Czytaj książkę: «Tatort Alpen», strona 11

Czcionka:

Birne zog mit und schnaufte, als er sagte: »Simone heißt sie vielleicht, dass mal eine Ruhe ist.«

»Was heißt vielleicht?«

»Sie hat jemanden andern.«

Alexa blieb stehen. »Oh.«

*

»Genau dafür gibt es Sonntage: dass man sie sinnlos in Notaufnahmen verbringt.«

In Bruno tobte sein Kater, in seinem Auto tobte er. Oliver schwieg dazu, ihm war auch nicht wohl.

»Kreislaufschwäche. Weiter beobachten! Ich kann auch Arzt werden. Alles ist Kreislaufschwäche und weiter beo­bachten. Morgen hol ich mir mein Diplom und mach eine Praxis auf. Fürs Wochenende. Weiter beobachten. Im Ausland wär das kein Problem.«

Sie hielten an einer roten Ampel. Es kam kein anderes Auto am Sonntag. Bruno regte das auf.

»Werd doch endlich grün. – Und der hat dir an die Eier gelangt?«

Oliver schwieg.

»Ist der schwul? Wollte der was von dir?«

»Nein. Das war eine Rauferei.«

»Könnt ihr euch damit ein wenig zurückhalten. Bis Ruhe ist?«

»Der hat uns provoziert.«

»Nichts gefallen lassen, weiß ich, hab ich zu dir gesagt. Aber im Moment kommt bei dir viel zusammen, da wart doch erst mal.«

»Worauf?«

»Bis du das Schuljahr geschafft hast zum Beispiel.«

Oliver lachte. »Das ist ein Kampf auf der Straße, der kümmert sich nicht um die Schule. Wenn wir jetzt zuschlagen, dann haben wir in ein paar Jahren echten Krieg. Mann gegen Mann ohne Gnade, ohne Regeln. Jetzt können wir noch diktieren, in welche Richtung die Sache läuft.«

Bruno schwieg. Er wusste, woher das kam. Er vermutete es: aus den Computerspielen, die sein Sohn spielte. Die wuschen ihm den Kopf, das würde vergehen. Im Moment ließ sich nichts dagegen sagen. Das war eine neue Zeit, die verbrachten so ihre Nachmittage. Bruno hatte selbst mal gespielt und den Reiz der Sache nicht entdeckt, er war zu langsam mit seinen Fingern und nicht ausdauernd genug, weiter zu trainieren. Er hatte es sein lassen.

»Hast du eine Freundin?«, fragte er seinen Sohn.

»Nein, will auch keine mehr.«

»Was heißt das denn?«

»Das gibt mir nichts, ist nur ein Haufen Aufwand, der sich nicht lohnt. Für ein paar Minuten Spaß musst du den ganzen Tag rennen und sie bei Laune halten, und wenn dann einer mehr Geld hat oder ein Auto, dann hängt sie an dem. Nein, ich will nicht, dass mir’s geht wie dir.«

»Aber ganz ohne ist auch blöd.«

»Hast du eine Freundin?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Ich bin zu beschäftigt.«

»Mit Saufen?«

Ihre Welt ähnelte sich arg zurzeit, da konnte der eine dem anderen schlecht dreinreden. Mit dem Unterschied, dass Bruno schon seinen Job hatte und da sicher saß und Oliver immer noch ins Bodenlose stürzen konnte, wenn er nicht aufpasste, was eigentlich ja Brunos Aufgabe war.

»Sie haben gesagt, dass du fett in der Zeitung warst«, sagte Oliver. »Glückwunsch.«

»Was die schreiben, da brauchst du gar nichts drauf geben, die kommen von ganz außen an die Sache hin, die verstehen nichts davon. Morgen interviewen die einen Politiker und davon haben sie auch keine Ahnung.«

»Da war ein Bild von dir drin. Du kommst fett raus mit der Sache.«

»Red besser nicht mehr darüber, das ist ein blödes Thema.«

*

Von dieser Hütte konnten sie gut auf den Gipfel blicken. Sie waren bis zur Rückseite des Berges gegangen und saßen auf einer Bierbank unter einem Schild.

»Genieß die Natur, du braver Wandersmann, nur lass alles stehen und nichts liegen am Wege dran. Damit der, der nach dir kommt auf diesen Berg, kann unbeschwert bestaunen Gottes großes Werk.«

Es war früher Nachmittag, ihre Flaschen waren leer getrunken. Sie waren gut gegangen und ein wenig erschöpft. Birne spendierte Bratwurst mit Sauerkraut, dazu Radler. Beim Sitzen wurde es wieder kalt, sie waren einige Höhenmeter weiter nach oben gekommen, es fühlte sich gut an.

