Czytaj książkę: «Tatort Alpen», strona 5

Czcionka:

»Ja«, jetzt schrie die Frau laut auf, und Birne wusste, dass er was Falsches gesagt hatte, bevor sie sagte: »Sie haben meinen Mann.«

Sie hatten ihren Mann. Wie kamen sie denn darauf?

»Wie kommen die auf Ihren Mann?«

»Weil wir Türken sind.«

Irgendetwas hatte Birne noch nicht begriffen oder wusste er noch nicht.

Birne biss in seinen Kebab, während er der weinerlichen Stimme der Frau zuhörte. Ihr Mann sei unschuldig, sie sei ein Opfer, was solle denn aus den Kindern werden, der Einzige, der ihr noch bleibe, sei der Bruder, sie, die ganze Familie seien immer in bester Stimmung mit Frau Renate Zulauf gewesen, sie habe ihr sogar verraten, wo ihre Ersparnisse seien, falls mal was sei. Wenn ihr Mann aus Habgier geräubert hätte, dann wäre das Geld doch jetzt weg.

Da war was dran, das musste Birne zugeben.

»Uns geht es nicht schlecht mit dem Geld, nicht rosig, aber auch nicht schlecht. Kinder können auf die Schule, unser Laden läuft. Schauen Sie. Mein Mann hätte nie wegen Geld einen Einbruch gemacht und schon gar nicht einen Mord. Schauen Sie, es geht uns gut.«

Kundschaft – drei Jugendliche mit amerikanischen Pullovern und weiten Hosen und kurz rasierten Köpfen – betraten den Laden und einer schrie: »Mahlzeit! Döner an die Männer!« Sie lachten jugendlich, hielten sich für die Könige des Humors und die Könige des Humors für die der Welt. Sie stemmten ihre krummen Rücken mit den Ellbogen auf einen Stehtisch in der Ecke Birne gegenüber. Einer, ein Blasser, grinste zu Birne herüber. Birne wusste nicht, was der wollte und grinste nicht zurück. Der Junge sagte etwas Leises, das klang wie »Sag halt ›Hallo‹, du Arschloch«, oder so ähnlich. Birne bekam ein bisschen Angst und konzentrierte sich auf seinen Döner.

»Sofort«, sagte die kleine Frau und verschwand hinter der Theke. Sobald die drei Buben am Stehtisch mit Gewürzen ihre Sandwichs verschärften, war sie wieder bei Birne.

»Wieso erzählen Sie das nicht der Polizei?«

»Das hat keinen Sinn. Die hören nicht auf eine kleine Frau wie mich und erst recht nicht auf eine ausländische und auch nicht auf meinen Mann. Die sind alle rechtsradikal.« Sie senkte ihre Stimme bei diesen Worten, damit die andere Kundschaft sie nicht hören konnte. Die Buben hatten doch was verstanden und spitzten die Ohren. »Helfen Sie mir.«

»Was kann ich tun?«

»Ihr Essen geht aufs Haus. Wollen Sie noch was trinken?«

»Nein, danke.«

Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Plastikflasche Fanta heraus und brachte sie Birne.

»Hey, wir wollen auch Fanta!«, brüllte einer der Drei, ein ziemlich Dicker mit dunklem Haar und rotem Gesicht und Kugelaugen, die ihm beinahe davon kullerten.

»Könnt ihr haben, müsst ihr bezahlen«, sagte die Herrin des Ladens mit schwacher Stimme, die auch Angst verriet, eine Angst, die sie nie gehabt hätte, wäre ihr Mann da gewesen.

»Nein, wir wollen sie umsonst wie der Spacko da drüben«, schrie der junge Fettsack.

»Nein, ihr müsst bezahlen.«

Zivilcourage, dachte sich Birne, Zivilcourage.

Auf demselben Weg, auf dem sie Birne Fanta brachte, zog sie den jungen Leuten ihre Teller weg und stellte sie auf die Theke. Die drei nahmen ihre Rest-Kebabs und begannen, mit Fleischschnipseln zu werfen und dazu »Ich liebe Deutschland« zu grölen.

Birne war überfordert, er musste jetzt was tun. »Hey!«, schrie er zu den drei Randalierern, die ihm mit einem Lachen antworteten. Sie schrien auch »Hey«.

Der Dicke kam auf ihn zu, langsam, und wollte bedrohlich wirken, schaute sich aber immer wieder zu seinen Kameraden um, damit die nicht einfach abhauten.

Eineinhalb Meter vor Birne baute er sich auf und fragte: »Was, hey?«

»Lasst die Frau in Ruhe, die hat euch nichts getan.« Birne war nervös, während er das sagte, und man hörte ihm das auch an.

