Czytaj książkę: «Der Weltenschreiber», strona 4

Czcionka:

... he was almost out of his mind

... and then he unlaced his armour, and ... would go into the wilderness, and brast down the trees and boughs; ... And then was he naked ... And when he did any shrewd deed they would beat him with rods, and so they clipped him with shears and made him like a fool.

Der vierte Abschnitt ging Sarah besonders nahe. Jemandem wurde Gewalt angetan. So sehr, dass er darüber verrückt wurde.

... for now have ye lost him, for I saw and heard by his countenance that he is mad for ever. ... for now I wot well we have lost him for ever.

Dieser Absatz bestätigte nur ihre vorherige Schlussfolgerung. Derjenige, der um Hilfe rief, hatte durch die Folter seinen Verstand eingebüßt.

How nigh was I lost, and to have lost that I should never have gotten again, that was my virginity, for that may never be recovered after it is once lost.

... deadly sin ...

... the master fiend of hell, the which hath power above all devils ...

Seinen eigenen Angaben zufolge war der Hilfesuchende für immer verloren. Verloren auch deshalb, weil etwas zerstört worden war, was unantastbar hätte sein sollen. Irgendwer hatte eine Todsünde an ihm begangen. Vielleicht dieser Typ aus der Hölle, der als Herr über alle Teufel bezeichnet wurde?

... the soul departed from the body.

Seele und Körper desjenigen, der um Hilfe rief, trennten sich voneinander, alles war zu Ende.

... and there is the mad man. ... Take that naked man with fairness, and bring him to my castle. ... and there they bathed him, and washed him, and gave him hot suppings till they had brought him well to his remembrance; ... blessed be God ye have your life, and now I am sure ye shall be discovered ...

Sarah saß in der langsam hell werdenden Bibliothek und starrte auf den letzten Abschnitt, den sie in ihr Notizbuch übertragen hatte. Es schien, als hätte jemand den verrückt gewordenen Gefangenen gerettet, sich um ihn gekümmert und in Sicherheit gebracht. »... and now I am sure ye shall be discovered ...«

Sarahs Augen waren auf den letzten Satz gerichtet, aber ihr Blick ging ins Leere. Ein Hilferuf. Derjenige, der die Hinweise in den Büchern hinterlassen hatte, wollte gerettet werden.

War ihr Großvater zu demselben Schluss gekommen? Hatte er den Gefangenen gefunden? Oder war er selbst zum Gefangenen geworden? War das die wichtige Mission, auf die er sich begeben hatte und durch die er alles verlor – seine Familie, sein Zuhause, sein Leben? Und wenn ihr Großvater den Gefangenen nicht gefunden hatte, was war dann aus ihm geworden? Das Verschwinden ihres Großvaters lag dreißig Jahre zurück. So lange konnte doch wohl niemand darauf warten, dass er gefunden wurde? Und wer wusste schon, seit wann es diese Hinweise in den Büchern gab! Sarah runzelte die Stirn. Aber auf irgendetwas musste ihr Großvater gestoßen sein. Sonst wäre er doch wohl nicht so plötzlich verschwunden!

Als sie spürte, wie ihr Tränen der Verzweiflung in die Augen stiegen, brach sie ihre Gedankengänge ab. Sie war todmüde und saß am frühen Morgen unerlaubterweise in der Universitätsbibliothek. Das waren wirklich keine guten Voraussetzungen, um tiefgründige Schlussfolgerungen aus den bisherigen Anhaltspunkten zu ziehen.

Mit zitternder Hand knipste sie die kleine Leselampe, die sich vom langen Gebrauch bereits erhitzt hatte, aus und steckte ihr Notizbuch ein. Dann stellte sie Malorys Buch zurück ins Regal und verließ die Bibliothek. Sarah verschloss die Tür mit ihrem Schlüssel und machte sich auf den Weg nach Hause. Es war höchste Zeit für ein bisschen Schlaf. Morgen – oder später am Tag, berichtigte sie sich automatisch – würde sie weiter über die Hinweise nachdenken, auf die sie so unverhofft gestoßen war.

