasst, dass es ihm für dieses Vorhaben nicht von Nutzen sein konnte. Er furchte unwillig die Stirn. Wie oft hatte er zuvor sein Buch ermahnt und es gebeten, die Veränderung seines Charakters nicht so schnell vonstatten gehen zu lassen. Es hatte alle Zeit der Welt und sollte seine Entwicklung erst beschleunigen, nachdem es ihn bei seinem Plan unterstützt hatte. Aber nein!

Er seufzte. Dieses Buch war genauso starrsinnig wie er selbst. Hatte seine Charakterstärke und seine Abneigung, Befehle zu befolgen. Kurz, es war wie er. Dieser Gedanke löste ein Lächeln aus, das es fast geschafft hätte, seinem makellosen Gesicht die unwirkliche Schönheit zu erhalten.

Aber das Buch! Dieses verflixte Buch von dem Schreiberling, dessen Namen er sich nie die Mühe gemacht hatte, herauszufinden. Beinahe hätte es alles zunichte gemacht, worauf er so lange hingearbeitet hatte. Sein ganzes Lebenswerk!

Bei diesem Gedanken begannen seine eleganten Hände, die er lässig auf dem Fenstersims abgestützt hatte, unkontrolliert zu zittern. Wieso nur hatte er ausgerechnet an ein Buch geraten müssen, das einen so starken Gerechtigkeitssinn und so hohe Moralvorstellungen hatte!

Wütend umklammerte er mit den Händen das Sims und starrte hinab in den Burghof. Die eilig dahinhuschenden Gestalten schafften es tatsächlich, ihn von diesen ärgerlichen Überlegungen abzulenken. Ihre so offenkundige Nichtigkeit stimmte ihn heiter und gab ihm das für einen kurzen Moment abhanden gekommene Überlegenheitsgefühl zurück. Vielleicht sollte er das armselige Dasein ein paar dieser Menschen mit einem Federstrich beenden, nur um sich besser zu fühlen. Er beobachtete die unwichtigen Schemen noch eine Zeitlang und verließ dann seinen Beobachtungsposten.

Letztlich hatte doch alles geklappt. Er hatte das so unerwartet wehrhafte Buch gebrochen und es gezwungen, bei der Ausführung seines Planes mitzuwirken. Sein nächstes Lächeln war echt. Boshaft, aber echt. Er hatte das verdammte Ding von seiner moralischen Warte heruntergeholt und es gezwungen, ihm bei seinen abscheulichen Machenschaften zu helfen. Kein Buch konnte eine solche Misshandlung überleben. Er hatte es vernichtet und war als Sieger aus diesem Kampf hervorgegangen.

Wie er es immer getan hatte. Wie er es immer tat. Wie er es immer tun würde.

Kapitel 19

Der graubraune Mischlingshund tollte über die frisch gemähte Wiese, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Nur das Hier und Jetzt. Nur ihn und diese wunderbare Spielwiese. Er rannte einige Male in einem kleinen Kreis, den Schwanz dabei fest zwischen die Beine geklemmt und in den leuchtenden Augen einen verwirrt ausgelassenen Blick. Dann ein plötzlicher Stopp, ein Wälzen zur Seite und auf den Rücken. Genießerische Laute unterstrichen das schabende Geräusch des Hunderückens auf dem stoppelig gemähten Gras. Anschließend ein abruptes Zögern, alle vier Beine in der Luft. Plötzlich den Körper in einer fließenden Bewegung herumgeworfen. Und wieder ab über die Wiese. Dieses Mal die Schnauze dicht über dem Boden.

Da – ein Grashüpfer, der fluchtartig das Weite suchte. Ein kurzes Innehalten und dann ein zielgerichteter Sprung des Hundes. Die Schnauze wieder zwischen die Grashalme gesteckt – wo war nur der flüchtige Grashüpfer? Der kleine Kerl hatte sich bereits ein weiteres Mal vor der schnüffelnden feuchten Hundeschnauze in Sicherheit gebracht. Endgültig diesmal. Denn ein gewagter, rekordverdächtiger Sprung hatte ihn quer über den geduckten, angespannten Hundekörper direkt neben das linke Hinterbein befördert. Außer Reichweite der gefährlich suchenden und – aus seiner Sicht – riesigen Hundeschnauze. Nun musste er nur noch achtgeben, dass er dem pelzigen Hinterbein nicht zu nahe kam und in diesem Spiel, in das er so ungefragt mit eingebunden worden war, höchst ungewollt und nebenbei noch unbemerkt, zertrampelt wurde.