»Da zum Gipfel rauf wird es noch mal knackig. Bist du schwindelfrei?«

»Es geht«, sagte Birne.

»Willst du da rauf oder bist du müde?«

»Nein, nein, wir können schon rauf. Wenn du willst.«

»Wenn du willst, dann gehen wir da rauf.«

Sie aßen Wurst. Unten hätten sie diese Wurst verschmäht, hier schmeckte sie fett. Sie gehörte zu dem wenigen, was die hier oben hatten.

Das Wetter wurde schlecht. Wolken zogen auf, es tröpfelte dünn.

»Wenn die Steine nass sind, ist es zu gefährlich«, erklärte Alexa.

»Wenn es gleich wieder aufhört, kann man es riskieren.«

»Wenn es gleich wieder aufhört.« Alexa suchte den Himmel ab. »Da hinten kommt es ganz schwarz.«

Jemand schrie hinter ihnen »Ja. Wer ist denn das?« Sie drehten sich um. Jemand schrie: »Wenn das nicht meine Lieblingspraktikantin ist.« Der Chef war da, er setzte sich neben Alexa. »Ich darf doch. So ein Zufall.« Er rieb sich die Hände, als ob er sie wusch unter einem Wasserhahn und warf einen missfälligen Blick auf Birne. »Seid ihr zu zweit unterwegs oder habt ihr euch auch zufällig getroffen?«

»Wir sind zu zweit da«, antwortete Birne. »Sind Sie allein da? Haben Sie Ihre Frau gar nicht dabei?«

»Meine Frau? Meine Frau ist müde.«

»Ich zeige Birne gerade die Gegend. Er ist doch fremd«, erklärte Alexa.

»Oh, zeigen Sie mir doch auch mal die Gegend, Alexa, ich bin sicher, Sie könnten mir auch noch manches zeigen.« Der Chef rückte ganz nah an Alexa hin.

Der Teufel wollte es, dass in just diesem Augenblick Alexas Handy klingelte. Sie zögerte, entschuldigte sich und ging dann doch ran.

»Schlimm ist das, nirgendwo ist man sicher, nirgendwo ungestört«, stellte der Chef fest. »Und dabei ist das so schädlich. Die Menschen vergiften sich auf jedem Meter, den sie gehen. Die Strahlen vom Mobilfunk sind hoch krebserregend. Es gibt Dutzende von Studien, die das belegen, aber keiner soll das erfahren, das wird geheim gehalten; die Medien sind gekauft von der Mobilfunklobby. Und nicht nur, dass sie mit uns und unsern Kindern ihr Geschäft machen wollen, nein, die haben noch viel mehr vor. Wenn die erst mal jedem von uns ein solches Teil verkauft haben, dann wissen die auch alles von dir: wo du bist, mit wem du sprichst und so weiter. Bis zum totalitären Überwachungsstaat ist es dann nicht mehr weit. Ich mein fast, dass es jetzt schon so weit ist. Ah, da kommt sie ja wieder. Ich hoffe, es war wichtig.«

»Es war mein Freund.«

»Jetzt bin ich aber durcheinander. Ihr zwei seid hier unterwegs und dann gibt es auch noch einen Freund. Fast bin ich versucht zu fragen, ob man da auch noch mitmischen darf. Die Tage, die Sie mit mir verbracht haben, Alexa, haben mir außerordentlich gut gefallen. Das müsste man wiederholen – wiederholen und ausbauen.«

Birne sollte was sagen, er schwieg.

»Hier.« Ihr Chef hatte denselben Flyer in der Hand, den er gestern vom Künstler bekommen hatte. »Kommt da hin, da erfahrt ihr einiges, was verschwiegen wird.«

»Den hab ich schon«, sagte Birne.

»Das ist ja interessant. Woher, wenn ich fragen darf?«

»War im Künstlerhaus, da hab ich ihn bekommen.«

»Im Künstlerhaus? Interessant, da stellt ein Bekannter von mir aus, von dem hab ich einige Bilder. Aber Sie werden nicht wegen der Bilder dort gewesen sein. Sie sind mehr aufs Bier aus, nehme ich an. Und auf dem Heimweg gab’s dann einen Zusammenstoß mit einer Straßenlaterne.«

»Ich habe mir die Bilder angeschaut.«

»Klar.«

Birnes Handy klingelte jetzt, ausgerechnet.