»Lasst die Frau in Ruhe«, äffte der Dritte ihn nach; er war eine Art Aushilfs-Hip-Hopper mit einem goldenen Kettchen und einer schiefen Baseballmütze. In jeder normalen Situation, dachte Birne, hätte man ihn nur auslachen können ob seiner Erscheinung. Jetzt hatte Birne echte Angst und rechnete mit einer körperlichen Ausein­andersetzung.

»Wir wollten doch nur auch etwas zum Trinken – so wie Sie«, sagte der Dicke.

Der Blasskopf wurde plötzlich vernünftig und pfiff seinen Kumpel zurück: »Komm, die wollen jetzt vögeln, die Türkin und der deutsche Schlappschwanz. Lassen wir sie.« Die drei traten geschlossen ab, nicht, ohne dass der Blasse, der gerade so vernünftig war, mit einem kräftigen »Servus« den Papierkorb neben dem Eingang umtrat. Dann verschwanden sie, etwas Unverständliches murrend.

Birne hätte heulen mögen wegen seines Versagens und überlegte kurz, ob er der Frau helfen sollte, den Müll aus Papierservietten und Essensresten wieder einzusammeln, entschied aber, dass nichts diesem Augenblick ein Stückchen Würde wiedergeben könnte.

»Helfen Sie?«, kam die Frau auf ihn zurück.

Birne schaute verlegen auf seinen Teller und schämte sich der Krautschnipsel, die darauf lagen, die er geschenkt bekommen und aus seinem Kebab fallen hatte lassen. »Was kann ich tun?«

»Ich habe einen Schlüssel zu Frau Renate Zulaufs Wohnung. Sie hat mir vertraut.«

Birne klaubte Kraut auf von seinem Teller und steckte es sich in den Mund.

»Gehen Sie da rein und suchen Sie etwas, was meinem Mann helfen könnte, da wieder rauszukommen. Gehen Sie zur Polizei damit. Sie sind ein junger blonder Mann. Ihnen werden sie glauben.«

Birne wollte seine Ruhe, er wollte keine Hilfe, von niemandem, und er wollte niemandem helfen müssen. Er wollte dafür lieber wegschauen. Aber jetzt konnte er nicht wegschauen, nicht auf seinen Teller, nicht auf die andere Seite, er war angesprochen worden und er musste reagieren. Er wollte kein schlechter Mensch sein, er hielt sich für keinen, er hielt sich für einen normalen.

»Also gut. Ich mach was. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon. Erwarten Sie nichts von der Polizei, die sind auch schlecht.«

»Oh«, freute sie sich und holte ihm ein süßes Stückchen, das Birne schwer kauend unter ihren verliebten Blicken und begeistertem Schweigen zu sich nahm.

Als er dankend gehen wollte, sagte sie: »Treffen wir uns morgen bei meinem Bruder, er wird Sie auf einen Tee einladen.«

»Wo?«

»Sie kennen die Bahnhofstraße?«

»Ja.«

»Bevor sie zur Fußgängerzone wird, gibt es rechts zwei türkische Imbisse, der vordere ist der von meinem Bruder. Dort treffen wir uns.«

»Geht in Ordnung. Vielen Dank.«

»Ich danke.« Sie machte ihm die Tür auf zum Hinausgehen.

Auf dem Weg zurück zum Geschäft wurde Birne unwohl, weniger im Bauch als im Kopf. Er hätte sich darauf nicht einlassen sollen. Was sollte er in der Wohnung finden? Er war kein Detektiv, er hatte keine Erfahrung im Suchen von Hinweisen in fremder Umgebung. Er war nicht professionell. Sie mussten noch mal darüber reden, worauf er aufpassen sollte, wenn er drin war. Sie sollten es am besten ganz abblasen. Das würde nichts bringen. Auf der anderen Seite klammerte man sich nun mal an die letzte Hoffnung, wenn der Mann wegen Mordes im Gefängnis saß.

Wenn er das Geld fände, wäre wirklich bewiesen, dass es kein Raubüberfall gewesen war. Aber wieso sollte dann jemand die alte Frau Zulauf umbringen? Wieso stieg nicht der Bruder ein, fand das Geld und brachte es zu Birne, der damit ja dann zur Polizei laufen könnte? Waren die Türken am Ende gerade dabei, ihm eine Grube zu graben, damit er als Verdächtiger dastünde? Birne habe die Alte ermordet, das Geld aber nicht finden können. Nun, da ein Unschuldiger im Gefängnis sitze, suche er noch einmal in Ruhe nach der Beute.