//Trostlosigkeit. Kein Ausweg, kein Entkommen. Alleine würde es niemals fort können. Zurück zu seinem anderen Ich. Zurück in die Freiheit. Freiheit ... das Wort enthielt einen hohlen Unterton, der erschreckend war. Es wurde Zeit, dass es sich irgendetwas einfallen ließ. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, mit seinem anderen Ich in Kontakt zu treten. Es um Hilfe zu bitten. Hilfe ... die hatte es dringend nötig. Die Tage hier waren dunkel, angefüllt mit Schmerz und Leid. Es konnte bereits spüren, wie sein Wille schwächer wurde. Das Böse weitete seinen Einfluss aus. Das Böse fing an, es zu bezwingen.//

Kapitel 7

Als Dupoit seine Erzählung beendet hatte, war es früher Morgen gewesen; der Himmel vor dem Fenster hatte bereits ein zaghaftes Grau angenommen und Paris, das sowieso nie besonders tief schlief, erwachte im warmen Licht der Straßenlaternen. Der fremde Mann hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und war erstaunlich schnell eingeschlafen. Matthew hingegen hatte kaum Schlaf gefunden, zu aufgewühlt war sein Kopf von den Worten des seltsamen Gastes gewesen. Gegen neun hatte er es nicht mehr in seinem Bett ausgehalten und war ins Badezimmer gegangen.

Dupoit war kurz darauf erwacht und da Matthew nichts im Haus hatte, was für ein Frühstück geeignet gewesen wäre, hatte er ihm vorgeschlagen, gemeinsam ein kleines Café aufzusuchen, das nur ein paar Straßen entfernt lag. Es war seltsam gewesen, Dupoit dabei zu beobachten, wie er mit ihm auf dem Weg zum Café durch die schmalen Gassen gegangen war. Der Weg schien ihm vertraut zu sein, aber er hatte angespannt und etwas verloren gewirkt. Einmal war er deutlich zusammengezuckt, als ein Motorroller grell hupend an ihnen vorbei fuhr, ein anderes Mal, als eine Katze den Deckel einer Mülltonne umstieß und dieser scheppernd auf den Boden fiel.

Paris mochte eine pulsierende Metropole sein, aber auf der Terrasse des Cafés wirkte der Lärm der Autos weit entfernt. Eine kleine Gruppe junger Frauen, die schon ihre Sommerkleider aus dem Schrank befreit hatten, schlenderte lachend an ihnen vorbei und der Postbote ging gelassen von Haus zu Haus. Am Himmel hatten sich inzwischen graue Wolken versammelt, aber die Luft war immer noch angenehm warm.

Matthew hatte das Frühstück kaum wahrgenommen. Auch während der zweiten Tasse Kaffee war er sich noch nicht schlüssig, ob er Dupoits Geschichte glauben sollte oder überhaupt glauben konnte. Rational betrachtet war es natürlich unmöglich und klang wie die Handlung eines Buches, aber irgendetwas war an dem Fremden, das Matthew die Schilderung nicht einfach als Fantasie abtun ließ. Mehr noch, was Dupoit erzählt hatte, vielleicht auch die Art, wie er es erzählt hatte, der Blick in seinen Augen, die weit entfernt zu weilen schienen, hatte ihn seltsam erschüttert; fast so, als hätte eine Hand nach ihm gegriffen und, mit einem einzelnen ausgestreckten Finger, den innersten Kern seines Wesens berührt. Etwas hatte sich verändert, auch wenn er es vorerst nur wie einen leisen Windhauch spürte. Was auch immer es war, Vernunft spielte dabei ganz klar nur eine untergeordnete Rolle.

Glauben oder nicht, er würde dem Mann helfen, seine Familie zu finden, soviel stand für Matthew fest. Und wenn das bedeutete, sich einem Verrückten anzuschließen, war das nur umso besser. Hier war vielleicht das neue Leben, von dem ihm letzte Nacht klar geworden war, dass er es suchen müsse. Dann konnte er mit dem alten auch gleich richtig brechen.

