Czytaj książkę: «Der Weltenschreiber», strona 5

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Kapitel 9

Sie brauchten mehr Zeit für die Suche im Archiv, als Matthew erwartet hatte. Anscheinend hatte ein André Dupoit mehrere Jahre für Le Mercure geschrieben und sie mussten sich durch dutzende Seiten arbeiten, auf denen seine Artikel als Ergebnis angezeigt wurden.

Der Regen hatte inzwischen an Kraft verloren und sich in ein sanftes Nieseln verwandelt. Dafür vertrieb jetzt ein kalter Wind auch die letzten Passanten aus den engen Gassen. Matthew und Monsieur Dupoit saßen alleine in dem Café. Die junge Frau hinter dem Tresen war in ein Buch vertieft und sah höchstens auf, um nach einem Keks aus der Packung neben ihr zu greifen.

Auf Seite 72 angekommen, fanden sie endlich, wonach sie suchten. Matthew führte den Mauszeiger über das Suchergebnis und es erschien ein kurzer Text vom 17. Juni 1982. Eine Vermisstenmeldung der Polizei, erst fünf Wochen nach Dupoits Verschwinden gedruckt, die aber keinerlei Hinweis auf seine Familie enthielt.

Dupoit seufzte und rieb sich die Augen, unter denen sich dunkle Schatten abzeichneten.

»Ich habe damals nicht einmal realisiert, dass sie auszogen, so vertieft war ich in meine Suche.« Er deutete auf den Bildschirm. »Denken Sie, dass wir noch etwas anderes finden können? Einen weiteren Artikel aus einer späteren Ausgabe vielleicht?«

Matthew hatte eigentlich längst die Hoffnung aufgegeben, aber ihnen blieb im Grunde nichts anderes übrig. Er blätterte weiter durch die Seiten. Zumindest im Moment mangelte es ihm an weiteren Ideen, was er auf die Müdigkeit schob. Wie lange hatte er nicht mehr richtig entspannt geschlafen? Zwei Monate? Sein Schlaf war schon seit geraumer Zeit nur noch ein unruhiges Dösen, durchsetzt mit wirren Träumen. Wenn er im Bett lag und durch das Fenster in den Nachthimmel blickte, spürte er oft, wie er rasch in Richtung Schlaf sank, manchmal so schnell, dass er das Gefühl hatte zu fallen. An der Schwelle des Schlafes trieben dann seltsame Gedanken durch seinen Geist, so schwer zu fassen wie Bilder im Augenwinkel. Sie schienen so lange ganz natürlich und vollkommen logisch zu sein, bis er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren; dann zerplatzten sie und er blieb verwirrt zurück. Verwirrt, aber wieder hellwach. Wann hatte das angefangen?

Und dann wurde Matthews Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf den Bildschirm gelenkt, auf dem eine Meldung von vor fünf Jahren erschienen war. Er spürte sein Herz im Hals pulsieren und die Finger seiner rechten Hand umklammerten die Maus unwillkürlich fester. Das Geräusch des Regens verstummte mit einem Mal für seine Ohren, aber der Wind schien nun umso lauter zu sein. Er hatte eine Traueranzeige für Marie Dupoit gefunden.

Matthew starrte eine gefühlte Ewigkeit ungläubig auf die Buchstaben. Dann blickte er nach rechts, aber Dupoit war bereits aufgestanden. Als er an der teilnahmslosen Frau vorbei zur Tür hinausging, stützte er sich kurz an einem der Tische ab.

Matthew wollte schon aufspringen, blickte aber nochmal auf die Anzeige (geliebte Schwester und Mutter) und dann sah er ihn, den Hinweis, den sie brauchten inmitten dieser furchtbaren Nachricht. Dupoit hatte erwähnt, dass seine Tochter Michelle hieß. Michelle Leconte mit Sarah. In Windeseile öffnete er ein neues Fenster, tippte eine kurze Suche ein und schrieb ein paar Wörter auf einen hastig aus seiner Tasche gekramten Zettel. Dann klemmte er sich seine Tasche unter den Arm, warf der jungen Frau auf dem Weg zur Tür einen Geldschein auf den Tresen und eilte auf die Straße hinaus.

