Czytaj książkę: «Tatort Alpen», strona 4

Czcionka:

Man kann sagen, dass es schlimm endete. Insgesamt. Bruno schlief ein, kurz nachdem Erwin sich leise verzogen hatte. Werner schlug vor, ihn so zu lassen, sich aus dem Staub zu machen. Er bat Birne, ihn in seinem Auto heimzufahren, er könne gern bei ihm übernachten, müsse aber versprechen, seine Frau in Ruhe zu lassen. Birne lehnte das Angebot ab, bot ihm aber an, ihn nach Hause zu fahren, er freute sich auf einen kleinen Spaziergang.

Werner über Bruno: »Über den brauchst du dich nicht zu wundern. Dem ist die Frau davon.« Das waren seine letzten Worte, bevor er aus dem Auto stieg, das heißt, er zögerte kurz, als ob ihm gerade einfiele, dass ihm seine letzten Worte peinlich sein sollten, weil ihm sein neuer Kollege Birne auch etwas von Frauen erzählt hatte, die ihn verlassen hatten.

Und im Stehen neben dem laufenden Motor sagte er noch, damit Birne nicht etwa dachte, er gehöre jetzt auch zu den Leuten, bei denen man sich über nichts wundern müsse: »Dann geh ich jetzt mal rein zu meiner und hör mir an, was die zu sagen hat zu unserem Ausflug. – Stell das Auto da vorn an die Straße und vergiss nicht abzusperren – im Kofferraum ist ein Gewehr, das darf nicht in die falschen Hände kommen. Den Schlüssel kannst du mir in den Kasten schmeißen, mein Freund.«

Freund – Birne hatte einen Freund hier. Eine gute Laune, die er sich zum Teil auch hergesoffen hatte mit zwei Weizen, trug ihn nach Hause – ins Mordhaus. Es waren 20 Minuten zu Fuß, das war in Ordnung, das war, was er wollte und gut vertragen konnte. Ein bisschen den Tag durchdenken, ein bisschen frische Luft, ein bisschen Alkohol abbauen, aber viel war’s ja nicht, das konnte ihm nichts anhaben morgen und seiner Birne. Birne grinste. Er schloss die Haustür auf, und seine Bewegungen wurden langsamer: Hinter der Tür der Ausländer brannte noch Licht, das hatte er von draußen gesehen, unter dem Licht wurde noch laut debattiert, das hörte Birne jetzt vor der Tür; er verstand nichts, es war zu leise durch die Tür, um einschätzen zu können, ob er hätte etwas verstehen können oder ob es eine andere Sprache sowieso gewesen wäre. Für die war das ja etwas Aufregendes, die hatten das nicht oft, auch nicht in der Heimat, da muss man sich nicht wundern, dass die noch diskutierten. Die würden ihn noch ansprechen, so etwas schweißt zusammen.

Birne ging die Treppe nach oben, dachte: Wieso musste die alte Frau mit ihren Jahren im ersten Stock wohnen und sich diese Treppe für jede Tüte Milch, die sie einkaufte, hi­naufschleppen? Der hatte er den Schrank hinaufgeschleppt. Ob für sie an dieser Wohnung irgendeine Erinnerung hing? An ihren Mann? An die schönen Jahre?

Dort, hinter dieser stummen Tür, hatte es sich ereignet, dort war das alte Blut geflossen nach den Stichen.

Die Tür war versiegelt. Birne interessierte das, er ging vorsichtig hin, leise, als ob jemand im Treppenhaus lauschte, wie der Mörder zum Tatort zurückkehrte. Aber der saß ja praktisch schon, wenn jener Bruno keine Sprüche gemacht hatte. Das konnte auch sein. Birne fragte sich, ob er morgen wieder seine Zeitung haben würde, ohne früh aufstehen zu müssen und damit den kleinen, seinen Fall, auch gelöst hätte.

Der Tür war nichts anzusehen von dem Verbrechen und auch nicht, dass die Polizei dahinter Spuren festmachte. Ob sie schon fertig waren? Birne wagte kaum zu atmen. Fingerabdrücke sollte er besser keine hinterlassen, aber was war mit DNA-Spuren seines Atems? Er schüttelte seinen Körper, als hätte ihn eine Kältewelle gepackt und lief dann zügig und laut nach oben zu seiner Wohnung, schloss krachend seine Tür auf und war dann daheim. 23.15 Uhr – konnte jetzt auch jedes wache Ohr in diesem Haus bezeugen, falls es noch mal zu einer Befragung kommen sollte.