»Ich würde vorschlagen, wir fangen ganz simpel mit dem Telefonbuch an«, sagte er, während er die Tasse zum Mund hob. »Und wenn das nicht hilft, können wir immer noch ein Internetcafé aufsuchen und sehen, ob sich da etwas findet.«

Dupoit sah ihn fragend an. »Entschuldigung, Sie möchten was aufsuchen?«

Matthew hätte sich fast an die Stirn gefasst, aber glücklicherweise fiel ihm die Tasse in seiner Hand noch rechtzeitig ein.

»Ein Computernetzwerk. Da findet sich wirklich ein ganzer Haufen an Informationen. Ich denke, wir sollten damit Glück haben.«

Dupoit nickte und schien sich für den Moment damit zufrieden zu geben, auch wenn er noch immer etwas ratlos aussah.

***

Wie viele Jahre braucht die schiere Stille des Kosmos, die Eintönigkeit der Leere, um einen Geist zu zermürben?

Er vollendet mit einem Strich ein Rechteck im Erdreich, steht auf und tritt einen Schritt zurück. Eine neue Seite unter vielen. Fein säuberlich hat er jeden Grashalm auf diesem Feld herausgezogen und es dann mit dutzenden Seiten gefüllt. Er schreibt auf den Knien vornübergebeugt und gibt den Buchstaben und Zeichen behutsam mit einem Zweig ihre Gestalt. Am Anfang waren es nur kurze Sätze, nicht mehr als zwölf Wörter, die er immer neu zusammensetzte. Nach der vierten Seite schrieb er einige einfache Rechnungen dazu. Dann zeichnete er Formen, erst Figuren, dann Körper. Inzwischen ist er bei der zweiundsiebzigsten Seite angelangt. Der Wind hat bereits Löcher in den ersten Seiten hinterlassen. Aber er hat Zeit; er kann sie später erneut füllen. Wie viel Zeit? Sicher nicht genug, um die ganze Bibliothek von Babel hier zu seinen Füßen in den Staub zu bannen.

Dann geschieht das unmöglich Geglaubte. Als er zu der Ruine blickt, sieht er eine lange Reihe aus fremdartigen Tieren, die ihn an Bisons erinnern und vor hölzerne Wagen gespannt sind. Und bei ihnen, teils zu Fuß, teils auf den Wagen oder Pferden sitzend, sind Menschen.

Nachdem der erste Schock verflogen ist, möchte er rufen, aber der staubige Wind hat seine Stimme längst in Sand verwandelt.

***

Die Suche im Telefonbuch hatte nichts ergeben; nirgends hatte sich der Name Dupoit gefunden. Sie hatten es mit dem Mädchennamen von Dupoits Ehefrau versucht, aber auch eine Marie Martin war nicht verzeichnet gewesen.

Der Weg ins Internetcafé erschien Matthew vielversprechender. Als sie durch die Tür in den modernen Raum traten, der so gar nicht zu der Fassade des alten Gebäudes passte, war Dupoits Erstaunen angesichts der vielen glänzenden Flachbildmonitore und blau leuchtenden Rechner nicht zu übersehen. Von den knapp zwanzig Plätzen waren nur die drei besetzt, die direkt an dem großen Schaufenster lagen. Auf der Theke neben der Tür blubberte eine altmodische Kaffeemaschine vor sich hin und aus den kleinen Lautsprechern an der Decke drang getragener, ruhiger Trip Hop.

Die Angestellte, eine junge Frau Anfang zwanzig, wies ihnen einen Computer in der hintersten Ecke des Raumes zu. Dort würden sie wenigstens ungestört sein. Matthew bestellte zwei Tassen Kaffee und sie nahmen Platz.