Die Frau sah ehrlich aus, wenn man Birne aufrichtig danach fragte.

»Hoi, warst du doch beim Essen?« Tim hatte ihn erwischt und war ebenfalls auf dem Rückweg.

»Unterzucker plötzlich, hab unbedingt was holen müssen. Kommt bei mir ganz oft, weiß auch nicht, wieso. Sollte vielleicht wirklich mal zum Arzt gehen. Am Ende ist es was Ernstes.«

Tim schaute auf die Uhr. »Wird schon nicht so schlimm sein. Du, wir könnten noch ein Weilchen. Hast du noch Lust auf einen Kaffee?«

»Den können wir auch im Büro. Heute ist das Wetter eh nicht so.«

Birne hatte gewonnen, sie gingen schweigend zurück. Den einsamen Abend und die einsame Nacht hatte er vor sich, um die Sache zu überdenken.

Er wollte noch etwas für den Körper tun; wenn auch nicht mit Leibesertüchtigung, so konnte er es vielleicht brauchen. Er würde in eine fremde Wohnung einsteigen, das erforderte Kraft und körperlichen Mut. Allerdings würde er einen Schlüssel haben.

Er würde nicht in eine Wohnung einsteigen, wer war er?

Er war, die Sporttasche geschultert, auf dem Weg ins Studio. Er wollte zurück, heim zu Weizen und Zeitung. Ihm war eingefallen, dass er den Kommissar Bruno treffen könnte, er wollte den nicht treffen, der nahm ihm seinen Fall weg.

Er war wieder wichtiger geworden in dem Fall, er würde vielleicht entscheidende Hinweise liefern, die der faule Bulle nicht hatte. Er würde ihm ganz anders entgegentreten diesmal, er war nicht mehr neu, er wusste, wie der Hase lief.

Es war weniger los an diesem Tag. Birne durchlief ein Programm, das sie ihm als Anfänger empfohlen hatten, und hatte es dann eilig rauszukommen. Die blonde Schöne war ihm nicht begegnet, die anderen Frauen hatten ihn nicht interessiert, er wollte Bruno nicht sehen.

Er kam, als er ging, grüßte ihn nebenbei nickend. Birne war ihm wurst.

Jetzt ließ er es krachen und sprach ihn an: »Bist auch öfters hier?«

»Ja, ab und zu.«

»Ich auch.«

»Willst danach mal was trinken gehen?«

»Gern. Wenn es dir nicht zu früh ist mit dem Schnaps.«

»Für Schnaps ist es nie zu früh, aber oft zu spät.« Er lachte. Birne auch, sie würden nie was trinken gehen, schwor er sich.

»Wann soll ich denn zum Verhör kommen?«

»Ach, du«, antwortete der Kommissar. »Wir melden uns dann. Deine Nummer haben wir, nicht?«

»Ja.«

»Also dann, bis dann. Ich muss rein, ich bin verabredet nachher, du verstehst.«

»Freilich. Schönen Abend.«

»Ebenfalls.«

Schöner Abend, Scheiße schöner Abend. Die Begegnung mit dem Wichtigmacher und Kollegen von Werner hatte gefehlt. Den würde er bestimmt so wenig verhören, wie er mit ihm Schnaps trinken würde nach dem Studio. Der Fall nervte ihn, den würde er so schnell wie möglich zu den Akten legen. Der Besuch bei der Türkin hatte nichts gebracht außer neuem Geschrei. Er hatte sich den Platz zeigen lassen, wo die Messer hingen, er hatte sich zeigen lassen, wie die Frau und ihr Mann den Laden abends verließen, wie sie ihn absperrten. Alles aufregend wie ein verkaterter Sonntagnachmittag vor dem Fernseher. Dann hatte sie wieder wissen wollen, was denn als Nächstes geschehe. Er hatte nichts Tolles auf den Lippen, sie hatte geschrien, er zurück, dann war er gegangen, und die Welt hätte ihn schon jetzt gern haben können. Tina hatte wieder keine Zeit gehabt, sie war weg, als er ins Revier kam, er rief ihr nach aufs Handy, wollte sie einladen und sich den Tag retten. Sie redete von Kreislauf und sich hinlegen und maximal noch ein bisschen glotzen. Er hätte sich dazu gelegt, sagte das aber nicht, sondern wünschte einen schönen Abend – sie auch – und hoffte, dass sie nicht versuchte, mit ihm zu spielen, und ihn zwang, sie das bereuen zu lassen. Er war nach Hause gefahren und hatte seinen Sohn, seinen Oliver, wortkarg vor einem Computerspiel vorgefunden. Er hatte dagegen nichts. Wenn er sich hier abreagierte und auf Nazis und Zombies schoss, würde er draußen den Mitmenschen gelassener begegnen. Freilich widersprachen ihm da die Pädagogen, aber immerhin war er einer, der von wahrer Kriminalität auch ein bisschen Ahnung hatte; und als Fachmann konnte er sagen, dass er wenig Gewalttäter festnahm, die sich mit Computerspielen hochgeheizt hatten, dafür relativ viel Ausländer – wie bei seinem jüngsten Fall. Aber wehe, darüber redete man mal, dann hieß es gleich wieder, man sei Rassist. War Abraham nicht, aber dafür war er auch nicht, für die ganzen Ausländer überall.