4. Tag

Wenn man eines sicher am nächsten Tag früh festhalten konnte, dann war es das, dass Werner die Sauferei am Stammtisch nicht gut vertragen hatte. Er kam spät, hatte einen sagenhaft roten Kopf auf und sagte oft leise und manchmal auch lauter »Scheiße« – ohne Grund und bei Kleinigkeiten.

Birne hielt einen Sicherheitsabstand. Was sollten sie reden? Er wusste doch, wie das war. Wenn man schon nicht liegen bleiben konnte, dann sollte man wenigstens seine Ruhe haben. Das sollte man einfordern dürfen in diesem Land, in diesem Jahrhundert. Wenn das mehr Menschen berücksichtigen würden – in diesem Land, in diesem Jahrhundert – dann hätte vielleicht die arme Frau Zulauf nicht sterben müssen und noch ein bisschen ihre Freude an dem Schrank und dem Enkel. Nur so eine Idee Birnes.

Die Mittagszeit nahte. Birne fragte ohne Erwartung. Werner winkte nur ab, war schlecht gelaunt. »Brauch heut nichts, brauch nicht jeden Tag was. Scheiße.«

»Hab ich mir schon gedacht.« Birne ging zurück an seinen Platz, hätte jetzt Tim fragen müssen, hatte überhaupt keine Lust, mit dem zu essen.

Tim kam. »Hast du Lust, was zu essen? Der Werner will nicht, hab ihn gerade gefragt. Aber was ist mit dir? Wir können auch mal woanders hin. Wie wär’s mit asiatisch? Magst du asiatisch? Der Werner nicht. Aber du – du bist jünger. Wir könnten asiatisch. Ich weiß was. Nicht weit.«

»Du danke, du, ich steck hier in was fest, kann gut sein, dass ich heute gar nicht gehe.« Birne schaute konzentriert auf seinen Bildschirm.

»Ich könnte ein Weilchen warten, es hat noch Zeit.«

»Ich denk, es wird eher nichts bei mir, geh nur.«

Tim war verdammt schwer abzuschütteln. Als es endlich geschafft war, wartete Birne noch vier Minuten, lief einen kleinen Gang an allen Arbeitsplätzen vorbei, um sicher zu sein, dass sein Mittagskollege wirklich weg war, und machte sich dann selbst auf den Weg zum Essen, nicht zum Korbinian – die hatten in letzter Zeit genug Geld von ihm bekommen – nein, einfach mal laufen und schauen, was der Magen meint.

*

»Wir können auch ganz anders verhandeln, wenn Sie mir drohen wollen, Frau Kemal. Wer will denn hier was von wem, ha?«

Die Frau im Stuhl vor ihm schluchzte. Wem gegenüber sollte er jetzt noch behaupten, er liebe seine Arbeit? Er wollte nicht so sein, er musste es. Die Umstände.

»Na na, jetzt beruhigen Sie sich doch, Frau Kemal. Wenn wir uns jetzt aufregen, helfen wir Ihrem Mann doch auch nicht, der kriegt das nicht mal mit in seiner Zelle.«

Die Frau schrie auf.

»Herrgott noch mal, so beruhigen Sie sich doch.«

Jetzt sie: »Sie sind doch alle total ausländerfeindlich hier. Wir haben nie jemandem was getan, nur weil wir Türken sind.«

Sie hatte ihr schwarzes Haar hinter ihrem runden Kopf zusammengebunden. Bruno fragte sich, ob das Gesicht mal hübsch gewesen war, er meinte schon, wollte es sich aber nicht vorstellen. Die Backen waren dick, die Augen zu tief in ihren Höhlen, aus denen sie beinahe bösartig funkelten. Ein leichter Flaum zeichnete sich um das vielleicht 40-jährige Kinn ab, auf dem eine kleine Warze wuchs. Die Frau nahm an Gewicht zu, sie war wahrscheinlich mal eine unglaubliche Schönheit gewesen, die im wachsenden Unglück und der Feindseligkeit allerortens unter den Menschen und der zu vielen Arbeit schneller verblühte, als normal war.

Nun saß sie vor ihm und schimpfte ihn einen Nazi, und er wünschte sich, dass sie das nicht täte, er hätte ihr sogar ganz gern geholfen. Aber diese Lust schwand.