Als er den Browser geöffnet hatte und die Startseite erschien, entfuhr Dupoit ein leises Pfeifen. »Ein Freund von mir hatte in seinem Büro einen Heimcomputer, mit einer klobigen grauen Tastatur und so einem Gerät, mit dem er die Daten auf Kassetten sichern konnte. Aber das hier...«

Matthew musste lächeln. Er erinnerte sich noch gut an den vorsintflutlichen Computer seines Vaters.

Er versuchte mehrere Schlagwörter, aber er konnte Dupoits Ehefrau nicht finden. Die wenigen Personen dieses Namens entdeckte er allesamt mit Bild, und keine passte von ihrem Alter her. Auch die Suche nach seiner Tochter Michelle brachte keine brauchbaren Ergebnisse, aber das verwunderte ihn nicht allzu sehr. Nach dreißig Jahren war anzunehmen, dass sie verheiratet war und dabei vielleicht ihren Familiennamen abgelegt hatte.

»Was nun?«, fragte Matthew mehr zu sich selbst. »Wir könnten Ihre alte Wohnung aufsuchen und die Nachbarn fragen. Vielleicht lebt ja noch jemand dort, den Sie kennen.«

Dupoit schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich denke nicht, dass ich denen erklären könnte, wo ich die letzten Jahrzehnte war.« Dann hob er abrupt den Kopf. »Aber Sie könnten doch hingehen, Matthew. Wenn Sie denen erzählen, Sie seien hier, um nach meiner Frau zu forschen wegen ... einer Erbschaft oder so etwas. Sie müssten sie ausfindig machen. Das wäre wirklich nicht allzu auffällig.«

Matthew nickte. Das könnte tatsächlich klappen. In dem Augenblick kam ihm jedoch noch ein anderer Gedanke. »Wenn Sie damals so plötzlich verschwunden sind, wird es doch sicherlich eine Vermisstenmeldung gegeben haben. Dann sollten wir auch in der Presse etwas finden.«

»Ja, das wäre natürlich möglich«, antwortete Dupoit. »Die Bibliothèque nationale hat Zeitungen auf Mikrofilm archiviert, da könnten wir es versuchen.« Er lachte kurz. »Daran wird sich ja hoffentlich nichts geändert haben.«

Über die Suche hatten sie nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vorangeschritten war. Die Uhr des Computers zeigte bereits eins an und draußen begann es zu regnen, erst langsam, dann prasselten die Tropfen immer lauter gegen die Scheibe.

Matthew lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Kaffee. Es war bereits die dritte Tasse, die er hier bestellt hatte. »Wir können es auch erstmal hier versuchen«, sagte er und blickte aus dem Fenster. »Ich glaube Le Mercure hat ein Archiv, das vollständig über das Internet zugänglich ist.«

»Natürlich«, sagte Dupoit grinsend, »Zeitungen kann man mit diesem Ding auch noch lesen.«

Kapitel 8

Als Sarah die Tür zu ihrer Wohnung aufsperrte, war sie so müde, dass sie mehrere Anläufe brauchte, bis sie das Schloss endlich aufbekam. Sie wankte in den Flur, warf die Haustür mit einem lauten Knall, der ihr selbst nur gedämpft bewusst wurde, hinter sich zu und begab sich ohne weitere Umstände in ihr Schlafzimmer. Es hatte keinen Zweck, sich in ihrem Zustand noch weitere Gedanken zu machen. Erst einmal brauchte sie ein wenig Schlaf. Im letzten Moment dachte sie daran, sich ihren Wecker zu stellen, um nicht den ganzen Tag zu verschlafen und dann vollends die Tage und Nächte durcheinanderzubringen. Vier Stunden Schlaf sollten genügen. Dann würde sie sicher irgendwie bis zum Abend durchhalten und sich anschließend zu einer normalen Uhrzeit schlafen legen können.