***

»Wer einen Weg hinein findet, kommt auch wieder hinaus«, sagt die Frau und lacht. Sie zieht kräftig an dem Schlauch ihrer Wasserpfeife, aber das Gurgeln des Wassers geht in dem Stimmenorchester, das aus dem großen Zelt dringt, unter. Sie öffnet ihre dunklen Augen und lässt milde lächelnd Nebelschwaden aus ihrem Mund in die warme Nachtluft aufsteigen. Über dem sandigen Marktplatz hängt träge der Vollmond am Himmel. Dupoit rutscht tiefer in die Kissen und fühlt, wie seine Augen schwer werden. Sein Bauch ist prall gefüllt mit den fremdartigsten und wohlschmeckendsten Gerichten, die er in seinem Leben gekostet hat. Neben ihm steht eine halb geleerte Karaffe Wasser und in seiner Hand liegt kühl eine Flasche Wein. Er hat Essen in all der Zeit, die er auf seinem Hügel festsaß, vermisst, aber erst jetzt, nach der ersten Mahlzeit, wird ihm klar, wie sehr es ihm gefehlt hat.

Der Anführer der Karawane hat ihn zu Melinda gebracht; hier soll er Antworten finden. Die Fremde scheint noch jung zu sein, höchstens in den frühen Zwanzigern. Unter einem farbenreichen Kopftuch fallen dunkle Locken bis auf ihre Schultern, die nur ansatzweise von ihrem ebenso bunten Kleid bedeckt werden. Sie ließ ihn erst ausgiebig von den aufgetischten Speisen kosten – »Ich sehe den Hunger in deinen Augen, und Hunger ist ein schlechter Gesprächspartner« – bevor die Unterhaltung begann. Melinda hörte schweigend zu und bereitete ihre Pfeife vor, während er erzählte. Jetzt, da er fertig ist, fühlt er sich müde und schwer. Der Lärm tritt zunehmend in den Hintergrund und Dupoit glaubt, langsam durch die Nacht zu treiben. Melindas leise Stimme jedoch dringt klar verständlich durch den Schleier. Sie spricht Französisch, aber es scheint ihm mit einem leichten Akzent, den er nicht klar ausmachen kann.

»Wer einen Weg hinein findet ... Aber wo lag dein Weg?« Melinda schüttelt kaum merklich den Kopf. »Du bist keiner der indigènes, aber du hast auch keine Verbindung zur Gilde, so viel ist klar.« Sie lächelt wieder. »Ein verirrter Wanderer; und dann auch noch im wahrhaft verlassensten Teil dieser Welt gestrandet.«

Als Dupoit spricht, kommt ihm seine eigene Stimme seltsam unwirklich vor. »Wenn Custodio mich nicht mit seiner Karawane gefunden hätte, wäre ich auf diesem Hügel gestorben.«

»Ja, möglich. Aber so wie die Zeit hier rinnt, hätte das noch eine Weile gedauert. Dir wäre es sicherlich wie zweihundert Jahre vorgekommen.« Für einen Augenblick werden ihre Augen ernst. »Manche Dinge hier können einem den Verstand rauben, und es müssen nicht immer bösartige sein. Der zähe Fluss der Zeit reicht vollkommen aus.« Das Lächeln kehrt langsam zurück auf ihre Lippen. »Das ist wahrscheinlich am schwersten, wenn man hier ankommt. Der größte Unterschied zu unserer Welt.«

Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. Der süße Wein fühlt sich angenehm warm in seiner Kehle an. »Bist du auch von der...« Er will Erde sagen und kommt sich noch im selben Moment vollkommen idiotisch vor.

Melinda lacht. »Limoges. Allerdings wurde ich in Budapest geboren. Meine Eltern und ich wanderten erst aus, als ich zwölf war.« Sie zieht an der Pfeife. »Das war 1907. Ich habe mich ganz gut gehalten, findest du nicht?«, fügt sie zwinkernd hinzu.

Dupoit nickt schläfrig. Speisen und Wein fordern ihren Tribut am Ende dieses Tages und er sinkt noch etwas tiefer in die Kissen. Seine Augen schließen sich und auf den letzten Schritten Richtung Schlaf hört er Melindas Stimme aus der Ferne.

»Es gibt immer einen Weg hinaus.«

Sein Kopf senkt sich auf seine Brust. Der Platz, das Zelt, der Lärm in der Nacht schleichen sich aus seinem Bewusstsein.