Er hatte nie von Morden geträumt. Das brauchte man nicht, um eine Arbeit bei der Polizei als befriedigend zu empfinden. Man träumte nicht davon. Es war auch nicht der schrecklichste Anblick, den man je zu ertragen gehabt hatte. Wenn man da stand, wollte man wissen, worum es ging, wollte die Umstände und die Spuren sehen und verstehen. Da war der Ekel auf einmal ganz klein und unwichtig. Man wollte wissen, wann das Herz zum letzten Mal das Blut aus dem Körper der alten Frau gepumpt hatte. Man wollte wissen, wann sie zum letzten Mal geröchelt, wann sie den letzten Gedanken hatte und wohin der ging. Man wollte wissen, ob der Mörder noch einen Blick auf den Leib geworfen, er noch mal nachgedacht hatte über das, was er da gerade veranstaltet hatte, bevor er zur weiteren Tat schritt und die Schubladen nach Beute durchwühlte.

Bruno Abraham hatte gedacht, es würde jetzt alles furchtbar kompliziert werden, sie würden in einem Kriminalfall stecken, eine abweichende Spur verfolgen, die ihnen der raffinierte Mörder gelegt hatte, feststecken, depressiv werden, irgendwann eventuell Glück haben und durch einen Zufall den Schlamassel lösen oder die Sache vergessen.

Aber beinahe banal war die Lösung gekommen in kurzer Zeit. Vielleicht drückte einen so ein Mord dermaßen aus seiner Normalität, dass man nicht nur etwas übersah, was die Fahnderaufmerksamkeit auf einen als Mörder lenkte, sondern dass man praktisch alles verkehrt machte, was man in so einem Fall verpfuschen kann. Aus Aufregung, aus schlechtem Gewissen oder von Natur aus.

Anders konnte sich Bruno das Zustandekommen der Lösung dieses Falles nicht zusammenreimen.

Trimalchio hatte am Tag zuvor angerufen, hatte ihm von einem Mord erzählt und dass er sofort kommen solle. Bruno hatte aufgelegt und war kurz ziemlich aufgeregt, ja, er hatte sich sogar ein bisschen gefreut. Ein Mord.

Er war mit seinem Auto zum Tatort gefahren. Ein unscheinbares grünes Mietshaus, nicht weit von der Fachhochschule. Da lief der Betrieb ohne Rücksicht auf die Vorkommnisse in der Nachbarschaft. Polizeiautos auf der Straße vor dem Haus, vier, ein Kombi. Er hatte seine Kollegen gegrüßt. Sie waren nervös, versuchten aber, ruhig und routiniert zu wirken. Trimalchio stand im Hausgang, hatte einen Mantel über seinem Sakko und seiner Jeans an. Mit seinen Locken und dem leichten Grinsen, mit dem er seinen Chef Bruno Abraham erwartete, schaute er aus wie ein sportlicher italienischer Tatort-Kommissar. Einer, der die Frauen lässig um den Finger wickelt und so aus ihnen jede Information bekommt und den Fall in 90 Minuten löst und dann zu Frau und Kindern heimkehrt. So lange würden sie diesmal auch brauchen, ungefähr.

»Was ist passiert?«

»Eine alte Frau, sie muss seit Jahrzehnten hier leben, wurde heute Mittag gefunden.«

»Aha.«

»Die Tatwaffe: ein Messer mit einer ungefähr 50 Zentimeter langen Klinge. 17 Stiche in den Thorax. Saubere Arbeit.«

Thorax? Abraham überlegte, was er jetzt noch fragen könnte, bevor er bat, zur Leiche geführt zu werden, um sich selbst ein Bild zu machen. Er war gespannt, wie sehr er sich zusammenreißen müsste, um bei dem Anblick die Würde zu bewahren und sicher seine Anweisungen geben zu können.

»50 Zentimeter?«

»Ein sogenanntes Kebabmesser.«

»Das sollten wir festhalten.«

»Haben wir schon, die Waffe lag noch hier.«

»Prima. Wie alt war die Frau?«

»Mitte 80.«

»Ja, dann hätte man doch warten können.«

Trimalchio lachte auf und sagte dann: »Jetzt pass auf, es wird noch heißer.«

»Ja?«

»Auf dem Messer waren Fingerabdrücke.«

»Nein.«

»Doch, und auch in der restlichen Wohnung.«

»Schon identifiziert?«

»Sieht gut aus.«

»Erzähl.«

»Du hast nicht gefragt, wer die Leiche entdeckt hat.«

»Wer hat denn die Leiche entdeckt?«

»Die Nachbarin.«

Die Männer schauten sich schweigend an.