»Das Schlimme ist«, sagte der Chef, »dass man auch hier noch Empfang hat, du denkst, du hast die Stadt hinter dir mit ihren Abgasen und ihrem Dreck, doch die Strahlen sind immer noch unter uns.«

Birnes Anrufer legte auf.

Der Chef holte seinen Geldbeutel heraus und legte vor Alexa 100 Euro hin. »Die bekommen Sie, wenn Sie hier vor meinen Augen Ihr Handy zerstören.«

Alexas blickte auf das Geld.

»Was ist?«, drängte sie der Chef. »Und was ist mit Ihnen?« Er schaute zu Birne.

Auch der schwieg.

»Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Sie’s gemacht hätten«, sagte er und steckte sein Geld ein. »Es wäre besser, wenn Sie es trotzdem machen. Es geht um Ihre Gesundheit.« Er stand auf. »Und überlegen Sie sich gut, ob Sie Ihre Beziehung intensivieren. Im gleichen Geschäft ist das immer problematisch. Ich will damit nur sagen, dass Sie bisher einen guten Eindruck machen, Alexa, und wir uns durchaus vorstellen können, Ihnen einen Platz in unserem Haus einzuräumen. Spielen Sie nicht mit Ihrer Zukunft. Auf Wiedersehen.«

Er verschwand dort, wo sie beide hergekommen waren.

»Ist der eifersüchtig?«, fragte Birne.

»Ich will wissen, warum.«

»Was war denn auf eurem gemeinsamen Betriebsausflug?«

»Nichts. Er sucht schon immer Nähe, er hat mich auch dauernd eingeladen, aber mehr war da nicht.«

Birne schaute auf die Pappteller, auf denen eben noch ihre Würste gelegen hatten und aus denen ihnen nun traurige Senfreste entgegenstarrten.

»Was war mit deinem Freund eben?«

»Nichts, ich hab nicht Schluss gemacht. Ich war zu schwach. Das war zu viel gerade. Und wer hat dich angerufen?«

Birne schaute nach. Simone.

»Simone.«

»Dann haben wir den ganzen Beziehungshaufen jetzt vor uns liegen.« Sie schaute auf den Gipfel.

»Ich will da jetzt hoch«, sagte Birne.

»Und wenn es wieder regnet?«

»Dann riskieren wir jetzt was.«

*

»Tina? Tina, bist du dran? Ich muss mit dir reden.«

Bruno saß wieder auf seinem Sofa und wollte Klarheit. Wenigsten in einem Punkt. Damit der Tag nicht ganz verschissen war. Schlafen konnte er nicht, das hatte er schon versucht.

»Was heißt, du hast mir nichts versprochen. Wir sind zwei erwachsene Menschen, wir verstehen die Signale, die wir einander geben.«

Mit Oliver hatte es noch einen bösen Streit gegeben, der war undankbar und verkommen, der war eine Schwachstelle in seinem Leben. Jetzt hing er wieder am Computer und verschwendete seine Jugend. Der sollte ausziehen, sobald er seine Schule hinter sich hatte, den würde er nicht füttern, bis er 30 war.

»Tina, im Ernst. Ich habe schwer was für dich übrig, wir sollten unsere Zeit nicht vergeuden mit einem ewigen Hin und Her. Ich krieg dich sowieso.«

Er stellte sich Tina vor, wie sie denselben Sonntagnachmittag wie er verbrachte, auf dem Sofa mit wenig an und gelangweilt.

»Ich würde dir das auch sagen, wenn ich vor dir stünde.«

Dann kam der Hammer.

»Welcher Freund? Wieso weiß ich von dem nichts. Der taugt doch nichts, den will ich sehen, gerade vor dem will ich es dir sagen und besorgen.«

*

Natürlich fing es an zu regnen, aber das war nicht das Problem: Sie waren ein Stück weit die Wand hochgekommen, da spürte Birne ein eigenartiges Gefühl an seinen Füßen, als ob sie ihm einschlafen wollten. Sie schliefen aber nicht ein. Mit seinen Füßen, seinem Körper insgesamt war alles in Ordnung. Er sagte »Scheiße« und »So ein Arschloch, so ein saublödes.«

Die Sohlen seiner neu gekauften Superschuhe lösten sich von vorne her ab, hingen nur noch zur Hälfte am Rest vom Schuh und klappten jedes Mal, wenn er seine Füße hob, ein.

»Wir müssen umkehren. Das ist lebensgefährlich«, wusste Alexa.