»Wir müssen dir nur zuerst eine Karte finden.«

Kapitel 10

Matthew wartete abseits auf dem Weg. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, um sich wenigstens etwas vor dem schwachen aber stetigen kühlen Wind zu schützen, der unter dem wolkenverhangenen Himmel in den Bäumen flüsterte. Dupoit stand seit einer Stunde am Grab seiner Frau auf dem Cimetière de Montmartre. Ohne ein Wort hatte er den Weg dahin gefunden. Die Kälte schien er nicht einmal wahrzunehmen und Matthew wollte ihn nicht aus seiner Trauer reißen.

In seiner Hand hielt er den Zettel, auf dem er den Namen von Dupoits – wie er annahm – Enkeltochter notiert hatte. Sie war die einzige ihres Namens im Telefonbuch gewesen und er hatte eilig ihre Nummer und Adresse neben den Namen gekritzelt, bevor er seinem neuen Begleiter gefolgt war. Wie würde sie wohl reagieren, wenn ihr Großvater, der ohne eine Nachricht aus dem Leben ihrer Familie – aus der Welt – verschwunden war, plötzlich vor ihr stand? Sicherlich kannte sie sein Gesicht von alten Fotografien, also würde sie ihn zumindest nicht voreilig als Verrückten abtun. Aber dann?

Der Regen hatte die Luft merklich abgekühlt und der Wind tat sein Übriges, damit sich Matthews Finger wie Eiszapfen anfühlten. Sein Kopf schmerzte. Er wünschte sich sehnlichst einen warmen Kaffee und etwas zu essen. Der Gedanke erschien ihm ziemlich pietätlos angesichts der Vorstellung, vor welcher Leere Dupoit jetzt stand. Kurz dachte er daran, die Nummer auf dem Zettel anzurufen, nur um zu sehen, ob die Frau überhaupt zu Hause war. Er könnte dann immer noch behaupten, er habe sich nur verwählt.

In diese Gedanken brach unvermittelt Dupoits Stimme.

»Ich denke, wir können jetzt gehen. Ich habe ihr gesagt, was notwendig war.«

Sie hatten auf dem Weg zum Friedhof geschwiegen und Matthew erzählte ihm jetzt, was er herausgefunden hatte. Dupoit hörte ihm ruhig zu und die geröteten Augen musterten den Zettel in Matthews Hand aufmerksam. Dann nickte er. Sie hatten ein neues Ziel.

Sie wählten den Weg in Richtung des westlichen Ausgangs.

»Am besten wir nehmen ein Taxi«, sagte Matthew nach ein paar Minuten, um die Stille zu brechen. »Die Straße, in der sie wohnt, liegt ein ganzes Stück südlich von hier, auf der anderen Seite der Seine.«

Dupoit war ernsthaft erstaunt und konnte sich auch ein Lächeln nicht verkneifen. »Offensichtlich kennen Sie als Engländer die Pariser Straßen besser als ich. Und Sie haben sicher nicht mal als Taxifahrer gearbeitet?«

Matthew lachte. Seiner Meinung nach hatte er diesem Mann aus einer anderen Zeit mit den Wundern des Internets schon genug Zukunft für einen Tag zugemutet. Von Mobiltelefonen würde er ihm ein anderes Mal erzählen.

***

Während er den Hügel hinaufgeht, umklammert er das dünne Buch mit seiner rechten Hand. Obwohl der Mond nicht am Himmel steht, leuchtet der weiße Schotterweg hell zwischen den Gräsern, die sich im Wind wiegen. Der Hügel ist nicht sehr steil aber langgezogen, und er spürt den Schmerz in seinen Beinen. Beinahe zwei Wochen ist er nun schon zu Fuß unterwegs. Seine Begleiter hatten ihn mit ihrem Pferdewagen bis zu einer kleinen Zeltsiedlung an einem Fluss gebracht, aber es gab keine Brücke über das tiefe Wasser und er musste in einem morschen Boot übersetzen und den Rest des Weges alleine antreten. Vor drei Tagen hat er seinen letzten Proviant verbraucht und in seinem Magen tut sich wieder diese nagende Leere auf, die ihn in all den Jahren auf der Anhöhe begleitet hat. Aber er weiß, dass das Ziel jetzt ganz nahe ist.

Die Sterne funkeln kalt in der klaren Nachtluft, als er endlich den höchsten Punkt erreicht. Vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, atmet er einen Augenblick lang tief durch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann lässt er seinen Blick über die weite Ebene unter ihm gleiten.