»Und weiter?«

»Eine Türkin.«

»Jetzt pass auf.«

»Habe ich mir auch gedacht. Jetzt hör zu. Also sie ruft an heute gegen 9, wollte grade raus und mir eine Leberkässemmel holen, deswegen krieg ich es mit und nehm mir den Hörer von der Frau an der Telefonzentrale. Ein Deutsch mit Akzent, aber ziemlich fehlerfrei, eine Frau erzählt mir, sie mache sich Sorgen um ihre Nachbarin, es sei so still und die Zeitung noch im Kasten, was nie vorkomme, ob wir mal nachschauen könnten. Ich lache sie laut aus, sage ihr, sie solle sich beruhigen, wahrscheinlich ist sie auf einer Kaffeefahrt oder Ähnlichem. Die Frau legt auf. Ich geh, komm wieder mit meiner Semmel, keine zehn Minuten später, und die Maier hat jemanden am Telefon und weiß sich nicht zu helfen. Du kennst sie: Guter Mensch, aber von der Psychologie und den Nerven völlig überfordert, sie kommt in die Jahre, guter Mensch.«

Abraham hätte jetzt gern die Leiche gesehen.

»Auf jeden Fall ist wieder die ausländische Frau mit ihrer Stimme dran und ich übernehme sie, versuche relativ erfolglos, sie runterzubringen, bringe sie immerhin so weit, dass sie sich still in ihre Wohnung setzt und wartet, bis ich bei ihr bin. Bin selbst gefahren und sofort, habe mir dabei Senf auf den Handrücken gebracht. Da!«

Abraham schaute und dachte sich: Selbe Wellenlänge nur zum Teil, Trimalchio ist ein Wichtigmacher und Streber, dem’s an Grips fehlt, kein Wunder, dass er, Abraham, auf seinem Stuhl saß und nicht der, der seit Jahren an ihm sägte und ihm jetzt gegenüberstand und so umständlich ausführte, was passiert war. Andrerseits, dachte Abraham, sitzt jeder auf seinem eigenen Stuhl, ein Stuhl hat wenig Persönlichkeit, sodass erst durch das Sitzen von jemandem der Stuhl zum Stuhl von jemandem wurde. Abraham sagte nichts und ließ den Kollegen weiterreden.

»Die Frau war hysterisch, hatte ihren Mann kommen lassen – die beiden betreiben einen Kebabstand nicht weit von hier – er war relativ gelassen. Ich weiß, das hätte mich stutzig machen müssen. Egal. Weiter: Sie erklären mir, dass nebenan die tote Frau Zulauf wohnt, dass sie zu ihr die besten Beziehungen haben und so weiter. Sie haben aber nicht nur Beziehungen, sondern auch einen Schlüssel, angeblich von der Frau selbst ausgehändigt für den Fall, dass mal was passiere. Den Schlüssel hat sie benutzt, nachdem sie uns zum ersten Mal angerufen hat, und ist in die Wohnung und hat das Opfer, Frau Renate Zulauf, dort in ihrem Blut und erstochen aufgefunden. Sie hat, ohne etwas anzufassen, die Wohnung verlassen und uns angerufen, was das völlig Richtige in dieser Situation war, das habe ich ihr auch gesagt.«

»Wie lange ist denn das Opfer nicht mehr unter uns?«

»Sie meinen, seit gestern früher Nachmittag.«

»Noch Zeugen?«

»Im Haus?«

»Zum Beispiel. Wir gehen nachher rum.«

Jetzt fiel Abraham was ein, jetzt fühlte er sich stark. »Warum ist das noch nicht geschehen?«

»Können wir sofort veranlassen, hör nur kurz den Rest an.«

»Nein, veranlass du, ich schau mir derweil die Leiche an.«

Trimalchio führte ihn in die Wohnung und übergab ihn dort einem Uniformierten, der ihn auf dem Weg zur Küche begleitete und dort auf eine tote Frau auf dem Boden wies. »Da.«

»Aha.«

Kollegen wuselten, nahmen Fingerabdrücke, einer fotografierte, einer kniete neben der Toten und schaute sie genau an, ein weiterer packte kleine Gegenstände in Plastiktüten, gerade war er an einem Salzstreuer, und Abraham dachte, dass das hier vielleicht auch das Bescheuertste war, das er jemals mitgemacht hatte. Vielleicht sollte man es generell sein lassen, der Presse mitteilen, dass jemand den perfekten Mord geschafft habe und weiterziehen.

