Czytaj książkę: «Die Vampirschwestern – Der Meister des Drakung-Fu»
Kampf in der Nacht
Die Nacht hatte sich wie eine tiefblaue besternte Jurte über die mongolische Steppe gelegt. Die schrillen Warnpfiffe der kleinen Pfeifhasen waren schon lange verklungen, ebenso der Gesang der Steppen-Sattelschrecke. Die Mongolei, dieses gewaltige und ehrwürdige Land, schlief in den Armen von Russland und China in Asiens Mitte.
Das heißt … nicht das ganze Land. Die meisten Bewohner der Mongolei schliefen. Aber nicht alle. Manche waren auch gerade erst aufgestanden. Die Nacht lag vor ihnen, verheißungsvoll und zauberhaft, wie ein Versprechen. Oder wie ein reichlich gedeckter Tisch.
Ein majestätischer Maralhirsch wagte sich im blassblauen Mondlicht hinter einer Gruppe Fichten hervor. Der Kopf mit dem gewaltigen Geweih hob sich dunkelgrau und drohend vom Himmel ab. Der Maralhirsch ging langsam ein paar Schritte auf dem trockenen Steppenboden. Er reckte den langen Hals, drückte die breite Brust heraus und streckte die Nase in die kühle Nachtluft. Er witterte keinen Gobibären und keinen Schneeleoparden. Er war allein. Er war der Herrscher der Nacht. Er fühlte sich sicher.
Das Gefühl war trügerisch.
Gierige goldene Augen hatten den Maralhirsch ins Visier genommen und ließen keine Sekunde von ihm ab. Doch der gewaltige Hirsch bemerkte sie nicht. Er sah auch nicht das elfenbeinfarbene Gesicht mit den feinen kristallblauen Äderchen auf der Stirn. Zwar nahm er einen seltsamen, modrigen Geruch wahr, doch er wusste ihn nicht einzuordnen. Hin und wieder war er diesem eigenartigen Geruch bei seinen nächtlichen Streifzügen durch die mongolische Steppe schon begegnet. Doch noch nie hatte er die Quelle des Geruchs gesehen. Vermutlich war es nur ein winziges, scheues Wesen der Nacht.
Der Maralhirsch wusste nicht, dass dieser Geruch eine Gefahr für ihn bedeutete. Dass dieser Geruch der Vorbote des Todes war.
Nur ein paar Meter von dem Maralhirsch entfernt lauerte tatsächlich ein Wesen der Nacht. Doch es war nicht scheu. Im Gegenteil, das Nachtwesen war gefährlich, wild und stark. Es war ein junger Krieger. Wie ein Raubtier hockte er auf einem Felsvorsprung, verborgen hinter einer kleinen Zirbelkiefer. Er hatte alle Muskeln angespannt. Seine Haut leuchtete hell im Mondlicht, und als er die Oberlippe hochzog, blitzten zwei spitze Eckzähne auf. Der Krieger breitete die langen, dünnen Arme aus, als wären sie gewaltige Schwingen, und richtete sich langsam auf.
Der Maralhirsch spitzte die Ohren. Er blieb stocksteif stehen. Nur seine braunen Augen suchten sorgfältig die Umgebung ab. Nichts sollte ihm entgehen.
Als er den Krieger sah, war es zu spät. Er stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen, weit aufgerissenem Mund und einem lauten Kampfschrei auf seine Beute.
Doch so schnell ließ sich ein Maralhirsch nicht verschrecken. Schon gar nicht dieser. Er war fast zwei Meter groß und wog an die 350 Kilogramm. Der Krieger dagegen war höchstens einen Meter sechzig groß und wog höchstens fünfzig Kilo. Mit einem Ruck legte der Hirsch den Kopf schief und stieß mit seinem bedrohlichen Geweih nach dem Angreifer. Es fehlten nur wenige Millimeter und er hätte den Krieger aufgespießt. Doch der flog in letzter Sekunde zur Seite. Es machte ratsch und ein Stück des dunkelblauen Mantels des Kriegers blieb am Geweih hängen. Es baumelte dem Maralhirsch vor den Augen und kitzelte an seiner Nase. Der Hirsch starrte wütend auf den Stofffetzen vor seiner Nase und versuchte, ihn mit der Zunge zu schnappen.