Er stellt sich wieder aufrecht hin und öffnet das Kartenbuch auf der vorletzten Seite. Ja, er ist am richtigen Ort, daran hat er keinen Zweifel. In der Ebene, vielleicht fünfhundert Meter entfernt, erkennt er die drei Bäume. Weit ab zu seiner Linken schlängelt sich der Fluss aus Richtung des Gebirges im Norden kommend; auf einer kleinen Insel im Wasser sieht er einen schwarzen Obelisken stehen.

Er hebt das Buch und fährt die Linien auf der vergilbten Seite mit seinem Finger nach. Obelisk, Fluss, Bäume. Die ersten zweiunddreißig Seiten des Buches sind alt und fleckig, aber bestehen eindeutig aus Papier. Nicht so dieses letzte Blatt. Es ist Pergament. Vielleicht hat jemand es zugeschnitten, um es der Größe der anderen Blätter anzupassen, aber Dupoit ist überzeugt, dass es genau andersherum ist, dass vielmehr die anderen Seiten angepasst wurden, dass das Buch in seiner Gesamtheit gewissermaßen um dieses Pergament herum gebaut wurde. Sein Finger bleibt in der Mitte der Seite stehen. Hier ist der Hügel verzeichnet und im Zentrum des Kreises formen die Buchstaben in einer ungleichmäßigen Capitalis Quadrata ein Wort: Lutetia. Darunter hat ein anderer Schreiber in einer schwungvollen, fließenden Kursive eine Anmerkung gesetzt: La Ville Lumière. Dupoit erinnert sich, dass dieser Name jung ist, noch keine zweihundert Jahre alt. Gemessen an dieser Welt kann es noch nicht lange her sein, dass jemand diese Wörter hinzugefügt hat. Wessen Buch hält er hier?

Er hebt den Kopf und blickt noch einmal über die Ebene unter ihm. Seine Finger zittern, als er nach der Ecke der Seite greift, um sie umzublättern. In dem Augenblick, als er das raue Pergament anhebt, frischt der Wind plötzlich auf, und als er halb umgeblättert hat, nimmt er ein dumpfes Grollen wahr. Durch das Grasland unter ihm scheint eine Welle zu laufen, das Land hebt sich und mit einem Mal bricht die Welt vor ihm einfach weg und fällt in die Tiefe. Erstarrt steht Dupoit auf der Kuppe eines nur noch halben Hügels und betrachtet zwischen seinen Füßen hindurch den Sternenhimmel unter ihm.

Aber es verändert sich auch der Boden, der ihm noch geblieben ist. Das Gras und der weiße Stein des Weges werden dunkler und verfärben sich braun, so als ob unter ihnen eine Flamme brennt. Feine Risse durchziehen die Erde zwischen den Halmen. Als wieder das tiefe Grollen ertönt, wie von einem nahenden Gewitter, überkommt ihn Furcht. Aber dann versteht er, was hier passiert. Die eben noch frische Nachtluft nimmt einen vertrauten Geruch an – den Geruch alter Bücher, wie er ihn aus den hintersten Regalen unzähliger Bibliotheken kennt.

Es ist das Pergament. Ich stehe auf dem Pergament.

In diesem Augenblick ist er überzeugt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Bald wird er zu Hause sein.

Wieder blickt er nach unten, als sich der Boden in einer rollenden Bewegung hebt und ihn in einem weiten Bogen von der Seite wirft, kopfüber in das Firmament taumelnd.

Kapitel 11

Sarah stand in ihrer kleinen Küche und lauschte dem ungewohnten Klang der Türglocke hinterher. In der einen Hand hielt sie eine Mülltüte und in der anderen einen großen weißen Teller, den sie gerade erst von einigen undefinierbaren Überbleibseln befreit hatte. Das helle Geräusch war längst verklungen, aber Sarah brauchte einen Moment, um überhaupt zu begreifen, wo der Ton hergekommen war. Dass sie jemand in ihrer Wohnung besucht hatte, war schon sehr lange her. Ein Leben lang. Sarah seufzte und stellte Mülltüte und Teller beiseite. Dann würde sie eben mal nachsehen, wer da aus einer anderen Zeit vor ihrer Tür auftauchte.