Sarah, Matthew, Henri und Alfred standen in dem kleinen Park inmitten von Paris und beobachteten schweigend das Schauspiel, das sich ihnen dort auf der Wiese bot.

Der ausgelassene Hund war nur eines von vielen Lebewesen, die sich in dem Park aufhielten. Das Wetter war im Laufe des Tages immer freundlicher geworden und es schien, als würde es die Pariser regelrecht nach draußen drängen, um die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch die grauen Wolken mogelten, mit eigenen Augen zu sehen und freudig auf der Erde willkommen zu heißen.

Die vier standen inmitten des Pariser Lebens und fühlten sich so fehl am Platz, als wären sie Außerirdische, denen der erste Kontakt mit diesen fremden Wesen noch immer bevorstand. Sie nahmen ihre Umwelt zwar wahr, doch mit ihren Gedanken waren sie weit entfernt. Ein jeder in einer anderen Richtung.

Der unheimlichen Buchhandlung waren sie entkommen, aber dafür hatten sie einen Preis gezahlt. Einen Preis, wie er höher nicht hätte sein können. Sie hatten ihre Unwissenheit eingebüßt. Selbst Dupoit, der doch schon so viele Dinge in seinem außergewöhnlichen Leben gesehen und durchgestanden hatte, begann nun erst zu ahnen, dass sein ungewollter Aufenthalt in der Bücherwelt nur ein winziges Detail im Plan eines anderen gewesen war. Nein, nicht einmal das!

Dupoits Gesichtsausdruck war bitter. Nichts von seinem verpfuschten Leben war geplant gewesen. Wenn er nur wenigstens der Teil eines großen bösen Spiels gewesen wäre! Aber er war nur das unschuldige Bauernopfer. Sein Aufenthalt in der Bücherwelt und damit die vergangenen dreißig Jahre seines Lebens waren vollkommen unnötig gewesen.

Henri Dupoit spürte, wie es hinter seinen Augen unerbittlich zu brennen begann. Bei dem Gedanken, er könnte vor seinen Begleitern, vor allem vor seiner Enkeltochter, anfangen zu weinen, wurde ihm bange. Alles, nur das nicht! Er war doch wohl nicht den langen Weg nach Paris zurückgekehrt, um seiner Enkelin vor Augen zu führen, dass sich die Suche nach ihm nicht gelohnt hatte? Dass er nur ein weinerlicher alter Mann war, der mit seinem Leben und seiner eigenen Entscheidung – jawohl, seiner eigenen Entscheidung! – grollte? Rasch fuhr sich Dupoit mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen und versuchte, seinen Gedanken eine positivere Richtung zu geben. Erschwert wurde sein Vorhaben allerdings aufgrund des durchdringenden Blicks, den ihm dieser Fremde, dieser Alfred, zuwarf. Der Blick ging geradewegs durch ihn hindurch, so als wüsste dieser Mensch ganz genau, was er dachte…!

Sarah und Matthew wurden von einem lauten Gelächter aus ihren Gedanken gerissen. Das Gelächter war schockierend nahe und klang, als befände es sich am Rande der Hysterie. Schockierend war für Sarah besonders die Feststellung, dass es von ihrem Großvater kam.

Sie und Matthew standen da und starrten Dupoit an, der sich ganz offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Sein Gesicht, das noch vor kurzem so maskenhaft zeitlos gewesen, in den letzten zwei Tagen aber seltsam rasch gealtert war, hatte er in einem grauenvoll hemmungslosen Lachen verzerrt. Seine Augen jedoch teilten das Gelächter nicht. Sie blickten starr auf Alfred, der, wie Sarah verwirrt feststellte, mit einem empfindungslosen Gesichtsausdruck neben ihnen stand und Dupoit lediglich interessiert musterte.