Sein Sohn hatte Probleme in der Schule, und eigentlich war das Abraham zu viel, er hatte selbst genug am Hals, sollte der Junge halt diese Klasse wiederholen, er hatte schließlich genug durchgemacht mit seiner Mutter, das dürfte jedem Personalchef als Entschuldigung genügen, und wenn nicht, dann könnte er immer noch zur Polizei gehen. Hauptsache, Abraham verlor nicht seinen besten Kameraden, seinen Sohn.

Jetzt würde er etwas für seinen Körper tun und sich den Frust rausschwitzen, später würde er sich heillos und gründlich besaufen. Er wunderte sich, warum er sich nicht besser fühlte.

*

Birne hatte jetzt seinen einsamen Abend. Er schlief schlecht, irgendetwas kratzte im Hals, er schaute eine Stunde und 24 Minuten an seine Zimmerdecke. Die war furchtbar montiert. Sie war verzogen, Latten waren zu kurz geschnitten, sie war in zwei Farben, die dieselbe sein sollten, gestrichen. Birne verstand nichts davon, aber wer auch immer das gemacht hatte, war ein Pfuscher.

Birne schlief ein, ohne einen Entschluss gefasst zu haben.

5. Tag

Der letzte Tag der ersten Woche. Birne erwachte mit dem zufriedenen und guten Gefühl, einen kleinen Berg bestiegen zu haben. Was würde der Tag bringen? Birne konnte es schaffen, er konnte ein neues Leben haben, wenn er wollte. Nichts bereitete ihm Sorgen. Er hatte eine Zeitung, er hatte ein beinahe zwischenfallloses Frühstück: Ein bisschen Kaffee lief auf den Tisch. Was sollte es? Ein Lappen, nass gemacht, weggewischt und sich auf den Weg begeben.

Es war halt ein Tag, ein Freitag. Er war angekommen.

Ohne sich mehr zu denken, ging er zur Arbeit, zu seinem Büro, das sich zu seinem kleinen Reich entwickelte. Er wollte den Tag gemütlich beginnen, ein bisschen im Internet nach Neuem schauen, vielleicht eine aufregende Band entdecken oder eine schöne Videoseite, entspannt in den Tag hineinschaukeln und ihn vergehen lassen. Im Wesentlichen kümmerte sich niemand um das, was er tat, er ließ sich treiben und erschien in der Regel zur Mittagspause, um sich mit den Kollegen in Konversation und Mahlzeit zu ergehen.

Eine Überraschung erwartete ihn, zwar eine, die seine Pläne, so man sie schon so bezeichnen durfte in ihrer Richtungslosigkeit, durcheinanderbrachte, aber nicht in einer von Haus aus unangenehmen Weise. Die Praktikantin war da, den ganzen Tag in seinem Büro, ihm gegenüber geparkt.

Sie sagte »hi« und »ich bin die Alexa.« Und er sagte »hi« und »ich bin der Birne.«

»Birne? Einfach Birne.«

»Für dich einfach Birne.«

Sie wurschtelten eine Weile vor sich hin, sie bot sich an, Kaffee zu kochen für die Mannschaft, die Mannschaft nahm dankend an und schlürfte dann kräftig.

Sie schrieb E-Mails, als Birne fragte: »Wie war’s mit dem Chef unterwegs?«

»Nett.«

»Nett?«

»Nichts Besonderes.«

»Wie lange bist du da?«

»Jetzt schon oder wie lange noch?«

»Beides.«

»Also, ich bin jetzt zwei Wochen da und bleib noch vier.«

»Dann bist du ja länger da als ich. Und? Wie gefällt’s dir?«

»Gut.«

Sie hatte zahnfleischige Lippen und kleine Zähne, das störte Birne ein bisschen in seiner Konzentration, so ein Mädchen.