Der Krieger war klein, aber schnell wie ein Leopard. Während der Hirsch noch mit dem Stofffetzen kämpfte, flog der Krieger hinter den Maralhirsch und setzte sich auf dessen Rücken. Kaum spürte der gewaltige Hirsch das ungewohnte Gewicht auf seinem Rücken, schnaubte er wütend und stellte sich auf die kräftigen Hinterbeine. Doch der Krieger rutschte nicht vom Rücken. Er hielt sich mit beiden Händen am Geweih fest.
Der Maralhirsch ließ sich wieder auf die Vorderbeine fallen. Er trat mit den Hinterbeinen aus. Dann hüpfte er wie ein wilder Ziegenbock über den trockenen Steppenboden. Der dunkelblaue Stofffetzen verfing sich im Geweih und wickelte sich wie ein Turban darum. Der Hirsch buckelte, sprang und trat aus. Es staubte, als wäre eine Herde Yaks vorbeigestürmt. Doch der Krieger ließ sich nicht abschütteln. Seine Hände schienen mit dem Geweih verwachsen zu sein. Seine Beine klammerten sich fest um die Flanken.
Dem Maralhirsch wurde es langsam zu bunt. Er war doch kein Pferd. Oder noch schlimmer: ein alter Esel! Voller Wut riss er den Kopf zurück und mit einem kräftigen, schnellen Ruck sofort wieder vor. Damit hatte der junge Krieger nicht gerechnet. Er konnte sich zwar gerade noch am Geweih festhalten, wurde aber durch den plötzlichen Ruck nach vorne geschleudert. Er machte einen Kopfüberschlag, dann hing er am Geweih, dem Hirsch direkt vor der Nase.
Die blasse Nase des Kriegers und die schwarzgraue Schnauze des Maralhirsches berührten sich fast. Die goldenen Augen des Angreifers blitzten vor Kampfeslust, Übermut und Unerschrockenheit. Er fletschte die Eckzähne und fauchte. Dann verzog er das Gesicht zu einem unverschämten Grinsen.
Der Maralhirsch schnaubte wütend. Doch bevor er austreten, mit dem Geweih um sich stoßen oder nach dem dreisten Angreifer schnappen konnte, begann dieser, sich vor seinen Augen zu drehen. Der Krieger flog im Bogen um die Nase des Hirsches herum. Er hielt sich dabei mit einer Hand am Geweih fest, den anderen Arm hatte er ausgestreckt und drehte sich wie ein Propeller. Immer schneller.
Wusch, wusch, wusch, sauste der Krieger an der Hirschnase vorbei.
Wuschwuschwuschwuschwuschwusch…
Dem Hirsch flackerten die Augen. Das Dunkelblau des Mantels, das Elfenbeinfarben der Haut und das Gold der Augen vermischten sich zu einer großen bunten, wabernden Kugel. Die Kugel wurde immer größer und drehte sich immer schneller. Bis der Maralhirsch schließlich nicht mehr wusste, ob er sich drehte, die Kugel oder die ganze Welt. Und dann geschah etwas, was ihm noch nie zuvor in seinem Leben passiert war (noch nicht einmal zur Brunftzeit): Ihm wurden die Knie weich. Der Maralhirsch blinzelte, er röhrte, er ließ die Zunge aus dem Mund hängen. Die Kugel drehte sich immer weiter. Immer schneller. Immer bunter. Dem Hirsch wurde immer schwindliger.
Wie in Zeitlupe rutschten die Vorder- und die Hinterbeine des Hirsches auseinander, bis er mit dem Bauch den Steppenboden berührte und alle viere von sich streckte. Auch das passierte dem mongolischen Hirsch zum ersten Mal.