Rasch blickte sich Sarah um, doch die befürchtete Menge Schaulustiger blieb aus. Zwar blickten einzelne Menschen in ihre Richtung – und war das etwa ein Hund, der sie anstarrte? – aber mit einem teilnahmslosen Gesichtsausdruck, der zeigte, dass sie vor allem mit ihrem eigenen Leben beschäftigt waren und nicht vorhatten, das in nächster Zukunft zu ändern. Geschehe, was da wolle.

Sarah wandte sich wieder ihrem Großvater zu. »Was ist los? Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Henri Dupoit so weit gefasst hatte, dass er mit dem gruseligen Gelächter aufhören und auf die Frage seiner Enkelin eingehen konnte. Von der unkontrollierbaren Anstrengung rannen ihm Tränen über das Gesicht. Als er sich zu Sarah umwandte, sah die in seinen Augen ein Feuer, das sie bisher noch nicht darin erkannt hatte. Irgendetwas war geschehen. Etwas Wichtiges.

Sie starrte ihren Großvater wie gebannt an und hing förmlich an seinen Lippen, als er ihr endlich auf ihre naive Frage eine Antwort gab. »Er ist es«, waren die ersten Worte, die sie von Dupoit hörte, ohne sie jedoch zu verstehen. Anscheinend war ihr das Unverständnis ins Gesicht geschrieben, denn ihr Großvater hob einen Arm und wies mit einer Geste auf Alfred, die beinahe anklagend wirkte. »Er ist einer von ihnen. Einer von denen, die ich so lange versucht habe, zu finden.« Dupoits Stimme schraubte sich auf der Tonleiter nach oben. »Er ist ein Weltenschreiber!«

Die Stille, die auf diese Enthüllung folgte, war förmlich mit Händen zu greifen. Da standen sie alle vier inmitten des dahin plätschernden Pariser Lebens, zwischen der Familie, die versuchte, in dem eher mäßigen Wind einen selbstgebastelten Drachen steigen zu lassen, dem Vater, der mit zwei Jungs Fußball spielte, der Frau, die sich angeregt über das Wetter unterhielt, während ihr Hund auf der Wiese seinem Freiheitsdrang nachgab und unschuldigen Grashüpfern hinterherstellte, und wurden mit einer Erkenntnis konfrontiert, die sie alle noch weiter vom alltäglichen Leben distanzierte.

Keiner der drei Menschen sagte ein Wort. Sie standen alle nur da, Dupoits Arm ein wenig herabgesunken, aber nichtsdestotrotz immer noch auf den anderen gerichtet. Auf ihn. Den Fremden. Den Weltenschreiber. Alfred.

Sarah fragte sich insgeheim, wie sie so blind hatte sein können. Natürlich war er ein Weltenschreiber! Und wenn nicht das, dann doch auf jeden Fall aus dieser anderen Welt, in die es ihren Großvater vor dreißig Jahren verschlagen hatte.

Sein Gesicht war genauso maskenhaft jugendlich, wie es das ihres Großvaters bei dessen Rückkehr gewesen war. In seinem Nacken trug er ein verschnörkeltes Zeichen, das Sarah zuerst für eine Tätowierung gehalten hatte. Erst bei näherem Hinsehen hatte sie sich darüber gewundert, dass das Symbol nicht schwarz, sondern blau war. Und der zeitlose Ausdruck in den Augen des blonden Mannes sprach diese andere Sprache. Eine Sprache, die nicht menschlich war. Oder … nicht nur menschlich. Sondern allumfassend.

Und er wusste Bescheid! Er hatte sie alle aus dieser Buchhandlung wieder wohlbehalten nach draußen gebracht, dessen war sie sich plötzlich sicher. Sie waren da in eine Sache hineingestolpert, die sie nicht durchblickten. Und sie wären in dieser Sache verloren gegangen, hätte er sie nicht auf irgendeine Art und Weise wieder hinausbefördert.