Vor ihm lag eine tote Frau mit Messerstichen in der Brust, eine alte Frau. Er wusste nicht, ob von ihm jetzt erwartet wurde, dass er niederkniete. Er tat es und roch etwas an ihrem Rücken. Alte Frau halt. Blut konnte er keines sehen bis auf das, das ausgelaufen war, es war überraschend, wenn auch nicht verdächtig wenig, denn die Frau war nach vorne gefallen, um zu sterben.

Er stand auf und suchte Trimalchio, er wollte jetzt dessen Stimme hören, er ging aus der Wohnung im ersten Stock und lief dem Inspektor fast in die Arme.

»Und?«

»Es war niemand da, aber ich schicke später noch mal jemand rum.«

»Ist in Ordnung. Was ist sonst noch passiert?«

»In den letzten fünf Minuten?«

»Nein, so insgesamt. War denn die Tür aufgebrochen?«

»Eben nicht. Jetzt kommen wir zu unserem Verdacht. Wir also rein in die Wohnung, finden alles praktisch unberührt nach dem Mord, finden das Messer, finden Fingerabdrücke im Haus, und was dann kommt, nenn es Intuition, nenn es einen Fingerzeig, nenn es eins und eins zusammenzählen. Ich seh das Kebabmesser und denk Türkin, lass also das Finderpaar draußen im Kombi ein paar Angaben zur Person machen und nutz das, um ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen, sag, dass das so üblich ist, und auch in ihrer Wohnung, während sie Angaben machen. Und stell dir vor und glaub es nicht, was die uns innerhalb von zehn Minuten sagen, die Kollegen mit dem fahrbaren Köfferchen, dem mobilen Labor.«

Trimalchio blickte Abraham wieder so an. Das sollte eine spannungserzeugende Pause sein. Abraham konnte sich denken, was jetzt kam und freute sich darüber, denn das konnte bedeuten, dass das Ding hier schnell gelöst sein würde.

»Der Mann, der das Kebabmesser geführt hat, und der Mann der Türkin, der Nachbar der armen Frau Zulauf, sind – derselbe.« Bingo.

»Und was ist dann passiert?«

»Wir haben ihn vorläufig unter dringendem Mordverdacht festgenommen.«

»Und die Frau?«

»Die wollte mit.«

»Wie mit?«

»Na ja, halt mit ihrem Mann. Sie ist in ihrem Auto dem Streifenwagen nachgefahren und macht jetzt irgendwo anders einen Riesenradau. Früher oder später wirst du mit ihr zu tun haben.«

Früher oder später war jetzt geworden – der Vormittag, nachdem sie die Leiche gefunden hatte. Sie saß vor ihm, war zunächst glücklich darüber, nun von ihm persönlich vernommen zu werden, aber er konnte doch auch nichts für sie und ihren Mann machen, das war alles ziemlich eindeutig. Und aus ihr bekam er auch nicht mehr raus als Beleidigungen und Vorwürfe, ein Nazi zu sein. Vielleicht war er auch nicht der König der Psychologie, wahrscheinlich würde sich aber dieser Schlaukopf, dieser sogenannte Trimalchio, auch nicht besser anstellen.

Innerlich hakte er den Fall ab. Es war unglaublich, aber halt wahr. Dieser dumme Budenbesitzer war mit dem Schlüssel, den seine Frau verwahrte, in die Nachbarwohnung eingedrungen und hatte die Frau Zulauf ermordet, abgestochen wie ein Schwein. Dann war er – die Details müsste man noch klären – unverrichteter Dinge wieder abgehauen, hatte nicht einmal versucht, seine Tat zu verwischen. Abraham spekulierte: Der Döner hatte sich nicht mehr so gut verkauft, die Allgäuer fraßen wieder mehr Leberkäs zu Mittag, das hatte die Familie in Bedrängnis gebracht – es waren noch zwei Kinder in Schulen unterwegs – und dann hatte er zur einfachen Lösung gegriffen: Die Nachbarin um vermeintliche Millionen im Strumpf unter dem Kopfkissen bringen. Dann hatte das Gewissen allerdings das Vorhaben zu Tode gezwickt. Jetzt hatten sie einen Verdächtigen, Beweise und eine halbwegs plausible Geschichte. Abraham hatte keine Lust mehr, sich von der Keiferin weiter die Zeit klauen zu lassen, hatte sie nun mal jahrelang das Bett mit einem Mörder geteilt, musste sie sich damit abfinden, immer noch besser, als selbst Opfer zu sein. Er hatte noch was vor. Er musste sich noch um den Enkel kümmern. Der sollte noch einmal in die Wohnung und schauen, ob ihm was auffällt, was vielleicht fehlten könnte. Bringt nicht viel, dachte sich Abraham, wahrscheinlich. Der war nicht dauernd da. Und dann hatte er sich noch um seine Müllsünder zu kümmern. Klingt nicht nur banal, ist es auch. Da stirbt eine Unschuldige und keine zwei Tage später reden sie wieder vom Abfall, keine zwei Tage später. Die Frau ist noch nicht einmal beerdigt.