Erst als der Hirsch mit heraushängender Zunge am Boden lag und sein Kopf samt Geweih und Turban zur Seite kippte, ließ der Krieger das Geweih los. Er flog drei Runden um den Maralhirsch herum. Dann legte er sich rücklings auf dessen Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste zufrieden vor sich hin.
Der Hirsch lag am Boden. Bis auf ein Schnaufen zeigte er keine Regung mehr. Er kam sich vor wie ein Türvorleger. Er hoffte inständig, dass ihn keine seiner Hirschkühe so sehen würde.
Der Krieger mit den goldenen Augen drehte sich um. Er musterte das Gesicht des Maralhirsches von der Seite. Sein Mund mit den spitzen Eckzähnen war nur wenige Zentimeter vom Hals des Tieres entfernt. Der Krieger fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Er rümpfte die Nase. Er fauchte.
Der Hirsch begann zu zittern. Das Gesicht des Kriegers kam immer näher. Mit den messerscharfen Eckzähnen, mit den gierigen Goldaugen. Der Maral wusste, dass es im nächsten Moment um ihn geschehen sein würde. Dennoch konnte er sich nicht bewegen. Er war gelähmt vor Angst und Schwindel. Mal abgesehen davon, dass seine Beine so weich wie Steppengräser waren.
Schon spürte der Hirsch einen kühlen Hauch an seinem Hals. Modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Er schloss die Augen und machte sich auf das Ende gefasst. Jeden Moment würden sich die scharfen Hauer dieses heimtückischen Nachtwesens in seinen Hals bohren. Jeden Moment war es um ihn geschehen. Er versuchte, an etwas Schönes zu denken. An die Zeit, als er noch ein Kalb war und in der Steppe spielte. An den Tag, als er den alten Platzhirsch vertrieb. Und an seine Hirschkühe.
Dann war es so weit. Die letzte Sekunde war gekommen. Der Maral spürte etwas Glattes, Kaltes an seinem Hals. Doch zu seiner Überraschung war es nicht spitz. Und es tat auch gar nicht weh.
Der Hirsch öffnete ein Auge und schielte nach unten auf seinen Hals. Der Krieger hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, die Augen geschlossen und rieb seine Wange an seinem Fell.
„Noi, noi noi!“, kam eine Stimme aus einem Gebüsch. Sie klang so tief, voll und rund, als wäre sie über Jahrhunderte wie ein Stein im Flussbett abgeschliffen worden. „Kerul Tschagatai Jugur Selenga! Was meinst du da gerade zu tun, mein junger Krieger der Finsternis?“ Ein alter Mann trat in einem hellgrauen Gewand aus dem Gebüsch. Er stützte sich auf einen langen, dünnen Knochen. Seinen langen grauen Bart hatte er aufgerollt und mit zwei Essstäbchen hochgesteckt. Der Bart erinnerte an zwei Frühlingsrollen.
Der junge Krieger Kerul gab den Hirsch aus der Umarmung frei und strich ihm noch einmal über den Rücken. Dann stand er auf, klatschte zweimal mit den Händen über dem Kopf und stieß dabei die Eckzähne aufeinander, wie es als ehrenvoller Gruß Brauch vor einem alten Meister war. „Ich habe den mächtigen Maral erlegt, großer Dschingbiss Zhan.“ Kerul zeigte auf den Hirsch hinter sich.
„Wie wahr. Wie gekonnt! Wie ein echter Krieger. Ich sah es mit eigenen Augen“, erwiderte Dschingbiss Zhan. „Doch was lässt dich jetzt zögern? Ein Vampgole beißt zu, wann und wo immer er kann.“ Der Meister sah zum Hirsch. Speichel tropfte von einem seiner Eckzähne.
Der junge Krieger drehte sich zum Hirsch um. Sein Blick schweifte über das weiche Fell, das prächtige Geweih mit dem dunkelblauen Turban und verweilte einen Moment bei den großen braunen, traurigen Augen. Kerul blinzelte, dann wandte er sich wieder an seinen Meister. „Kein Hunger.“ Er zuckte mit den Schultern.