Als der Wecker Sarah nach vier Stunden aus einem traumlosen Schlaf riss, überdachte sie griesgrämig ihre zuvor so vernünftig klingende Entscheidung. Hätte sie nicht einfach den ganzen Tag verschlafen und dafür die nächste Nacht durcharbeiten können? Es fiel ihr überraschend schwer, aufzustehen, um sich mit diesem neuen Tag abzugeben, aber sie riss sich zusammen und quälte sich stöhnend aus dem Bett – nichts, was eine ausgiebige Dusche und eine heiße Tasse schwarzer Kaffee nicht wieder in Ordnung bringen könnten!

Eine halbe Stunde später stand Sarah barfuß und mit nassen Haaren, nur eingehüllt in ihren abgetragenen dunkelgrünen Bademantel, vor den Notizen ihres Großvaters. In der Hand hielt sie eine dampfende Tasse Kaffee, dessen wohltuender Duft schon ausreichte, damit ihre Lebensgeister, nun ja, zumindest die Nasen unter der Bettdecke hervorstreckten.

Sarahs Blick hing an dem ersten Zettel, auf dem genau die Sätze standen, die sie in dem kleinen versteckten Raum inmitten der Universität so deutlich vor sich gesehen hatte. Die junge Frau nahm einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Kaffee und wandte sich der nächsten Notiz zu.

Weltenschreiber sind alles,

stand dort in der Schrift ihres Großvaters,

- die Muse, der Wind, der die Harfe spielt, das innere Auge,

der Traum, die Eingebung.

Aber sie sind noch mehr. Sie schreiben selbst.

Über Gefühle, Gegebenheiten, Gespräche, Gedanken.

Es scheint, als würden sie schreibend das Schicksal

beeinflussen.

Zum Guten oder zum Schlechten?

Sarah las die Worte, die sie schon so oft gelesen hatte. Sie waren der Grund dafür, dass sie sich mit solch langweiligen Büchern wie der Biographie von Lizzy Körner herumschlug. Nicht, dass die ihr irgendwie weiter geholfen hätte. Aber die Frau war nun einmal der festen Überzeugung, dass irgendjemand ihr Schicksal bestimmte. Und Sarah – auf der Suche nach den Weltenschreibern, die ihr Großvater in seinen Notizen erwähnte – fühlte sich bemüßigt, der Sache nachzugehen. Diese Frau hatte demjenigen, der angeblich ihr gesamtes Leben lenkte, sogar einen Namen gegeben: Clifford. Sarah grinste belustigt. Als hätte eine Muse, ein Weltenschreiber, solch einen gewöhnlichen Namen!

Sie nippte erneut an ihrem Kaffee und blieb vor der Notiz stehen, während sich ihre Gedanken verselbständigten. Das, was ihr Großvater da aufgeschrieben hatte, brachte sie nicht weiter. Gut, sie hatte jetzt eine ungefähre Ahnung von dem, was ein Weltenschreiber vielleicht war. Na ja, auch das war schon übertrieben. Sie wusste ja nicht einmal, ob hier überhaupt noch von einem Menschen die Rede war. Vielleicht war das Ganze auch eine unsichtbare Macht, eine Droge, ein Außerirdischer?

Sarah seufzte. Sie kam einfach nicht weiter. Und dieses Mal fiel es ihr leicht, sich einzugestehen, dass das auch vorher bereits der Fall gewesen war. Die Notizen ihres Großvaters hatten vor einem halben Jahr ihr Interesse geweckt und ihr die Hoffnung vermittelt, sie könnte vielleicht herausfinden, was aus ihm geworden war. Was ihm zugestoßen war. Aber – Fehlanzeige!

Erst während der vergangenen Nacht war sie zufällig auf etwas gestoßen, das sie tatsächlich einen Schritt weitergebracht hatte. Und das – ganz nebenbei – neue Fragen aufgeworfen hatte. Was war das für eine Karte, die sie in dem kleinen versteckten Raum abgemalt hatte? Wo kam dieser Raum überhaupt auf einmal her? Wer hatte ihn genutzt? Und wer hatte in den Bibliotheksbüchern Hinweise darauf hinterlassen, was mit ihm geschehen war? Was wollte er damit bezwecken? Dass man ihn fand? Aber einen Hinweis auf den Verbleib des Gefangenen hatte Sarah beim besten Willen nicht entdecken können!