»Frau Kemal, ganz im Ernst: Was wollen Sie, dass ich für Sie tue?«

»Lassen Sie meinen Mann zu seiner Familie zurück.«

»Sie wissen genau, dass das nicht in meiner Macht steht, Sie wissen, dass es Beweise gibt, die ihn in den dringenden Tatverdacht eines Mordes bringen. Es steht nicht in meiner Macht, ihn freizulassen, das muss der Staatsanwalt beschließen. Aber ich sage Ihnen ehrlich: Viel Erfolg prophezeie ich Ihnen nicht. Zu groß ist die Fluchtgefahr.«

Die Frau hatte ihn zum ersten Mal ohne aufzubrausen seine Sätze beenden lassen. Hatte er sie? Konnte er ihr jetzt Fragen stellen?

»Aber Sie haben gar nichts gegen meinen Mann in der Tasche.«

»Das stimmt nicht, Frau Kemal, wir haben eindeutige Fingerabdrücke.«

»Ich habe Ihnen gesagt, dass wir einen Schlüssel haben. Frau Zulauf hat uns vertraut, wir sollten gelegentlich nach ihr sehen. Mein Mann war immer wieder bei ihr – ohne Handschuhe anzuziehen.«

Sie wurde wieder lauter, wäre beinahe auch wieder aufgestanden, Abraham hob die Hand, um sie zurückzuweisen.

»Dann erklären Sie mir, wie diese Fingerabdrücke auf die Mordwaffe kommen, dann erklären Sie mir, wie diese Mordwaffe in die Wohnung der Frau Zulauf gelangt ist.«

»Man muss es uns geklaut haben.«

»Das heißt, irgendjemand muss in Ihren Laden gekommen sein und, während Sie nicht aufgepasst haben, das Messer hinter der Theke hervorgeholt haben.«

»So muss es gewesen sein.« Sie sagte das so leise, als ob sie jetzt vollends aufgab und einsah, dass sie ihren Gatten an ein deutsches Gefängnis verloren hatte für die nächsten 15 Jahre.

»Wie bitte?«

»So muss es gewesen sein.«

»Wann, Frau Kemal, haben Sie denn das Messer vermisst?«

»Gestern morgen.«

»Das heißt, als Sie vorgestern Ihr Geschäft geschlossen haben, hing es an seinem Haken wie jeden Abend.«

»Genau.«

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Tür verschlossen haben?«

»Ganz sicher.« Frau Kemal fasste wieder Vertrauen, der Bulle ihr gegenüber redete zum ersten Mal wirklich mit ihr.

»Frau Kemal, das ist jetzt ganz wichtig: verschlossen oder geschlossen?«

»Verschlossen.«

»Kennen Sie den Unterschied?«

»Ich spreche diese Sprache seit mehr als 20 Jahren, ich bin praktisch hier geboren, ich habe hier meine Schule abgeschlossen – abgeschlossen, verstehen Sie?«

»Ist in Ordnung. Wie lange haben Sie Ihr Geschäft schon in Kempten?«

»Fünf Jahre.«

»Und wie lange kennen Sie Ihren Mann schon?«

»Immer schon, wir sind miteinander aufgewachsen.«

»Sind Sie verwandt?«

»Nein, wie kommen Sie darauf?«

»Standardfrage. Frau Kemal, wo war Ihr Mann, nachdem Sie gestern gemeinsam Ihr Geschäft verlassen haben?«

»Er war die ganze Zeit bei mir.«

»Und Sie waren nicht in der Wohnung der Frau Zulauf?«

»Nein, waren wir nicht.« Jetzt war sie eine starke Frau, sie sagte das bestimmt und laut. Sie hatte verstanden, dass sie mit ihm kooperieren musste, um noch irgendetwas zu erreichen, was ihr freilich wenig bringen würde: Abraham war sich sicher, den Richtigen verhaftet zu haben.

»Würden Sie diese Aussage unter Eid vor Gericht wiederholen?«

»Würde ich.«

»Wissen Sie, was ein Eid nach Deutschem Gesetz bedeutet?«

»Weiß ich. Behandeln Sie mich nicht wie eine Idiotin.«

Das überraschte Abraham, er hatte gedacht, die Türken hätten ihren Frauen das Aufbegehren ausgetrieben. Er musste wieder strenger mit ihr reden.