Endlich etwas Lebensgefährliches, dachte Birne. Wenn er dem Umkehren zustimmte, dann nur, weil jeder Schritt von hier weg nervig war. Jedes Mal den Fuß zwei Mal heben, um die Sohle wieder an ihren Platz zu bringen. So macht die schönste Lebensgefahr keinen Spaß.

Wenn sie weiter raufgingen, mussten sie auch weiter wieder runter.

Sie kehrten gleich um.

Es ging schon, wenn man kleine Schritte machte.

Sie bot ihm an, ihn zu stützen und er bereute es in dem Moment, in dem er es ablehnte.

Langsam, gegen Frühabend, kamen sie an dem Parkplatz an, für den sie am Vormittag bezahlt hatten. Birne meinte, Alexa sei genervt, aber sie sagte als Erstes: »Es war eine schöne Tour.« Und Birne ergänzte: »Ein schöner Tag.«

In einem Café bezahlte Birne noch ein Belohnungsweizen, dann fuhren sie zurück. Erschöpft und irgendwie auch glücklich.

Vor seiner Haustür stellte sie den Motor ab.

»So.«

»Vielen Dank.«

»Nichts zu danken.«

»Willst du noch Geld fürs Benzin?«

»Nein«, sagte sie, legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und schaute ihm tief in die Augen.

Birne hätte sie jetzt küssen müssen. Er wartete zu lange. Sie beugte sich zu ihm hinüber, doch er dreht sich weg, sagte noch mal »Danke« und stieg aus. Im Kofferraum lagen seine Sachen, die holte er raus.

Wieso ließ er sie nicht zu sich rein?

Er trat zur Beifahrertür und öffnete sie. »Danke für alles. Wenn alles gut geht, dann fahren wir nächste Woche nach München.«

»Schon okay.« Weg war sie.

Birne auf dem Weg nach oben. Jetzt hatte er zwei Frauen, die anderen Männern gehörten. Er zögerte. Er hatte ein Recht zu zögern. Er musste sich emotional erst wieder herrichten, damit er bereit war.

Simone gehörte sein Herz. Keine Frage. Aber damit gehörte ihr nicht viel.

Drinnen bei sich holte er das Geld raus und sortierte sauber die Bündel vor sich auf dem Küchentisch. Er legte das Telefon daneben, betrachtete das Stillleben und bedauerte, dass kein flämischer Meister zum Malen da war. Er nahm das tragbare Telefon und wählte bewusst und glücklich jede Ziffer seiner Schicksalsnummer. Es tutete dreimal, bevor die Mailbox ranging. Birne hörte eine unpersönliche, nicht unfreundliche Ansagerinnenstimme und dann sie – ihren Namen sagen. Das klang gut. Er hinterließ keine Nachricht, er legte auf und starrte sieben Minuten verträumt in die Luft. Dann probierte er es noch einmal und hatte nicht mehr Erfolg als beim ersten Mal. Und das nächste Mal und das übernächste und auch das zwölfte und letzte Mal an diesem Abend nicht. Birne war jetzt schlecht drauf. Wo war sie? War sie in den Armen Bernds? Dachte sie an ihn oder dachte sie nicht an ihn? Würde sie sich melden? Würde sie an der Anzahl seiner Anrufe seine Verzweiflung spüren? Hatte er sich zu früh gefreut?

Ein quälender Abend war das, den Birne durchzustehen hatte. Er beschloss, es nun nicht mehr zu versuchen und versuchte es nur 20 Minuten später noch einmal. Wieder nichts. Birne hatte nichts zum Saufen im Haus und auch keine Lust mehr zu saufen. Er schaltete seinen Computer ein und suchte eine Videoseite auf, beinahe mechanisch; die Zeit verging hier so rasend, wie er es in seiner Stimmung brauchte. Ihm fiel ein, dass er gestern gefilmt worden war, während er vermöbelt wurde. Das wäre ein schöner Beweis, wenn er sich da finden konnte. Er probierte die Suchbegriffe »Kempten«, »Schlägerei«, dann Abwegiges wie »Kanake«, er blieb erfolglos. Wieder mal. Ein unbequemes Gefühl war das: Irgendwo da draußen steckte es und die ganze Welt konnte zusehen, wie er verprügelt wurde, nur er wusste nicht, wo er sich finden konnte. Die lachten alle über ihn und er konnte es nicht sehen. Er fühlte sich machtlos. Wieder ein Anruf bei Simone, wieder ohne Erfolg, den er jetzt hätte gebrauchen können, da half ihm auch das Geld nicht weiter.

Er wusste nicht, was los war, und es war schlimm. Birne erkannte an seiner Übelkeit, wie schwer es ihn erwischt hatte. Simone wollte er haben oder keine. Alexa war weg.