Alfred hatte sich unterdessen seiner Lieblingsbeschäftigung hingegeben: Dem Studium der menschlichen Mimik. Das Ganze war für ihn eine knifflige Angelegenheit. Da er sich selbst traditionsbedingt keine großen Gefühle erlaubte, seine Lebensaufgabe aber von ihm verlangte, sich in andere Wesen hineinzuversetzen und sie möglichst vollständig zu verstehen – denn, so fand er, nur über die Gefühle, Gedanken und Geschehnisse konnte man schreiben, die man wenigstens im Geiste selbst erlebt hatte – war dies der Teil seiner Arbeit, dem er die meiste Zeit widmete. Egal in welcher Welt er sich befand. Und diese drei Menschen waren trotz ihrer erst kurzen Bekanntschaft eine ungeahnte Ausbeute für seine Studien.

Aber dann sah er ein, dass sie auf die Art nicht weiterkommen würden. Und er musste weiterkommen. Dies war die erste richtige Spur, die er seit dem Verschwinden seines Buches hatte! Also beschloss er, das andauernde Schweigen zu brechen. Ohne den anklagenden Arm zu beachten, der da noch immer auf ihn gerichtet war. Hatte er nicht irgendwo einmal gelesen, dass eine solche Geste sich nicht schickte? Alfred stoppte seine Gedanken, bevor diese begannen um das nächste Thema zu kreisen, und wandte seine ungeteilte Aufmerksamkeit wieder den drei Menschen zu.

»Er hat recht«, war seine einfache Antwort auf eine unglaublich klingende Anschuldigung. »Ich bin ein Weltenschreiber.« Dann hielt er seine Augen eindringlich auf Dupoit gerichtet. »Sie haben nach mir gesucht?«

Dupoits Arm fiel nach unten, als wäre er das hölzerne Glied einer Marionette, deren Puppenspieler ganz plötzlich beschlossen hatte, das Spiel zu unterbrechen, um eine Kaffeepause einzulegen. Auf einmal wirkte er alt. Alt und müde. Sarah blickte ihren Großvater besorgt an und auch Matthew war einen Schritt näher gekommen. Es schien, als rechnete er damit, dass er den Mann, den er nun schon seit fast zwei Tagen durch Paris begleitete, auffangen oder doch zumindest stützen müsste. Sarah fand diesen Gedanken seltsam tröstlich. Ihr Großvater und sie waren nicht allein. Sie waren zu dritt in diese Sache verwickelt. Oder vielleicht auch zu viert? Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf Alfred, der in seinem abgetragenen braunen Mantel neben ihnen stand und geduldig auf eine Antwort wartete.

Henri Dupoit schloss für einen Moment seine Augen. Er war müde. So müde. Als er wieder aufsah, war sein Blick traurig und sein Gesicht trostlos. »Das war in einem anderen Leben«, lautete seine gleichmütige Antwort auf die Frage desjenigen, dem er nun endlich, nach so langer Zeit, begegnete. »In meinem einzig wirklichen Leben, das zu lange her ist, um es nun zurückzuholen.«

Alfreds Augen ruhten einen ewig scheinenden Moment auf dem alten Mann, der da vor ihm stand. War sein Name nicht Dupoit gewesen? Henri Dupoit? Und plötzlich spürte er es. Eine vertraute Aura, die versteckt lag. Zu viel war in der Zwischenzeit geschehen. Zu viel für ein Menschenleben. Aber da war sie. Zaghaft schlummernd und vergeblich auf andere, bessere Zeiten wartend. Alfred kannte diese Aura! Er hatte sie schon einmal gespürt. Vor Jahren … Jahrzehnten. Der Weltenschreiber kniff die Augen zusammen und vertiefte sich in das vertraute Gefühl. Begab sich in der Zeit zurück bis zu jenem Moment, den er suchte. Und da war er!

Alfred spürte etwas Neues in sich. War das etwa Aufregung? Er war versucht, dieses unbekannte Gefühl zu erforschen, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Da gab es eine andere Sache, die ihm wichtiger war. Lebenswichtig. Die Aura des alten Mannes, die ihm so vertraut vorkam, hatte er schon einmal gespürt. Vor ungefähr drei Jahrzehnten. Aber nicht er war dem Mann begegnet, sondern sein anderes Ich. Sein Buch! Er hatte gespürt, wie der Mann in das Buch ging!