Wieder entrang sich ein Seufzer ihrer Brust. Sie nahm einen weiteren Schluck von dem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. Großartig! Jetzt hatte sie bei all den Überlegungen ihren Kaffee kalt werden lassen! Sie stand vor den Notizzetteln ihres Großvaters und spürte, wie die Sinnlosigkeit ihrer Überlegungen sie zu übermannen drohte. So kam sie nicht weiter! Sie würde sich anziehen und einen Spaziergang machen. Vielleicht konnte sie so wieder Ordnung in ihre Gedanken bringen!

Sarah verließ das Haus und wandte sich in Richtung des kleinen Parks, der in der Nähe ihrer Wohnung für ein bisschen Grün inmitten der Pariser Innenstadt sorgte. Der Tag war grau. Gegen ein Uhr hatte es geregnet und nun wehte ein ungemütlicher Wind, den Sarah insgeheim begrüßte, da er dafür sorgte, dass sie den kleinen Park fast für sich hatte.

Im geschäftigen Pariser Treiben fristete die unscheinbare grüne Oase ein Schattendasein. Sarah aber war das egal. Ihre Fantasie reichte aus, um sich aus dem kleinen Park einen natürlichen Rückzugsort zu basteln, in dem sie zusammen mit ihren Gedanken frei sein konnte. Den sie jetzt brauchte, um wieder mit ihren belastenden Überlegungen ins Reine zu kommen. So wurde aus dem lärmenden Verkehr, der sich mühsam unter der Brücke hindurchbewegte, die Sarah passieren musste, um in den Park zu gelangen, ein rauschender, lebendiger Fluss.

Tief in Gedanken versunken überquerte die junge Frau den Fluss, der sich gnadenlos durch den pulsierenden Pariser Tag schlängelte, mithilfe der massiven Steinbrücke, die sich aufrecht über dem sich windenden Wasser hielt.

Sarah musterte geistesabwesend den wolkenverhangenen Himmel. Obwohl noch nicht spät, schaffte es der grau bedeckte Tag, einen abendlichen Eindruck zu vermitteln.

Sie betrat den Park. Ihr Blick wanderte über das hohe Gras, das den Fußweg zu beiden Seiten umgab. Obwohl erst Juni, war es kein frisches, helles Grün mehr. Diese Wiesen waren bereits einige Male abgemäht worden und hatten sich jedes Mal aufs Neue mühsam wieder aufrichten müssen. Ihre Erschöpfung und Verärgerung ob dieser Ungerechtigkeit des Lebens sah man den dunkelgrünen und braunen Gräsern an.

Sarahs Gedanken spiegelten die grau verhangene und untätige Müdigkeit des Tages wider. Sie kämpfte innerlich mit dem dritten Notizzettel ihres Großvaters. Zuerst hatte sie den gar nicht aufhängen wollen. Aber irgendwie hatte sie doch das Bedürfnis dazu verspürt. Er gehörte nun einmal dazu. Genau wie die ersten beiden Blätter die kuriosen, zeitraubenden Studien ihres Großvaters wiedergaben, die Suche nach dem Gefangenen und die Frage nach der Existenz der Weltenschreiber, drückte der dritte Zettel das aus, was ihrem Großvater durch seine Studien verloren ging. Nein, berichtigte sich Sarah insgeheim, es ging ihm nicht verloren. Es war ganz allein seine Entscheidung gewesen. Er hatte sich dazu entschlossen, auf seine Familie, sein Leben, zu verzichten. Ihr, seiner Enkelin, hatte dieses dritte Blatt die meisten Schwierigkeiten bereitet. Denn es hatte die Frage aufgeworfen, was ihr Großvater eigentlich für ein Mensch gewesen war. Eigentlich war es erst dieses dritte Papier gewesen, das Sarah dazu verleitet hatte, die Zettel aus dem Archiv der Universitätsbibliothek zu entwenden und mit der Suche nach ihrem Großvater zu beginnen. Dabei standen auf dem Blatt Papier nur drei Worte:

Liebe Marie, verzeih.