8. Tag

Birne schlief kaum und träumte schwer. Er wurde verhauen und konnte sich nicht wehren. Sie bekamen seinen Sack zu packen, rissen ihn heraus und liefen davon. Er hinterher, laut schreiend, und wie er um die Ecke kam, standen da die Kemals und Simone und unterhielten sich prächtig und fragten sich, warum er so rumschrie. Es war ihm unendlich peinlich, dass er sich so aufführte. Da bemerkten die anderen die blutende Stelle an seiner Leiste. Sie bedauerten ihn aber nicht, sondern fingen an zu lachen. Tief enttäuscht wachte Birne auf und wunderte sich, dass der Traum eben ein feuchter war, und dachte sich, dass er den Samen gern Simone gegeben hätte und wie eigenartig das Leben manchmal spielte.

Er stand auf und war sehr gerädert. Er trank einen Kaffee und musste sich danach eine neue Hose anziehen. Er aß mit Mühe ein Brot mit Nutella, und als er gerade seine Wohnung verlassen wollte, schmierte er sich einen Rest des Brotaufstrichs, der mysteriös auf seinem Zeigefinger kleben geblieben war, an sein Hemd. Auch wechseln. Dann zur Sicherheit noch einmal in die Küche schauen, ob der Ofen aus war – war er im sprichwörtlichen Sinne, musste nicht stattdessen der wahre an sein – der echte war auch kalt. Den Mülleimer bemerken, wie er überquoll, denken: wieso nicht heute und jetzt mit rausnehmen?

Birne nahm die Tüte mit raus, nahm praktisch keine Notiz von dem Mann, der in der Nähe der Tonnen he­rumlungerte, und warf die Tüte in den Restmüll. Der Mann auf der Straße, der Birne zuerst so egal war, kam direkt auf ihn zu. Ein leicht blau kariertes Hemd spannte sich über seinen Bauch. Alkoholäderchen durchfurchten sacht seine Kartoffelnase. Er hatte nur wenige graue Haare und die streng nach hinten gezwungen und eine Brille; er hatte nur noch wenige Jahre bis zur Rente und würde die nicht lange genießen können, weil sich bald ein Herzinfarkt und ein böser Krebs einen Wettlauf liefern würden, ihn dahinzuraffen. So sah Birne den Mann, der ihn unverfroren ansprach: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, antwortete Birne lustlos und in Eile.

»Darf ich fragen, was Sie da eben weggeschmissen haben?«

»Müll. Auf Wiedersehen.« Birne wollte sich zum Gehen wenden.

»Den würde ich gerne mal sehen.«

»Wie bitte?«

Der Mann zückte einen Ausweis und hielt ihn Birne kurz vor seine saubere Nase, so kurz, dass er gerade auf blauem Grund das Wappen der Stadt Kempten sehen konnte in einem Siegelstempel. »Müllinspektion, Stadt Kempten«, erläuterte der Mann dazu. »Sie wissen, dass Sie Müll trennen müssen als Bürger hier.«

Birne hielt das für einen Traum, eine böse Fortsetzung von heute Nacht.

»Ich weiß, ich hab jetzt nur keine Zeit für Sie, tut mir leid.«

»Tut mir ebenfalls leid, aber die werden Sie sich nehmen müssen.«

»Ich bin auf dem Weg ins Büro – ich habe noch Probe­zeit.«

»Dann hätten Sie eben früher aufstehen müssen«, sagte der Mann und hob den Deckel der Tonne. »Würden Sie bitte Ihren Müll identifizieren.«

Birne glaubte nicht, dass das die Realität war und zeigte auf seinen Beutel, ohne zu ahnen, was er damit auslöste.

»Rausnehmen bitte«, sagte der Sack.

»Nein.«

»Hören Sie, wenn Sie die Arbeit der Müllinspektion behindern, bin ich berechtigt, Ihnen auf der Stelle ein Ordnungsgeld auszustellen.«

»Ich habe einen guten Bekannten bei der Polizei, den Bruno Abraham.« Die Erwähnung des Namens allein hatte keine Wirkung. Birne fügte hinzu: »Darf ich Ihren Namen erfahren? Sie bekommen eine Dienstaufsichtsbeschwerde.«

»75 Euro«, sagte der Mann und streckte Birne seine Hand hin.