Das unbekannte Gefühl in ihm wurde stärker, aber Alfred hatte keine Zeit, dem nachzugehen. Stattdessen wandte er sich an den Mann, der da so trostlos vor ihm stand und ganz offensichtlich nichts mehr mit irgendwelchen Weltenschreibern zu tun haben wollte. Und das, nachdem er ihn als solchen erkannt hatte! Alfred hatte noch nie von einem Mitglied der Büchergilde gehört, das von anderen Wesen als das, was es war, erkannt worden wäre. Es sei denn natürlich, es wollte erkannt werden. Hatte er gewollt, dass diese Menschen ihn als Weltenschreiber erkannten?

»Sie haben mein Buch gefunden.« Die Feststellung hing in der Luft und schien zuerst keinen Empfänger zu finden. Dann regte sich Dupoit doch. »Ihr Buch?« Seine Augen schienen von irgendwoher einen letzten Rest Leben zu holen, denn auf einmal versprühten sie Zorn. »Ihr verdammtes Buch hat mir dreißig Jahre meines Lebens gestohlen!«

Alfred starrte ihn an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen. »Sie hätten sich nicht in Dinge einmischen sollen, die Sie nicht verstehen.«

Dupoits Gesicht nahm einen erschreckenden Rotton an. Sarah und Matthew wechselten einen Blick, der klarmachte, wie unwohl sie sich beide in dieser Situation fühlten. Dabei hatte Sarah noch nicht einmal den Eindruck, als wenn dieser andere, dieser Alfred, ihren Großvater hatte bevormunden wollen. Ihr schien es eher so, als hätte er ganz einfach eine Tatsache festgestellt. Ohne dass Gefühle für ihn dabei eine Rolle spielten. Seien es nun seine eigenen oder die ihres Großvaters.

Dupoit wusste während eines sehr langen Moments nicht, wie er auf die Feststellung des Fremden reagieren sollte. Und dieser Moment half ihm, zu dem gleichen Schluss zu kommen wie seine Enkeltochter. Die Augen des Mannes in dem maskenhaft gleichmütigen Gesicht blickten ihn immer noch an, warteten auf eine Fortsetzung ihres Gesprächs. Da war keine Schuldzuweisung in ihnen zu lesen, keine Überheblichkeit. Dieser Mann hatte ihm nur gesagt, was er dachte. Ohne irgendeinen Hintergedanken. Ohne die große menschliche Welt der Gefühle mit in das Gesagte einzubeziehen.

Dupoit erwiderte den zeitlosen Blick. Eine Frage drängte sich ihm auf die Lippen. Eine Frage vor all den anderen, die danach noch folgen mochten. »Können Sie es rückgängig machen?«

Alfred betrachtete Henri Dupoit.

Zuerst hatte das Gesicht des Menschen am Rande eines Wutausbruchs gestanden, für den wohl er selbst, der Weltenschreiber, verantwortlich gewesen wäre. Weshalb, wusste Alfred allerdings nicht. Hatte er etwas Falsches gesagt? Aber anstatt des versprochenen Zorns, war die Mimik seines Gegenübers wieder in diesen seltsamen Gleichmut zurückgesunken. Einen Gleichmut, der nicht davon zeugte, dass er über den Geschehnissen stand. Und der auch nicht die Folge seines Aufenthaltes in der Welt der Büchergilde war. Sondern einen Gleichmut, den Alfred als sehr viel gefährlicher erachtete. Denn er bestand aus Müdigkeit, Trostlosigkeit, Wehmut und Trauer.

Dieser Mann hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Und das bedeutete normalerweise, dass das Ende sehr nahe war. Ob nun das eine das andere bedingte oder nicht, war egal. Alfred hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Mensch, der nichts mehr vom Leben erwartete, dem Leben alsbald den Rücken kehrte.

Deshalb tat es ihm fast ein wenig leid, als er Dupoit auf seine Frage eine Antwort geben musste.

»Nein«, erklärte er mit einem leichten Kopfschütteln und konnte direkt sehen, wie sich die Enttäuschung im Gesicht des anderen noch verstärkte. Auch der jungen Frau und dem jungen Mann, die noch bei ihnen standen, schien das aufzufallen. Die Besorgnis in ihren Augen nahm zu und der Mann war ganz offensichtlich hin- und hergerissen zwischen seiner Sorge für den alten Mann und für die junge Frau. Alfred seufzte innerlich. Diese Menschen! So kompliziert und doch so einfach!