»Was machst du?«

»Also, ich hab jetzt mein Abitur fertig und dann hab ich eine Weile gearbeitet und werde jetzt dann anfangen zu studieren. Hier. Tourismus.«

»Bist du von hier?«

»Kann man sagen, aus der Gegend.«

»Und willst nicht fort?«

»Nein, niemals, hier sind alle meine Freunde und die Gegend ist am schönsten.«

»Deswegen Tourismus.«

»Wir haben hier viel Tourismus. Ich hab mir auch überlegt, eine Lehre zu machen, dann hab ich aber nicht gewusst, was ich machen soll und dann hab ich mir gedacht, dass ich vielleicht zu alt bin, wenn’s mir nicht gefällt und ich doch noch studieren will.«

»Ist logisch. Die Zeit ist kostbar.«

»Ich kenne halt viele, die ihre Zeit im Studium vertrödeln und später, wenn sie fertig sind, fast nichts finden, weil sie zu alt sind, und das will ich gar nicht: irgendwas machen, was ich gar nicht will, nur weil ich zu alt bin. Und dann bin ich halt eine Frau, Stichwort Kinder kriegen und so weiter, das spielt auch eine Rolle.«

»Klar. Hast du denn einen Freund?«

Sie zögerte. »Nein. Ja, der ist grad weg.«

»Zivildienst?«

»Nein, auch Praktikum, die haben ihn doch ausgemustert, weil sie nicht so viele brauchen zurzeit.«

»Ist ja auch kein Spaß mehr heutzutage, muss man ja immer damit rechnen, dass man ins Ausland zum Einsatz muss und da kann es immer sein, dass sie dich in die Luft sprengen, auch wenn du nur Wehrdienst leistest. Andererseits ist die Bezahlung auch gut und gleich noch viel besser, wenn du nur ein Vierteljahr hinhängst.«

»Hast du das gemacht?«

»Nein.«

»Kennst dich aber gut aus damit.«

»Hat mir jemand genau erzählt«, sagte Birne, weil ihm Reden im Moment gefiel, weil egal war, was er sagte. »Und dann will dein Freund das Gleiche studieren wie du?«

»Nein, der will weg, vielleicht nach Kiel.«

»Nach Kiel? Leck mich, das ist ganz das andere Ende.«

»Jetzt weiß ich halt nicht, was ich tun soll, weil ich keine Lust auf Fernbeziehung habe.«

»Kann ich gut verstehen. Das geht schief, eher früher als später.«

»Meinst du?«

»Sicher, ich kenne niemanden, bei dem das lange gehalten hat. Immer große Worte und dann war die Liebe schnell überschätzt, gerade wenn die Sprüche und Versprechen besonders groß waren.«

»Da ist was dran.«

»Was will er denn studieren?«

»Volkskunde.«

»Volkskunde?«

»Ja.«

»Scheiße.«

»Scheiße?«

»Scheiß Volkskunde.«

»Wieso Scheiß Volkskunde? Weil das so brotlos ist?«

»Quatscho. Volkskunde ist nicht brotlos, nicht für einen, der wirklich was will, da musst du dir keine Sorgen machen. Aber Volkskunde: Mensch, viel zu viele Frauen, da hat jeder was laufen, im ersten Semester noch.«

»Nein, das ist ja schrecklich.«

»Was heißt schrecklich? Wenn man’s weiß, dann kann man sich darauf einstellen.«

»Ich mach Schluss.«

»Nein, das wollte ich nicht. Mach nicht Schluss.«

»Doch, das hat eh keinen Wert mehr.«

»Versteh mich nicht falsch, wahrscheinlich ist das bei euch ganz anders. Ich meine, gerade die, die sich die größte Liebe vom Himmel runterschwören, sind die Gefährdetsten.« – Birne verhaspelte sich schwer bei dem Wort. Alexa half ihm sprachlich wieder auf die Bahn, Birne bedankte sich und beide fanden es im Augenblick sehr reizend. »Bei euch ist das anders, ihr könnt euch und eure Gefühle schon einschätzen. Darf man fragen, wie lang ihr schon zusammen seid?«

»Schon viereinhalb Jahre und zwei Monate.«

»Das ist grandios. Wie alt bist du?«

»Bald werd ich 19.«

»Und dann seid ihr schon so lange zusammen, das ist prima, das hält. Mach dir da keine Sorgen, die meisten in deinem Alter haben ja noch gar keine Erfahrung mit der Liebe, die haben bisher nur gespielt, aber du, das merk ich doch, du bist da schon viel reifer.«