Birne, der gestern noch gesiegt hatte, murmelte Unfreundliches und holte seine Tüte aus der Tonne. Der Fachmann drehte sie, während Birne sie hochhielt, und musterte sie skeptisch, schließlich holte er aus seiner Hosentasche eine Plastikplane und breitete sie auf dem Boden vor Birne aus. »Ausleeren bitte.«

Birne erinnerte sich an Sendungen in seiner Kindheit, in denen Bürger von Showmastern reingelegt wurden, bis sie fragten, wo die versteckte Kamera sei. Birne fragte nicht nach der versteckten Kamera. Die Zeiten, in denen solche Sendungen in den Fernsehern dieser Republik liefen, hielt er für vorbei. Birne nahm den Beutel und leerte ihn auf die Plane auf der Straße mit dem Gefühl, jetzt nichts mehr zu verlieren zu haben. Im Büro würde er sagen, die Müllpolizei habe ihn erwischt, die würden alle lachen und ihm erklären, dass das jedem einmal passieren muss, sonst wäre er nicht hier.

»So, mal schauen: Was haben wir denn da?«, sagte der Mann und beugte sich nach unten; er zog sich Einweghandschuhe an. Birne erschrak darüber. Der Mann wühlte im Dreck und holte einen Hähnchenschenkel heraus, den Birne vor drei Tagen genagt hatte und der schon ein bisschen roch. »Was ist das?«, fragte der Mann, und weil Birne nicht antwortete, antwortete er selbst: »Biomüll!«

Das Nutellaglas hätte Birne ausspülen und zum Glascontainer bringen müssen. Der Deckel solle zum Verpackungsmüll in den gelben Sack. »Sehen Sie, da drin ist noch ein kleiner Karton, den könnte man rauslösen und zur Papiersammelstelle bringen, aber da wollen wir mal nicht so sein – wir sind nicht katholischer als der Papst«, erklärte der Mann mit einer Seelenruhe, als ob dieses Thema am Montagmorgen auch Birnes einzige Sorge wäre. Die Zeitungen, die Scheiß-Zeitungen, hätte er aber schon zum Altpapier bringen müssen, da seien alle Augen schon zugedrückt, das müsse er bezahlen. Birne schaute dem Wühlenden zu und verlor wertvolle Zeit, er hörte sich das an und begann, die Stadt und die Menschen in ihr zu hassen.

»Wozu brauchen Sie denn solche Handschuhe? Was sind Sie von Beruf?«

Birne hatte Angst. »Nichts, die sind aus dem Auto.«

»Aus dem Auto?«

»Muss man haben, ist vorgeschrieben in Deutschland. Wegen der Aidsgefahr.«

»Ja, ja, das weiß ich schon, aber ich frage Sie, was Sie mit Ihnen machen.«

»Ausprobieren.«

»Ausprobieren? Was heißt ausprobieren? Haben Sie denn dann noch welche fürs Auto?«

»Das sind immer vier Paar.«

»Und im Auto müssen auch immer zwei Paar sein. Haben Sie das gewusst?«

»Nein – ja.«

»Na, mir soll’s egal sein. Bringen Sie das in Ordnung, bevor die Verkehrspolizei Sie in die Finger bekommt.« Und er fügte süffisant hinzu: »Würd mich trotzdem interessieren, was Sie mit den Handschuhen getrieben haben. Hat das jemand gefilmt?«

Er warf sich wieder zu Boden. Birnes Empörung schlug mannshohe Wellen, weil er nicht nur zulassen musste, dass diese Drecksau seinen Abfall durcheinanderbrachte, sondern weil er sich auch noch anmachen lassen musste.

»So«, sagte der Müllinspektor und richtete sich auf. »Jetzt können Sie aufräumen.« Birne schaute ihn an. »Worauf warten Sie? Ich habe nicht ewig Zeit, fangen Sie an.«

Birne bückte sich und raffte die Plane, auf der alles lag, zusammen. »Hey, Moment«, hielt ihn der Inspektor auf. »Was machen Sie da?«

»Aufräumen.«

»Na, dann hat meine Belehrung ja gar keinen Wert, wenn Sie alles wieder zusammenschmeißen. Oder? Das trennen wir jetzt fein säuberlich, so wie ich es Ihnen beigebracht habe.«

»Haben Sie Handschuhe für mich?«

»Nein. Wollen Sie das andere Paar aus Ihrem Auto holen?«

Der lief von früh bis spät durch die Welt und demütigte die anderen. Als Nächstes würde er von Birne verlangen, die Hosen herunterzulassen und sich zum Sortieren einen Besen ins Arschloch zu schieben. Den würde einer erschlagen, bevor Krebs und Infarkt eine richtige Chance bekommen hatten.