Auf ihrem Weg durch den Flur ertönte die Türklingel ein zweites Mal. Sarah zuckte unwillkürlich zusammen. So laut war das nervige Ding also, wenn man direkt davorstand! Um einer weiteren Ruhestörung zuvorzukommen, legte sie die letzten beiden Schritte schneller zurück und riss die Wohnungstür auf, ohne weiter über die ungewöhnliche Einmischung in ihr Einsiedlerdasein nachzudenken.

Vor der Tür stand eine kleine ältere Dame, eingehüllt in einen dunkelbraunen Mantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Auf dem Kopf trug sie einen rundlichen braunen Hut. Damit wirkte sie noch kleiner, als sie es sowieso schon war. Von Sarahs stürmischem Auftritt überrascht, wich die Frau erschrocken einen hastigen Schritt zurück, wobei sich ihre schwarzen Schnallenschuhe beinahe in dem grünen Fußabtreter verheddert hätten, der Sarahs Eingangstür schmückte.

Sarah musterte die ältere Frau, konnte sie aber beim besten Willen nicht einordnen. Falls sie diese Dame schon einmal gesehen hatte, dann sicherlich in einem Moment, in dem sie nicht wirklich am Leben teilgenommen hatte. Vielleicht war sie gerade dabei gewesen, ein Buch zu lesen. Das war zumindest sehr gut möglich. Ein kleines Lächeln machte sich bei diesem Gedanken auf Sarahs Lippen breit. Derart ermutigt entschloss sich die kleine ältere Dame zu einem Frontalangriff.

»Ich möchte zu Marie-Belle«, forderte sie mit hoher, aber nichtsdestotrotz entschlossener Stimme. Sarahs Lächeln verschwand, während sich ihre Augenbrauen verwirrt zusammenzogen. »Zu wem?«

Die Frau vor der Tür musterte sie aus verwaschenen blauen Augen mit einem Ausdruck, der Sarah klar machte, dass sie sich selbst mit dieser dämlichen Frage ins Abseits gespielt hatte. Schluss mit dem Überraschungsangriff, den sie mit ihrem stürmischen Auftreten in der Tür eröffnet hatte.

»Zu Marie-Belle!« Der herablassende Tonfall wurde durch die hohe Stimme noch verstärkt.

Sarah öffnete schon den Mund, um ein weiteres Mal ihr Unverständnis kundzutun, als ihr Gedächtnis auf eine Episode aus der Vergangenheit stieß. Ach was – Vergangenheit! Etwa zwei Wochen war es her, dass sie im Treppenhaus beinahe mit einer Nachbarin zusammengestoßen war.

Sarah erinnerte sich dunkel an eine ebenfalls recht kleine Person, die mit zwei braunen Einkaufstüten beladen gewesen war, die ihr komplett die Sicht versperrten. Eigentlich erinnerte sie sich nur an die beiden braunen Tüten und an Beine, die unter ihnen hervorlugten. Die Tüten waren auf dem Weg nach unten gewesen, während Sarah von eben dort kam. Ihre eigene Entschuldigung dafür, dass sie von dem nahenden Unheil nichts mitbekommen hatte, war – wie sollte es anders sein – ein Buch, das sie aus ihrem Briefkasten geholt hatte. Ungeduldig wie sie war, hatte sie es bereits auf dem Weg nach oben zu ihrer Wohnung aus seinem Kartongefängnis befreit und angefangen, in ihm zu blättern. Dass sie beide – ihre Nachbarin und sie selbst – vor dem unvermeidlichen Zusammenprall gerettet worden waren, hatten sie einem älteren Mann zu verdanken, der die Gefahr erkannt und sich daraufhin heldenhaft von oben über die Brüstung gelehnt hatte. Der tiefe, rauchige Warnruf hatte nicht nur die Einkaufstütenbeine zum Halten gebracht, sondern auch Sarah gerade noch rechtzeitig aus ihrem Buch gerissen und zurück in die Welt mit all ihren anderen Menschen und Gefahren katapultiert. Die heisere Stimme des Mannes hatte nur den Namen der Frau hinter den Tüten gerufen: »Marie-Belle…!«

Sarah lächelte. Und schon war das Rätsel gelöst. Natürlich konnte sie die kleine Frau, die da vor ihrer Wohnungstür stand, nirgendwo einordnen. Sie hatte sie noch nie zuvor gesehen! Sarah spürte, wie ihre Überlegenheit zurückkehrte. Neuer Angriff, Schuss und Tor!