Sarah hatte die Zettel zu spät gefunden. Ihre Großmutter war vor fünf Jahren gestorben und konnte ihrem Mann nicht mehr verzeihen. Ob sie dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, wusste Sarah nicht. Aber sie selbst, mit ihrer Distanz zu den Geschehnissen in der Vergangenheit, mit ihrer Sehnsucht nach einem Menschen, der ihr ähnlich war und der sie verstand, hatte beschlossen, ihrem Großvater zu verzeihen. Und ihn zu suchen.

Unversehens sah sich Sarah aus ihrer Gedankenwelt gerissen. Die hohen Gräser, die sie blicklos angestarrt hatte, erwachten so plötzlich zum Leben, dass ihre ahnungslose Beobachterin erschrocken zusammenfuhr. Ein Flügelpaar, dann das nächste. Und auf einmal hatten sich wie auf Kommando hunderte Vögel aus dem hohen Gras erhoben und flatterten wie eine einzige riesige Wolke aus kleinen befiederten Körpern über das Land. Zogen kreischend ein paar Kreise und landeten in wortloser Übereinkunft nur ein paar Meter von ihrem vorherigen Startplatz entfernt.

Sie verschwanden so plötzlich zwischen den grünen Halmen, wie sie zuvor aufgetaucht waren. Sarah stand da und starrte auf die nun wieder leblos daliegende Landschaft – den Fußweg gesäumt von braun-grünen Frühsommerwiesen.

Aber sie ließ sich nun nicht mehr täuschen. Der ihr gegönnte Blick hinter die Kulissen hatte ihr gezeigt, dass diese Landschaft keineswegs so leblos war, wie sie es den eilig vorbeigehenden Menschen weismachen wollte. Nichts war so, wie es schien.

Als Sarah in ihre Wohnung zurückkehrte, hatte sie zwar noch immer keine Ahnung, wie ihre Suche weitergehen sollte, aber sie hatte ihre Gedanken wieder unter Kontrolle. Und sie war vernünftig genug, mit sich selbst einen Kompromiss zu schließen. Nach den Hinweisen der vergangenen Nacht würde sie die Suche nach ihrem Großvater doch noch nicht aufgeben. Aber sich selbst aufgeben würde sie auch nicht. Sie wollte, dass ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief. Sie musste sich darüber klar werden, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Welcher Arbeit sie nachgehen wollte. Was sie dann in ihrer Freizeit trieb, war allein ihre Sache. Und wenn sie – statt joggen zu gehen oder sich mit Freunden auf ein Eis zu treffen – lieber in alten Büchern seltsamen Hinweisen über den Verbleib ihres Großvaters nachjagte, dann war das ihre Entscheidung und ging niemanden etwas an.

Zufrieden mit sich selbst und ihrem vernünftigen Kompromiss, machte sich Sarah sogar daran, die Küche in ihrer kleinen Mansardenwohnung aufzuräumen. Sie war gerade dabei, ein paar überaus unappetitliche Essensreste zu entsorgen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte.

//Es hatte einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das. Sein Geist war nicht mehr so zuverlässig wie einst. Dinge, Gefühle, Worte die es gestern noch kannte, hatte es heute vergessen. Alles floss ineinander, vermischte sich und trennte sich anders, als es ursprünglich gewesen war. Worte verbanden sich, die nichts miteinander zu tun hatten. Sätze tauschten ihren Platz ohne Rücksicht auf den sich dadurch verändernden Inhalt zu nehmen. Schwierig, in einem solchen Zustand seine Sinne beisammen zu halten und nach einer Möglichkeit zu suchen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Schwierig. Aber nun hatte es einen Weg gefunden. Zumindest glaubte es das.//

21,45 zł