»Ich mach trotzdem Schluss.«

»Hoffentlich nicht meinetwegen oder wegen dem, was ich gesagt habe.«

»Nein, ich habe es mir schon länger überlegt. Außerdem wie kommst denn du dazu, mir Ratschläge in der Liebe zu geben, du bist doch selbst nicht viel älter. Was willst denn du schon erlebt haben?«

Sigrid kam zur Tür herein: »Na, ihr zwei Turteltäubchen?«

Jetzt beging Alexa einen Fehler, indem sie fragte, etwas erschrocken: »Kann man uns da hören im anderen Raum?«

Und Sigrid beruhigend und wahrscheinlich verlogen: »Nein, nur dass ihr redet, nicht was.« Sie schwenkte einen Mondkalender. »Habt ihr schon reingeguckt? Heute ist schlecht Bier trinken, überhaupt Alkohol: Finger weg – heute. Ich sag’s nur, weil ich euch doch kenne, euch jungen Leute, ich war doch selbst mal jung und bin weggegangen. Dafür ist heute gut Kohlenhydrate essen – Brot, Kartoffeln, Nudeln. Würd ich ausnutzen, das Zeug macht sonst dick, da muss man aufpassen, ihr noch nicht in eurem Alter, aber da kommt ihr früh genug drauf; die Zeit vergeht so schnell, als Kind merkt man das gar nicht, wenn man nur immer wartet auf Weihnachten oder die großen Ferien, aber spätestens ab 30, da flutscht es nur so dahin mit der Zeit. Es sind die Kinder – da hat man dann Kinder oder die Freunde von einem haben welche, und an den Kindern merkt man, wie man alt wird, sagt nicht umsonst der Volksmund, nicht wahr?«

Birne wollte gerade aufstehen und den Knopf suchen, mit dem man sie abstellen konnte, da hörte sie von selbst auf und stand sprachlos vor dem Worthaufen, den sie eben abgelassen hatte. Man hätte Schaufel und Besen holen und ihr zusammenkehren helfen sollen, aber das ging ja nicht: Worte sind, einmal entlassen, nicht mehr zurückzuholen und auch nicht wieder zu verwerten, sie sind weg und wirken da draußen, außerhalb vom Mund, aus dem sie geflogen sind.

»Ich bin nicht mehr jung«, sagte Birne.

»Papperlapapp, natürlich bist du noch jung, Birne. Wie gefällt’s dir denn, Birne? Hast du dich hier schon eingelebt, Birne?«

»Passt schon.«

»Alexa, Sie müssen ihm unbedingt ein wenig die Gegend zeigen.« Sigrid siezte Alexa. Interessant. »Das ist wichtig für Ihre Arbeit hier, dass Sie den anderen was zeigen können, ihnen eine Gegend schmackhaft machen können. Wart ihr schon wandern? Ihr müsst unbedingt wandern. Am Sonntag, sagt der Mondkalender zum Beispiel, wär ein optimaler Tag.«

»Für Leibesertüchtigung?«, fragte Birne.

»Für Leibesertüchtigung«, wurde ihm bestätigt.

»Ist oft Leibesertüchtigung.«

»Ja, wenn der Mond so steht. Heute auch, aber heute kommt ihr nicht mehr hoch, das ist zu spät. Geht doch am Sonntag.« Sie würde sie nicht in Ruhe lassen, bis sie ihr schworen, auf den Berg zu gehen am Wochenende.

»Ich denke, ich geh da auf jeden Fall mal raus aus der Stadt in die Umgebung, ist eine höllenschöne Umgebung hier, nicht?«, sagte Birne.

»Unbedingt. Wegen der Stadt brauchst du nicht ins Allgäu zu gehen, hier ist Landschaft, hier ist Natur. Wart erst bis zum Winter, dann kannst du Skifahren.«

Birne konnte der gesamte weiße Sport gestohlen bleiben wie Migräne, das waren ihm, sogar ihm, viel zu viele Umstände für viel zu wenig Fun. Bier konnte er auch woanders bekommen, das wusste er.

»Schön, dass ihr es packt, junge Leute, das passt vom Tempo, ich würde es dir auch gern zeigen, das Wandern, aber auf mich müsstest du immer warten. Wenn man älter wird, dann machen die Füße zu viele …«

»Das glaub ich nicht, du bist doch trainiert, das sieht man doch«, probierte Birne, ob sie eventuell auf Komplimente aus war.