Mit einem überaus freundlichen Lächeln schüttelte sie also den Kopf und erklärte der verirrten Besucherin, dass sie es an einer anderen Tür probieren müsse. Ohne abzuwarten, ob die Dame ihr auch Glauben schenkte, schloss Sarah die Wohnungstür und kehrte zurück in ihre Küche und zu der unangenehmen Aufgabe, die sie dort noch immer erwartete.

*

Der frühabendliche Verkehr hatte sich nur als halb so schlimm herausgestellt wie ursprünglich erwartet – was in Matthews Augen immer noch übel genug war. Sie ließen sich vom Taxifahrer am Eingang zur Rue de Grenelle absetzen. Matthew hielt es für eine gute Idee, noch ein paar Meter zu laufen, bevor sie endlich das Haus betreten würden. Er hoffte, dass die Frau überhaupt in ihrer Wohnung war. Und insgeheim hoffte er auch, dass sie Kaffee hatte.

Sie gingen zwischen den hoch aufragenden Häusern entlang. Die Straße war schmal und auf der gegenüberliegenden Seite parkte eine lange Reihe Autos. Nur wenige Menschen waren unterwegs; vereinzelt standen zwei oder drei Leute vor den Eingängen von Geschäften zusammen und unterhielten sich, aber der kalte scharfe Wind zwischen den Gebäuden lud nicht unbedingt zu Spaziergängen ein.

Dann hatten sie die richtige Adresse gefunden. Die Haustür lag neben dem Eingang eines Geschäfts mit ausladenden roten Markisen, passend zu den roten Blumen, die die direkt darüber liegenden Fenster zierten. Die helle Fassade des Gebäudes reihte sich unscheinbar in den gleichförmigen Anblick der anderen Häuser ein, der nur von einem Baugerüst einige Meter die Straße hinunter unterbrochen wurde.

Matthew drehte den Kopf, um Dupoit anzusehen. Dieser stand wie versteinert neben ihm und blickte zu den Fenstern hinauf. Er murmelte etwas – nur ein Wort – aber Matthew konnte es nicht verstehen. Dann stürmte er plötzlich los und kreuzte den Weg eines Rollerfahrers, der wütend hupend einen Schlenker fuhr und alle Mühe hatte, nicht auf dem Gehsteig zu landen. Matthew hob entschuldigend die Hand und rannte dann selbst über die Straße. Als er die offene Tür erreichte, stand Dupoit bereits im Eingang und musterte die Klingelschilder.

»Der oberste Stock«, sagte er, und die Aufregung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Hier steht ihr Name!«

Er blickte Matthew an und seine Augen waren voller Erwartung. Im Taxi hatte noch drückende Stille geherrscht, unterbrochen nur von den gelegentlichen Flüchen des Fahrers, aber jetzt war etwas in Dupoit erwacht. Hoffnung, meinte Matthew zu erkennen, ein neuer Lebensfunke.

Er nickte und deutete auf die Treppe.

»Nach Ihnen.«

*

Als es das nächste Mal an der Tür klingelte, stand Sarah inmitten der Küche in einem Durcheinander von Geschirr, Abfall und Notizen, das einfach unbeschreiblich war.

Sie hatte sich selbst mit einem inneren Vortrag davon überzeugt, dass eine solch chaotische Ordnung, wie sie in ihrer Wohnung bis dato geherrscht hatte, durch das Aufräumen eben nun mal zuerst noch schlimmer werden musste. Schließlich nahm sie dem Ganzen die Ordnung und hinterließ nur das Chaos.

Aber als sie nun durch das Läuten an ihrer Wohnungstür erneut in ihrer Arbeit gestört wurde und einen etwas objektiveren Blick auf das Durcheinander werfen konnte, das sie umgab, war sie sich ihrer so vernünftig klingenden Argumente nicht mehr sicher. Ausschlaggebend für ihre Zweifel war auch die unpraktische Tatsache, dass ihr der Weg aus der Küche, der zuvor, wenn nicht frei, so doch begehbar gewesen war, nun durch die verschiedensten Stapel und Haufen versperrt wurde.