Er wandte sich wieder an Dupoit: »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich mein Buch finde? Ich brauche dieses Buch. Es gehört zu mir. Es ist … ein Teil von mir.«

Henri Dupoit brauchte eine Weile, um die Worte des Fremden zu verarbeiten. Konnte das tatsächlich sein? Er bat ihn um Hilfe? Der Weltenschreiber brauchte ihn – Dupoit?

Diese Vorstellung war fast zu schön, um wahr zu sein. Nein, natürlich war es nicht schön, dass jemand anderes in Not und auf Hilfe angewiesen war. Aber wenn er, Dupoit, ihm helfen konnte … vielleicht hatte das alles dann doch einen Sinn gehabt? Vielleicht war das alles doch Teil eines größeren Plans?

Alfred sah erstaunt, wie das Leben in die Augen des alten Mannes zurückzukehren schien. Wo nahm er nur diese neue Kraft her? Und wieso kam sie jetzt zu ihm zurück? Eben noch war er dem Leben resigniert gegenüber gestanden und nun schien es fast so, als hätte er einen neuen Sinn darin gefunden.

Der Weltenschreiber dachte über das nach, was er gerade gesagt hatte. Es war ehrlich gewesen. Vielleicht ein wenig zu ehrlich. War es klug, den Menschen zu erzählen, dass ein Weltenschreiber und sein Buch zusammengehörten? Verhalf er ihnen damit denn nicht zu einem Wissen, das sie auch gegen ihn verwenden konnten?

Alfred spürte, wie sich seine Gedanken verwirrten. Die Mitglieder der Büchergilde waren immer ehrlich zueinander. Nun ja, es gab Ausnahmen. Natürlich gab es die. Mitglieder, die sich nicht daran hielten; deren Gedanken geprägt waren von verborgenen Motiven und so verschachtelt, dass ihnen die anderen nicht folgen konnten. Aber Alfred hatte die Ehrlichkeit bei seinen Leuten immer besonders hoch geschätzt. Sie war ihm viel wert. Und in einer Welt, in der man Gefühle weitgehend gezähmt hatte, war Ehrlichkeit nur nützlich. Aber hier, in der Welt der Menschen, wurden die Dinge anders gehandhabt. Er sollte vielleicht aufpassen, was er wem sagte.

Alfred merkte, dass das alles komplizierter werden würde, als er ursprünglich gedacht hatte. Und er wusste immer noch nicht, wie er Henri Dupoit aus seinem Gleichmut geholt hatte. Konnte es wirklich nur daran liegen, dass er ihm eine Aufgabe gegeben hatte? Dass er einen sinnvollen Part in einem viel größeren Plan spielen sollte? Alfred war verwirrt. Und neugierig. Wenn das wirklich so zutraf, sollte er dieses Wissen vielleicht in seinen Schriften verwenden.

Dupoit hingegen fühlte sich besser. Möglicherweise konnte er noch etwas bewirken. Und war er nicht auch endlich am Ziel seiner Suche angekommen? Schließlich hatte er einen Weltenschreiber gefunden! Das erinnerte ihn an …

»Der Gefangene!« Nichts in Alfreds Gesicht verriet ihm, dass dieser ihn verstanden hatte. Aber würde ihm das von diesem Gesicht denn irgendwie verraten werden? Nun merkte auch Dupoit, dass die ganze Sache schwieriger werden würde, als gedacht. Er sah sich in dem kleinen Park um und deutete mit dem Kopf auf zwei Holzbänke, die neben der Wiese standen und begleitet von einem großen wuchtigen Holztisch zum gemütlichen Verweilen einluden.

»Setzen wir uns. Dann können wir reden.« Matthew blickte sich suchend im Park um und seufzte erleichtert auf, als er fündig wurde.

»Ich hole uns Kaffee!«, rief er und war auch schon verschwunden.