Birne erledigte das von ihm Verlangte, warf alles in die richtige Tonne und stand dann mühselig balancierend mit leeren Flaschen und Papier auf der Straße und musste zusehen, wie dieses Grauen am Montagmorgen ihm noch eine Ordnungswidrigkeit ausschrieb. »Das nächste Mal wird ein Bußgeld draus, nur damit Sie das wissen. Da müssen Sie jetzt nicht maulen, das machen die meisten, aber bringen tut es nie was. Das sind die Gesetze, die halten wir nun mal ein. Jetzt und in Zukunft«, waren die letzten Worte, bevor der Mann im einsetzenden Regen verschwand.

Birne schmiss, sobald er sich sicher wähnte, seinen Ballast in irgendeine Tonne und eilte.

Er war spät dran und dann ehrlich erleichtert, weil alle im großen Büro standen und Sektgläser hielten: Es gab anscheinend was zu feiern.

»Servus, Birne«, schrie Werner und nahm ihm die Furcht. Birne griff sich ein volles Glas vom Schreibtisch und prostete den anderen zu. »Was gibt’s denn zu feiern?«, wollte er wissen.

»Herr Birne.« Das war der Chef. »Hätten Sie einen Moment für mich?«

»Gern.«

»Gehen wir schnell nebenan.« Er stand auf und führte Birne in sein Büro, schloss die Tür. »Setzen Sie sich bitte. – Gefällt es Ihnen bei uns? So nach der ersten Woche.«

»Außerordentlich.« Birne fühlte den Sekt im Glas in seinen Händen lauwarm werden.

»Was haben Sie denn gemacht die vergangene Woche?«

»Was hab ich gemacht? Ich hab mich halt ein bisschen reingearbeitet – mir alles so ein bisschen angeschaut.«

»So? Angeschaut? Und eingelebt haben Sie sich auch schon in Kempten?«

»Jo, ziemlich.«

»Schon was anderes als München.«

Birne gefiel der Ton in der Stimme seines Chefs nicht richtig, trotzdem antwortete er: »Ja, schon was anderes.«

In seiner Hosentasche vibrierte und piepte es: Birne bekam gerade eine SMS.

»Was war das?«, fragte der Chef.

»Das war eine SMS. Ich habe eine SMS bekommen«, antwortete Birne.

»Ist das was Wichtiges? Sehen Sie nach.«

»Nein, nein, das ist nichts Wichtiges, kann ich nachher nachsehen«, sagte Birne und beging damit seinen letzten Fehler.

»Soll ich Ihnen sagen, was Sie die vergangene Woche gemacht haben? Nichts, zumindest nichts Produktives. Das ist Ihr sechster Tag hier, und Sie sind zu spät …«

»Das kann ich erklären – ich bin von einem Müllin­spektor kontrolliert worden.«

»Dürfte ich bitte ausreden?«

»Selbstverständlich.«

»An Ihrem zweiten Arbeitstag sind Sie stockbesoffen erschienen, und jetzt, jetzt halten Sie schon wieder Sekt in der Hand.«

»Ich dachte, es gäbe etwas zu fei…«

»Herr Birne, ich habe mir das jetzt lang genug angeschaut – lang genug für mich«, ließ der Chef Birne nicht ausreden. »Ich muss leider enttäuscht feststellen, dass ich mich in Ihnen getäuscht habe.« Birne fand, dass er sich furchtbar umständlich ausdrückte. »Das kommt nicht oft vor, ich kenne die Menschen, aber hier, hier scheint mir ein Fehler unterlaufen zu sein. Ich habe mir gedacht, der Herr Birne, der macht einen soliden Eindruck auf mich, auf den kann ich ein neues Haus stellen.«

»Zweifelsohne.«

»Ich war noch nicht fertig, lassen Sie mich ausreden.«

»Gern.«

»Nun muss ich aber feststellen, dass Sie ein Ballast für unser Unternehmen sind – Sie werden verstehen, dass ich handeln muss, bevor mich Gesetze an den Ballast binden.«

»Moment, da würde ich gern noch mal einhaken …«

»Sie sind gleich dran, zuerst ich, zuerst immer ich. Ich bin ein guter Mensch, fragen Sie die Kollegen da draußen, ich drücke ein Auge zu, wo es geht, aber nach dem letzten Vorfall – es wird der letzte in dieser Firma sein, darauf können Sie sich verlassen – nach diesem letzten Vorfall muss ich zum äußersten Mittel greifen – und seien Sie froh, dass das Ganze kein Nachspiel vor Gericht hat.«

Birne wusste nicht wirklich, worauf sein Gegenüber anspielte. Was hatte er angestellt? Ging es um den Mord? Mord? Aber er war unschuldig.