»Frau Kemal, haben Sie finanzielle Schwierigkeiten?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Beantworten Sie bitte meine Frage.«

»Nein.«

»Wie läuft Ihr Geschäft?«

»Wir sind zufrieden.«

»Keine Probleme, die Miete aufzubringen, keine Mühe, die Zulieferer zu bezahlen?«

»Die Räume gehören uns.«

»So? Ihnen. Dürfte ich Sie dort einmal aufsuchen, vo­rausgesetzt, es ist Ihnen nicht zu viel, nachdem Sie ja nun allein im Laden sind.« Das sollte ein kleiner Hieb sein. Er traf aber nicht.

»Wir können sofort hingehen.«

Abraham hatte keine Lust. »Frau Kemal, wir haben hier auch noch andere Fälle, es geht jetzt wirklich nicht. Sollen wir für heute Nachmittag einen Termin ausmachen?«

»Sie wollen uns gar nicht helfen. Sie wollen nur einen Schuldigen und dann normal weitermachen. Mein Mann ist unschuldig.«

»Ich habe mittlerweile mitbekommen, dass Sie dieser Meinung sind, doch glauben Sie mir: Die Deutsche Justiz arbeitet sauber und gründlich. Wenn Ihr Mann unschuldig ist, wird er schneller frei sein, als Sie glauben. Frau Kemal, ich bin nur ein kleines Rädchen, und ich habe meine Umdrehung gemacht.«

Sie resignierte. »Wann kommen Sie?«

»Heute Nachmittag. Sind Sie einmal nicht da?«

»Nein, ich bin immer da, kommen Sie, wann Sie wollen. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, ich tue, was ich kann.«

Die Frau schlurfte gebückt zur Tür. Sie war wieder älter geworden.

Als sie weg war, schaute Abraham zu Tina, die ihn ratlos und lange anstarrte. Er hätte gern gewusst, was sie jetzt dachte. Irgendwie ließ ihm die Angelegenheit keine Ruhe.

*

Birne hatte sich auf die Straße gestohlen und kam sich doof dabei vor. War er nicht ein freier Mensch, der einmal keine Lust hatte, mit jedem Idioten zu gehen? Egal jetzt, er war allein auf der Straße und konnte machen oder lassen, wozu er Lust hatte. Er spazierte ein Stück und lobte das Spazierengehen, wie man dabei Zeit bekam für seine Gedanken; Gedanken, die einem, wäre man nicht spazieren gegangen, vielleicht nie gekommen wären. Schade um die Gedanken, wenn man etwas für Gedanken, eigene, übrig hatte, dachte Birne.

Der Nebel war weg und ließ die Sonne unbehindert mit zarter Kraft die Straßen anheizen. Das schlug auf die Stimmung der Leute, sie wurden freundlicher. Birne war einer von ihnen und fühlte sich auch so und verzieh den meisten alles. Im Moment meinte es das Leben nicht so schlecht mit ihm. Im Moment fand er Jammern albern.

Dann kam der Geruch und mit ihm Birne was Verwegenes in den Sinn: Kebab. Er war erwachsen, er konnte sich alles zum Essen kaufen, er konnte sich überall hinsetzen, er konnte asiatisch haben, doch Kebab, den roch er jetzt, Kebab wollte er jetzt haben und sich vorstellen, wie Werner darüber schimpfte, dass man so etwas aß, dass man so etwas überhaupt kaufen könne, sich vorzustellen, wie Tim, wäre er jetzt bei ihm, darüber sein Gesicht knetmassenverziehen würde, dann doch mitginge und die halbe Semmel angeekelt liegen ließe und die andere, die eben verzehrte Hälfte mit Cola-light wegspülte, zumindest den Geschmack, zumindest aus dem Mund. Und Sigrid? Sigrid würde ihn für verrückt erklären. Kebab! Da könnte er ja gleich den Rinderwahnsinn mit Löffeln fressen.