Sarah, Henri und Alfred nahmen auf den Holzbänken Platz. Sie warteten, bis Matthew mit vier Bechern heißen Kaffees zurückgeeilt kam. Er stellte die Becher vor ihnen ab: »Verzeihen Sie«, meinte er dabei, an Alfred gewandt, »ich wusste nicht, wie Sie…«

Der restliche Satz verschwand im Nirgendwo, als der Fremde einfach nach dem Becher griff und einen großen Schluck des schwarzen Kaffees zu sich nahm.

Sarah, die ihre Hände bereits um ihren eigenen Becher geschlungen hatte, um sie zu wärmen, schnappte nach Luft. Der Kaffee war brühend heiß! Doch Alfred schien das nicht das Geringste auszumachen. Er blickte Matthew an und nickte: »Danke.« Dem stand von seinem unvollendeten Satz noch immer der Mund offen. Jetzt erst schloss er ihn und erwiderte das Nicken. Er setzte sich und warf Sarah einen entgeisterten Blick zu, den sie nur erwidern konnte.

Dupoit jedoch schien von alldem nichts mitbekommen zu haben. Er hielt sich mit seinen Gedanken bereits wieder irgendwo in seiner Vergangenheit auf. Und sobald sie alle um ihn herumsaßen, begann er erneut mit seiner Geschichte. Dupoit erzählte Alfred von den Hinweisen, die er in den Büchern gefunden hatte. Ab und zu machte er eine Pause und blickte Sarah auffordernd an. Die sprang dann ein und ergänzte seinen Bericht mit ihren eigenen Erkenntnissen.

Alfred hörte ihnen unbewegt zu. Doch in seinem Inneren sah es nicht so ruhig aus. Sein Buch hatte nach ihm gerufen! Es hatte versteckte Hinweise in Büchern hinterlassen, in der Hoffnung, dass er sie finden würde. Und er … er hatte versagt. Er hatte seinem Buch nicht helfen können. Und doch … durch die Hinweise waren andere auf sein Buch aufmerksam geworden. Menschen. Und denen war er selbst nun begegnet. Manche mochten das Schicksal nennen, aber er wusste es besser. Dankbar richtete er seinen Blick nach innen. Es gab jemanden, der sich um die Dinge sorgte. Der aus der Ferne auf ihn aufpasste. Der versuchte, seine Schritte zu lenken. Jemanden, der seine Schritte niederschrieb und so viel Einfluss nahm, wie er konnte und durfte.

Als Sarah ihm die Textpassagen von Coleridges Rime möglichst getreu wiedergab und Dupoit auswendig die Stellen aus Malorys Werk aufsagte, fühlte Alfred plötzlich etwas Unbegreifliches in sich aufsteigen. Wer nur hatte es gewagt, seinem Buch so etwas anzutun…?

Einen Augenblick lang musste er die Augen schließen und sich auf sein Inneres konzentrieren. War das etwa Entsetzen? Trauer? Wut? Sorge? Er wusste es nicht. Kannte es nicht und konnte es deshalb nicht einordnen. Aber es war fürchterlich. Er fühlte sich fürchterlich.

Als er die Augen wieder öffnete und in den Blicken der drei Menschen Sorge und Mitleid las, wurde ihm klar, dass sich etwas von den Gefühlen in seinem Inneren auch auf seinem Gesicht gezeigt haben musste.

Hastig korrigierte er diesen Ausrutscher. Was war nur los mit ihm? Er durfte sich solche Gefühle nicht erlauben. Und doch hörte er eine kleine Stimme in ihm, die ihn aufsässig fragte, warum das denn eigentlich so war. Noch dazu konnte er selbst doch gar nichts dafür. Und auch diese Menschen trugen keine Schuld an dem, was hier vor sich ging. Stattdessen war einer seiner eigenen Welt, die den Gefühlen entsagt hatte, dafür verantwortlich. Hatte ihn dazu gebracht, zu empfinden!

Alfred riss sich zusammen und widmete sich wieder seinen neuen Bekannten. Die hatten ihre Erzählung unterbrochen – oder vielleicht war sie auch zu Ende – und blickten ihn erwartungsvoll an. Sein kurzer Anflug von Menschlichkeit, als die zeitlose Maske seiner Miene verrutschte und sie die Wirkung, die ihre Erzählung auf ihn hatte, in seinem Gesicht sehen konnten, hatte ihnen gezeigt, dass hinter dieser ganzen Geschichte noch mehr steckte. Viel mehr, als sie es sich bisher hatten vorstellen können.