»Darf ich denn wenigstens erfahren, was mir vorgeworfen wird?«

»Ich hätte gut Lust, Sie anzuzeigen.«

»Sie wollen mich anzeigen, weil ich mal ein, zwei zu viel gesoffen habe? Da werden Sie sich aber sauber blamieren auf dem Revier. Wir haben hier im Land ein Recht auf Rausch, und da sind Sie ein, zwei, sieben Nummern zu klein, um dieses Bürgerrecht auszuhebeln.« Birne war zornig geworden und kippte sich eilig den lauwarmen Schaumwein rein, sodass ihm links und rechts der Mundwinkel kleine Rinnsale herunterliefen, was zwar verwegen aussah, seine Karten aber insgesamt noch weiter verschlechterte. Der Sekt schmeckte nicht.

»Von mir aus können Sie saufen, soviel Sie wollen«, sagte der Chef ruhig und sobald er wieder Birnes Aufmerksamkeit hatte. »Das geht mich nichts an. Wir zwei gehen uns generell bald nichts mehr an. Nein, Herr Birne, ich meine etwas anderes, etwas, von dem Sie geglaubt haben, dass es niemals nach oben kommt, aber so weit reicht eben Ihre Autorität nicht: Es gibt noch Menschen mit Zivilcourage.«

Birne schaute ihn fragend an.

»Sie wollen sich nicht erinnern. Waren Sie da auch besoffen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, wenn ich ehrlich bin.«

»Stichwort: Fräulein Müller.«

Die Praktikantin. Der Chef nannte sie Fräulein, gerade als sei dies das 20. Jahrhundert. Lächerlich. »Was ist mit ihr?«

»Sie wollen den Unschuldigen mimen, Sie wollen schauen, ob Sie damit durchkommen. Leider Pech gehabt. Wir sind schlauer als Ihrereins.«

Birne wurde laut, weil ihm klar wurde, dass er soeben verloren hatte. »Würden Sie mir nun endlich sagen, was Sie mir vorwerfen. Ich habe keine Ahnung, aber sobald ich eine habe, verlasse ich diesen Scheißpuff, das verspreche ich Ihnen.«

»Na, na, na, schreien Sie doch nicht so, damit belasten Sie sich doch nur um so mehr.«

»Was ist mit dem Fräulein Müller?«, sagte Birne leiser, jedoch nicht gefasster, und machte Anführungszeichen in der Luft bei Fräulein.

»Sie hat mir in einem vertraulichen Moment berichtet, dass Sie versucht haben, sich an ihr zu vergehen.«

»Wie bitte?« Birne hatte mit allem gerechnet.

»Sie hat mich gestern angerufen, völlig aufgelöst und gesagt, dass sie es nicht mehr aushalte. Ich habe noch nie ein Mädchen so unglücklich erlebt. Ich habe nie geglaubt, dass es so etwas in meiner Nähe gibt. Ich bin sehr traurig, Herr Birne. Ich denke, ich werde Sie doch anzeigen.«

»Moment, Moment, Moment. Kann ich das Fräulein Müller noch mal sprechen, kann sie vielleicht vor meinen Augen ihre Vorwürfe wiederholen?«

»Selbstverständlich nicht. Sie ist heute zu Hause, sie kommt erst wieder, wenn Sie weg sind. Irgendwie auch verständlich.«

»Ja, Mann, verstehen Sie denn nicht, dass Sie hier einem Schwindel aufsitzen, einem Schwindel, wie sie ihn sich nicht einmal trauen, im Fernsehen zu zeigen. Sie ist jung, sie ist Praktikantin, sie ist heiß auf meinen Job. Die intrigiert, dass einem schlecht wird – mir zumindest. Wollen Sie das nicht sehen oder können Sie das nicht sehen? – Außerdem ist sie überhaupt nicht mein Typ.«

»Herr Birne?«

»Ja?«

»Sind Sie liiert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie eine Freundin, eine Verlobte, einen Freund?«

»Nein, das heißt praktisch schon.«

»Was heißt praktisch schon?«

»Das heißt, dass wir schon zusammengehören, aber halt noch nicht mitei… Warum erzähle ich Ihnen das? Sie sind gar nicht berechtigt, mich das zu fragen.«

»Nein, bin ich nicht, aber um ein Haar haben Sie sich verplappert.«

»Das Fräulein Müller ist auf jeden Fall, überhaupt nicht mein Typ, meine Frau ist blond und drall …«