Sarah seufzte. Wieso nur klingelte es an diesem seltsamen Tag schon wieder an ihrer Tür? Ob es noch einmal die alte Dame war, die sich ein zweites Mal verlaufen hatte? Aber was sollte sie dann in der Zwischenzeit getrieben haben? Sie hätte locker alle anderen Türen durchprobieren und deren Bewohner kennenlernen können. So viele Leute wohnten nicht in diesem Haus!

Sarah schüttelte den Kopf. Das war nun wirklich zu weit hergeholt. Obwohl sie auch die nächstgelegenste Erklärung, dass nämlich jemand anderes an ihrer Tür klingelte, nicht wirklich zufriedenstellte. Erstens konnte sie sich nicht im Entferntesten vorstellen, wer sie da besuchen wollte. Und zweitens würde das die durchschnittliche Anzahl von Personen, die täglich an ihrer Tür klingelten, einfach allzu dramatisch in die Höhe treiben. Zwei Personen an einem einzigen Tag? Sarah war sich nicht sicher, ob sie ihre Entscheidung, wieder am realen Leben teilzunehmen, nicht bereits anfing zu bereuen. Und wie bitteschön hatte sich das dort draußen so schnell herumgesprochen?

Die junge Frau merkte, dass sie nicht weiter kam. Sie würde sich wohl einen Weg aus der Küche und zur Wohnungstür bahnen müssen, um zu erfahren, wer sie da erneut bei ihrer Aufräumaktion störte.

Gedacht, getan. Aber als Sarah die Tür öffnete und zwei Männer vor ihr standen, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, bedauerte sie ihren Eifer fast ein wenig. Gleich zwei Besucher! Das ging ihr eindeutig zu schnell! Hastig ließ sie ihren Blick über die beiden Unbekannten schweifen. Einer der beiden war wohl ungefähr in ihrem Alter, also Anfang dreißig. Seine Haare waren braun und Sarah hatte den Eindruck, als suchten sie sich selbst die Richtung, in die sie am liebsten standen, ohne von ihrem Besitzer allzu oft daran gehindert zu werden. Das gab dem jungen Mann ein zerstreutes, aber sympathisches Aussehen. Auch seine Augen waren braun. Der andere Mann war schwieriger einzuordnen. Der Ausdruck in seinen Augen zeugte von einem fortgeschrittenen Alter, aber sein Gesicht widersprach dieser Zuordnung. Keine einzige Falte war darauf zu entdecken. Stattdessen wirkte es wie eine sorgfältig angelegte Maske auf eine unbekannte Art und Weise zeitlos.

Sarah war vollkommen überfordert mit diesen Besuchern, die sie nicht einzuordnen wusste. Sie wartete darauf, dass einer von ihnen irgendetwas sagte, ihr vielleicht den Grund für diese Störung verriet, aber es verging eine lange Zeit, in der sie einander einfach nur gegenüberstanden. Es war, als wollte keiner der Anwesenden diesen Moment stören oder als wüsste keiner von ihnen einen Anfang, den ein darauf folgendes Gespräch jedoch gebraucht hätte.

*

Matthew hatte im Taxi lange überlegt, wie sie am besten dieses Gespräch anfangen sollten. Keine der Möglichkeiten, die er sich zurechtgelegt hatte, klang in seinen Ohren wirklich überzeugend. Was sollte die Frau also davon abhalten, ihnen gleich die Tür vor der Nase zuzuschlagen oder sogar die Polizei zu rufen? Mit jeder Treppenstufe nach oben waren seine Zweifel an dem Erfolg ihres Unternehmens gewachsen.

Der Türgriff drehte sich, als Matthew noch hastig nach einem passenden Einstiegssatz suchte. Gerade glaubte er, etwas gefunden zu haben, da wurden die Worte auch schon hinweggerissen von dem Anblick, der sich ihm bot. Nicht etwa von dem Anblick der jungen Frau, die mit einem zu gleichen Teilen fragenden wie genervten Gesichtsausdruck vor ihnen stand. Nein, Matthews erster Blick fiel an ihr vorbei auf die der Tür gegenüberliegende Wand. Dort ächzte eine kaum zu erahnende Holzpinnwand unter der Last eines aberwitzigen Kunstwerks aus dutzenden kleinen Zetteln und Haftnotizen, die in mehreren Lagen übereinander befestigt waren. Auf der linken Seite bildeten gut zehn aneinander geklebte Zettel einen Ausläufer, der nach unten bis zu einem schiefen Stapel leerer Pizzakartons reichte.