»Der Gefangene«, kam es zögernd von Sarah, »kannten Sie ihn?«

Alfred wurde schlagartig bewusst, dass diese Menschen nicht in seinen Bahnen dachten. Ihre Vorstellungen waren zu menschlich. Sie würden sie erweitern und über ihre kleine Welt hinauswachsen müssen. Seine Augen trafen die Dupoits. Und waren sie nicht schon ein wenig über ihre Welt hinausgewachsen?

Alfred schaute Sarah mit einem melancholischen Blick an, als er auf ihre Frage antwortete. »Ich kenne den Gefangenen. Aber er ist nicht das, was ihr denkt.«

Henri Dupoit runzelte die Stirn: »Er ist nicht wie ich in das Buch gesogen worden?«

Alfred schüttelte den Kopf, seine Augen wanderten in die Ferne und nahmen einen zeitlosen Ausdruck an. »Er ist das Buch. Mein Buch.«

Eine Zeitlang blieb alles still, als die drei Menschen diese Neuigkeit aufnahmen und versuchten, sie in das große Ganze einzuordnen.

Sarah konnte das Gehörte kaum glauben. Kein Gefangener, den man befreien musste? Und doch … sie warf Alfred aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Für diesen eigenartigen Fremden schien das Buch überaus lebendig zu sein. Sarah hörte ein hämisches Schnauben in ihrem Kopf, das ihr zuflüsterte: Es gibt also tatsächlich jemanden, für den Bücher noch lebendiger sind, als für dich? Sie schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf das Gehörte. Wenn der Gefangene wirklich das Buch selbst war, dann sprach auch einiges dafür, dass es kein gewöhnliches Buch war (wieder diese kleine Stimme: Gab es gewöhnliche Bücher überhaupt?). Schließlich hätte das Buch dann selbst diese Hinweise gelegt, oder? Aber – weshalb?

Als hätte Alfred ihrem inneren Monolog gelauscht, versuchte er sich an einer Erklärung: »Mein Buch wurde vor langer Zeit entführt. Von wem, weiß ich nicht. Aber es muss jemand aus meiner Welt gewesen sein.« Er überlegte kurz, wie viel er diesen Menschen erzählen sollte, aber dann stellte er fest, dass sie schon zu tief in dieser Geschichte steckten, um sie noch mit Halbwahrheiten abspeisen zu können.

»Noch nie zuvor ist so etwas geschehen. Und es hätte auch dieses Mal nicht passieren dürfen. Es ist … ein Unding.« Alfred wusste nicht, wie er den Menschen einen Sachverhalt vermitteln sollte, der für ihn so selbstverständlich war. Aber sie sahen ihn an, ohne Verwirrung zu zeigen. Ja, es schien fast so, als würden sie ihm einfach glauben. Also fuhr er in seiner Erzählung fort: »Mein Buch ist … nicht nur ein Teil von mir. Es ist auch eine Art Pforte.«

Dupoits Schnauben entlockte Sarah und Matthew ein kurzes Grinsen. »Ohne das Buch kam ich nicht mehr zurück in meine Welt. Und auch mein Buch … saß hier fest. Anscheinend hat es versucht, mir Hinweise über seinen Verbleib zukommen zu lassen. Allerdings habe ich diese nie gefunden.« Alfred hielt inne und schüttelte dann ungläubig den Kopf. »Ich wusste natürlich von den versteckten Räumen auf der Erde. Und ich habe sie alle nach und nach besucht, in der Hoffnung, dort einen Hinweis auf mein Buch zu erhalten. Dieser Raum in der Universität…«, Alfreds Stimme schweifte einen Moment lang ab und kehrte dann zurück, um den begonnenen Satz zu beenden, »…das ist der einzige Raum, von dem ich nichts wusste. Von dem meine Welt nichts weiß. Und in diesem scheint jemand mein Buch gefangen gehalten zu haben.«

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