»Nein«, sagte sie. »Hast du passende Schuhe? Schuhe auf dem Berg sind das Wichtigste. Der Berg steigt und fällt mit den Schuhen.«

»Klar hab ich Schuhe.«

»Ich würd sie gern sehen, dann könnt ich dir sagen, ob du damit raufkommst.«

»Ich hab sie nicht da. Ich komm doch hier zum Arbeiten her und nicht zum Wandern.«

»Wird schon passen.«

Passte einen Scheißdreck, Birne hatte keine Schuhe, er wollte nur nicht mehr der alten Frau zuhören, der Frau, die sich für ihn alt machte, die ihn auf dem Berg haben wollte mit dem Mädchen neben ihm. Was hatte die davon? Woher kam diese Herzlichkeit? Soff sie?

Sie ging weg.

Alexa wollte wissen: »Willst du wirklich was unternehmen am Wochenende?«

Birne fühlte sich in der Enge, er hatte eine Menge Dinge hier, die seine Anwesenheit erfordern könnten, andererseits könnte es unter Umständen auch gut sein, weg zu sein, nicht greifbar für irgendjemanden.

»Wieso nicht?«

»Hast du ein Auto?«

»Nein.«

»Ich könnt mir eins ausleihen von meinen Eltern, ist bequemer als mit meinem Roller; du müsstest mir halt sagen, wo ich dich abholen soll, wo du wohnst.«

»Fährst du sonst Roller?«

»Normalerweise reicht’s zum Badenfahren an einen See im Sommer.«

»Wär auch mal nett.«

»Freilich, sobald Sommer ist, machen wir das auch mal.«

Er erinnerte sich, dass er zum Tee verabredet war, dass er für die Mittagspause die anderen abschütteln musste.

Als er antwortete: »Ich bin verabredet«, war Werner verwundert, erwiderte aber nichts, hätte aber so gern – das sah Birne – einen Witz gehabt zum Reißen. Er schaute zu Alexa, versuchte ein Lächeln und sagte: »Capito.«

»Nix capito«, sagte Birne.

»Wo geht ihr sonst immer hin?«, fragte Alexa, die er auch noch loswerden musste, nachdem Werner auf dem Weg war.

»Unterschiedlich.«

»Es gibt in der Nähe einen Döner, der ist nicht schlecht.«

»Hab ich schon probiert, ist gut.«

»Gehst du da heute hin?«

»Nein, ich bin verabredet.«

»Verstehe.«

»Was?«

»Mit einer Frau?«

»Nein, ich hab keine Frau.«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Du, ich bin erst eine Woche hier. So schnell geht das nicht.«

»Glaubst du nicht an die Liebe auf den ersten Blick? Wenn es die Richtige ist, merkst du das gleich.«

»Muss nicht sein, kann sein, dass man sich erst eine Weile anschauen muss.« Er starrte sie solange an, bis sie lachte.

»Und? Geht schon was?«

»Moment. Ja, ja, ich glaub, da kommt was, ja, ja, oh nein, das war wieder nur mein Magen. Scheiße. Aber lass es uns nach dem Mittagessen noch mal probieren. Mit leerem Bauch verliebt es sich so schlecht.«

»Kann ja sein, dass es jetzt klappt, ich wünsch dir das Beste.«

»Und wenn das Beste ist, dass ich nach dem Essen noch frei bin?«

»Das Beste.«

»Du kannst ja schon mal Schluss machen.«

»Mal sehen.«

Sie ließ ihn aufbrechen.

Der andere Laden, der des Bruders, war ein bisschen größer, ein bisschen mehr Wirtschaft. Die Frau Kemal wartete auf ihn, und Birne fragte sich, wer denn ihren Laden gerade hütete.

»Unser ältester Sohn kann das übernehmen. Kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen?« Frau Kemals Bruder war groß und stämmig, hatte riesige Augenbrauen und ein lachendes Gesicht. Er trug ein schwarzes Unterhemd und eine dicke Kette darüber. Birne mochte ihn irgendwie.

»Hallo«, sagte er mit lauter Stimme und deutete auf einen Tisch mit drei Stühlen. »Setzt euch, ich komm gleich.«

Frau Kemal sagte leise, als ob es niemand hören dürfte. »Mein Bruder hat eine deutsche Frau, sie hilft manchmal hier im Geschäft, sonst geht sie zur Arbeit.«

Birne überlegte, was er mit dieser Information anfangen sollte. Der Bruder kam, stellte ein Tablett mit drei kleinen Teegläsern hin und setzte sich dazu.

»So«, sagte er. »Haben Sie sich entschieden, Herr Birne?« Sie mussten seinen Namen vom Briefkasten abgelesen haben.