Birne betrat den kleinen, blau gekachelten Laden und richtete seine Augen nach oben, über die Theke, von wo ihn das Angebot anstrahlte. Er konnte vieles haben, auch Vegetarisches und Pommes, aber er wollte Kebab im Fladenbrot, Döner für 3,30 in der Tasche. Er senkte seinen Blick nicht so weit, dass er auf den Salaten und Süßgebäcken der Auslage vor ihm zu ruhen kam, nein, nur so weit, dass er der Verkäuferin, die allein war, in die tiefmelancholischen Augen sehen konnte. Und Birne müsste sich täuschen, wenn in ihrem Blick nicht mehr lag als das gewöhnliche Interesse einer Verkäuferin am Wunsch eines sicheren Kunden. Da lagen ein größeres Wollen, ein tieferes Kennen und ein Drang zu reden darin, die Birne verwirrten, weil er nicht wusste, woher das herrührte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand etwas mehr von ihm wollte. Woher auch? Birne sagte: »Kebab bitte.«

Sie sagte: »3,30 bitte, zahlen Sie beim Gehen«, und machte sich ans Werk, schnitt Fladenbrot und schaute kurz zu ihm auf, schob Fladenbrot in den Ofen und schaute, schnitt Fleisch mit einem großen Messer vom Drehgrill und hätte geschaut, doch Birne setzte sich jetzt an einen Barhocker an der Wand vor einem großen Stehtisch und drehte zum Spielen den Chilipulverstreuer in dem Aschenbecher, in dem er stand, nur um nicht angeblickt zurückblicken zu müssen und den Beschluss »heute Kebab« zu bereuen. Er wollte vor allem und wie gesagt viel Ruhe vor den Menschen. Vor allem vor den fremden.

Aber die hier schaute ihn an, als ob sie ihn kennen würde. Woher nur?

Es war übrigens sonst niemand in dem Laden. Ob der Döner hier nicht gut war? Birne war das egal, er fand Leute albern, die sich Tage darüber streiten konnten, wo Kebab besser war, welches Bier trinkbar, welches bestenfalls Radler-geeignet war, welche Comics nur früher gut waren und welche man heute immer noch lesen konnte. Waren ihm alle zu albern, diese Diskussionen. Aber diese Gedanken freuten ihn, die kamen ihm nur, weil er allein war im Kebabladen und nicht redete.

Warum schaute die ihn dauernd an?

Die Tür ging auf, zwei Kinder stürzten herein, konnten acht und zehn sein, und beinahe hatte Birne ein Aha- Gefühl, das verflog, bevor es sich manifestierte, als die Mutter und Kebabverkäuferin die Kleinen auf Deutsch fragte, wie es in der Schule gewesen sei und das Mädchen fröhlich antwortete: »Wir haben eine Probe geschrieben, die war kinderleicht.« Die Mutter freute sich, strich ihrer Tochter übers Haar, und der Bub sagte etwas Wütendes auf Türkisch, was die Mutter mit einer strengen Frage beantwortete, auf die der Junge wiederum im verteidigenden Ton antwortete. Einen Satz sagte die Mutter noch auf Türkisch und dann auf Deutsch und, Birne war sich sicher, nur für ihn: »Nur weil wir Türken sind. Ich werde mit ihm reden, und jetzt macht eure Hausaufgaben.«

»Was ist mit Papa?«, wollte das Mädchen wissen.

»Es ist alles in Ordnung, Papa kommt bald wieder nach Hause, macht euch keine Sorgen, macht Hausaufgaben. Bitte.« Und wieder ein Blick zu Birne, düster und mit dem Hauch eines Begehrens, keines fleischlichen.

Die Kinder verschwanden nach hinten. Die Frau legte ihm seinen Kebab auf einen Teller und stellte diesen vor ihn hin.

»Schlimm, was passiert ist, nicht?«

Birne wusste nicht, was gemeint war und hielt es für sicher »Ja, schlimm« zu sagen.

Die Frau begann zu schluchzen. Birne wurde verlegen. Was war Schlimmes passiert? Während er überlegte, fiel es ihm ein: die Kinder, die dunkle Frau, die Treppe. Er hatte es hier mit seiner Nachbarin aus dem Erdgeschoss zu tun. Sie hatte Angst, weil ein Mord in ihrem Haus begangen worden war und weil ihr Mann nicht da war, verstand Birne. Wieso hatte er eigentlich keine Angst? Weil er ein kräftiger junger Mann war, der Schränke aus Kellern in erste Stockwerke tragen konnte, weil bei ihm nichts zu holen war, weil ein Mörder nicht zweimal im gleichen Haus zuschlägt? Wieso eigentlich nicht?

»Ich glaube, es ist überstanden«, versuchte er zu beruhigen.

»Gar nichts«, sagte die Frau unter nicht mehr zurückhaltbaren Tränen.

»Nana.« Birne. »Zufällig kenne ich den Kommissar; der sagt, sie haben den Mörder wahrscheinlich.«