Matthew wurde sich bewusst, dass jetzt schon viel zu lange Stille herrschte.

Er blickte die junge Frau kurz an und drehte sich dann zu Dupoit, aber auch der stand nur wie versteinert da. Also blieb es wohl doch an ihm hängen, das unangenehme Schweigen zu brechen.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ist Ihr Name…« Großartig, vergiss ruhig ihren Namen. Matthew kramte hastig in seiner Hosentasche und brachte den zerknüllten Zettel ans Licht. »…Sarah?«

Ein Nicken mit zunehmend skeptischem Blick folgte.

Matthew versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln, aber er spürte, dass sein Mund das nicht problemlos umsetzte.

»Könnten wir vielleicht kurz reinkommen?« Er biss sich auf die Lippe. Ja, genau, frag die Fremde, ob du ihre Wohnung betreten darfst. Du wirkst jetzt sicher sehr vertrauenswürdig.

Sarah zögerte und Matthew konnte sehen, dass die Finger ihrer linken Hand, mit der sie die Tür offen hielt, fester das Holz umklammerten. Sie würde sicher gleich die Tür schließen.

Wieder blickte er zu Dupoit, verzweifelt auf ein helfendes Wort des Mannes hoffend, aber der stand immer noch festgewachsen, wie in Trance.

Die Frau räusperte sich. »Ich denke, Sie haben gerade einen schlechten Zeitpunkt...«, begann sie.

Matthew holte tief Luft und entschied sich, alle Versuche eines sinnvollen Einstiegs über Bord zu werfen. Sicherlich gab es keinen passenden Weg, das auszusprechen, was an sich schon verrückt genug war.

Er legte die Hand auf die Schulter des Mannes neben ihm.

»Sarah, das hier ist Henri Dupoit. Es tut mir leid, dass wir Sie so überfallen, aber ich denke es wäre gut, wenn wir drinnen in Ruhe reden könnten.«

*

Sarah hörte den jungen Mann irgendetwas sagen, aber es war so unglaublich, dass sich ihr Verstand schlichtweg weigerte, es überhaupt in Erwägung zu ziehen. Sie stand nur da und sah die beiden Besucher an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihr Blick ging an ihnen vorbei in die Ferne, während sie einen inneren Kampf ausfocht.

Er hat etwas Wichtiges gesagt. Du solltest ihm zuhören!, verlangte ein inneres Gefühl. Unsinn!, widersprach die Vernunft. Das ist alles Unsinn! Da will dir jemand einen riesengroßen Bären aufbinden!

Es dauerte lange, sehr lange, bis Sarah endlich in der Lage war, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und erneut mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Ach was, Umwelt! Mit diesen beiden Eindringlingen vor ihrer Wohnungstür, die drohten, ihre ganze kleine Welt komplett durcheinander zu bringen!

Sarah merkte, dass der jüngere Mann anfing, Zeichen von Ungeduld zu zeigen. Das alles ging ihm wohl zu langsam! Hah! Sollte man ihn doch mal mit einem Geist aus seiner Vergangenheit konfrontieren, einem Geist, der sein ganzes Leben bestimmte! Sie war drauf und dran, ihm aus lauter Irritation einen wütenden Blick zuzuwerfen, als ihr auf einmal etwas klar wurde. Der junge Mann wusste Bescheid! Er wusste von ihrem Großvater und kannte auch ihren Namen. Vielleicht war er ja bereits mitten in einer Geistergeschichte gefangen und war sich dessen auch bewusst?

Und was hatte es mit diesem anderen Mann auf sich, der angeblich ihr lange verschollener Großvater sein sollte? Sarah wagte einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. Zwei blaue Augen trafen sie völlig unerwartet. Blau. Ihre eigenen Augen waren auch blau, wenn auch in einem dunkleren Ton als die des Fremden. Die junge Frau verspürte den stürmischen Drang, diesem Mann ein Wort zu entreißen. Irgendeines. War er wirklich ihr Großvater? Warum sprach er dann nicht mit ihr? Warum ließ er das seinen Begleiter erledigen, der ihr doch völlig unbekannt war?

Und auf einmal begriff Sarah, dass es diesem Fremden genauso ging wie ihr. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht sprach gerade das dafür, dass er wirklich ihr Großvater war.

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