»Ich weiß immer noch nicht genau, was Sie von mir wollen.«

»Herr Birne, wir sind in gewisser Weise in einer Not­situation. Aber selbstverständlich würden wir uns erkenntlich zeigen.« Frau Kemal schaute Birne groß an und war zur Verstärkung neben ihren Bruder gerückt, während der Daumen und Zeigefinger aneinander rieb, um Birne klarzumachen, dass Geld dabei rausspringen würde.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir überhaupt nicht um Geld. Wenn ich Ihnen wirklich helfen kann, dann will ich dafür nichts annehmen, verstehen Sie?«

»Ich will niemanden anderen jetzt mehr fragen. Ich will Sie, Herr Birne«, sagte der Bruder, als wäre das irgendeine Antwort auf Birnes Bedenken. »Wir Türken haben es nicht leicht in Ihrem Land, so schön Ihre Politiker auch reden. Ich will mich nicht beklagen, man kann sich hier einrichten.« Er schaute sich in seinem Gastraum um. »Trotzdem fühlt man sich gelegentlich als Mensch zweiter Klasse, verstehen Sie.« Birne nickte. »Es heißt immer typisch Türke, wenn irgendwas war. Gerade in dieser Stadt, die sehr schön ist, das mag ich gar nicht abstreiten, aber ich komme hier ungern in Schwierigkeiten.« Er schaute Birne groß an.

»Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«

Frau Kemal mischte sich wieder ein: »Das kommt vom Eindruck. Sie sind sympathisch. Ich habe Sie helfen gesehen.«

Das stimmte, sie hatte ihn vorher nur der Frau Zulauf den Schrank hochtragen sehen. »Es ist auch für die arme Frau Zulauf«, fuhr sie fort. »Ich will, dass ihr Mörder gefunden wird.«

»Sehen Sie, ich habe selbst eine deutsche Frau.« Birne fragte sich wieder, was der Bruder ihm damit sagen wollte.

»Wieso macht die das dann nicht?«

»Machen Sie es«, sagte Frau Kemal, beugte sich weit zu ihm vor und hätte beinahe ihre Hand auf seine gelegt.

Birne war irgendwann in der Nacht schon mal näher dran gewesen, ja zu sagen. Im Moment kam ihm das alles wieder eigenartig vor.

Frau Kemal begann, in ihrer Handtasche zu kramen und nebenbei Birne zu beobachten, auch der Bruder schaute fest auf ihn. Birne war das unangenehm, er trank seinen Tee, der lauwarm wurde, sagte »Ich weiß nicht.«

Der Bruder lächelte ein ungeheuer gewinnendes Lächeln und sagte überhaupt nicht bittend: »Bitte.«

Birne wäre gern woanders gewesen. Frau Kemal hatte gefunden, wonach sie gewühlt hatte, und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch: »Hier sind sie, die Schlüssel.«

»Können Sie vielleicht heute schon rein? Mein Schwager hat eine sehr ungute Zeit im Gefängnis.«

»Oh ja«, bestätigte Frau Kemal ihren Bruder in einer Unterwürfigkeit, die ihm neu an ihr war. Die versuchten, ihn kleinzukriegen. Birne hatte generell ein Problem mit dem Neinsagen, hier war es besonders schwer.

»Ich will es probieren«, sagte er.

»Wunderbar«, lobte der Bruder. Und Frau Kemal wurde konkreter: »Wenn Sie in der Wohnung sind, sehen Sie auf den Fernseher, dort steht ein Bild von einem Kind, das ist der Enkel, dahinter steht eine Dose, darin müsste das Geld sein. Seien Sie vorsichtig, ich denke, es ist nicht wenig.« Sie schob den Schlüsselbund zu ihm herüber, daran hingen ein Haustürschlüssel, den hatte er selbst, ein Briefkasten- und ein Wohnungsschlüssel. Zögernd griff er danach.

»Kann ich Ihnen noch etwas ausgeben?«, fragte der Bruder, um Birnes Entschluss zu beschleunigen.

»Nein, danke; ich muss zurück ins Geschäft, meine Mittagspause ist vorbei.«

»Vielen Dank.«

Sie ließen ihn aufstehen und sich verabschieden, schauten ihn fest an, wie er die Schlüssel in die Hose schob und sich langsam hinaus. Benommen trat er an die Sonne und ging zurück. Was hatte er getan? Musste er den zweiten Schritt gehen? Wem hatte er sich verpflichtet? Hatte er etwas unterschrieben? Er wusste nicht einmal, ob das so richtig illegal war, was er da tun sollte. Und während er ging, kam was Neues in seine Nase, das war der Geruch von Abenteuer. In die Wohnung einer Ermordeten eindringen, in ihren Resten wühlen – und einen Unschuldigen aus den Ketten einer ungerechten Justiz loseisen.