Dschingbiss Zhan zog an seinem Ohrläppchen, als müsste er die beiden Wörter erst den Gehörgang herunterspülen. „Kein Hunger? Ein Vampgole hat immer Hunger. Durst sowieso.“
Kerul kratzte sich am Hals. „Ich hab eine Hirschallergie.“
Dschingbiss Zhan sah den jungen Krieger eindringlich an. Die Sekunden verstrichen. Kerul wagte es nicht, sich vom Fleck zu rühren. Der Hirsch allerdings schon. Er wusste nicht, was für ein großer Meister Dschingbiss Zhan war, und dass man sich nicht einfach ohne seine Erlaubnis aus dem Staub machen durfte. Er nutzte die Gelegenheit, sprang auf die Beine und stürmte ins nächste Gebüsch davon.
Keiner der beiden Vampgolen beachtete ihn.
„Wenn du noch einmal eine solch fette Mahlzeit entkommen lässt“, sagte Dschingbiss Zhan schließlich, „wird das schlimm für dich enden, Kerul Tschagatai Jugur Selenga. In der mongolischen Steppe ist der Tisch nicht so reich gedeckt, da kann man nicht wählerisch oder allergisch sein.“
Kerul sah zu Boden.
„Außerdem musst du Kräfte sammeln. Du brauchst jede Nahrung, die du nur kriegen kannst. Dir steht die schwierigste Prüfung deines jungen Lebens bevor.“ Mit diesen Worten erhob sich der alte Meister in den Nachthimmel. „Möge die Modrigkeit mit dir sein!“, rief er Kerul zu, bevor er lautlos in Richtung Norden davonflog.
Kerul sah seinem Meister lange nach. Im Norden lag ihre gemeinsame Heimatjurte. Auch für Kerul wurde es Zeit zurückzukehren. Zurück nach Ulan-Vampor.
Ein Portokulator für die Liebe
Ungefähr 6600 Kilometer weiter westlich warfen die letzten Strahlen der Abendsonne einen milchig-gelben Schleier über die Häuser am nördlichen Rand der Großstadt Bindburg. Die Reihenhaussiedlung wirkte vollkommen friedlich. Sogar das letzte Haus im Lindenweg, in dem seit Kurzem eine Familie aus Rumänien wohnte. Genau genommen aus Transsilvanien. Zur Familie gehörten Mihai Tepes (Vater und Vampir), Elvira Tepes (Mutter und Klobrillengestalterin), Silvania Tepes (Tochter und Halbvampir), Dakaria Tepes (sieben Minuten jüngere Tochter und Halbvampir), Karlheinz (Blutegel) und Fidel und Napoleon (Rennzecken).
Mihai Tepes ließ Fidel und Napoleon gerade im Keller gegeneinander antreten. Frau Tepes hatte sich ausnahmsweise dazu bereit erklärt, beim Zeckenrennen der Wettgegner ihres Mannes zu sein. Herr Tepes vermisste die Rennzeckenwetten, die in seiner Heimat eine beliebte Freizeitbeschäftigung waren. Und so manches andere vermisste er auch. Aber wäre er in seiner Heimat, würde er seine Frau vermissen. Und das wäre viel schlimmer.
Mihai Tepes setzte alles auf Napoleon.
Elvira Tepes setzte alles auf Fidel.
Daka Tepes setzte sich gerade in die Straßenbahn.
Und Silvania Tepes saß bereits. Und zwar mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihrem Metallbett. Sie hatte ein dickes, altes Buch vor der Nase. Auf dem lila-roten Umschlag stand in Schnörkelschrift: Ratgeber für Leben, Liebe und Leidenschaften.
„Und, steht da was?“, fragte Helene. Sie hing mit den Händen an einer Metallleine, die quer durch das Zimmer der Vampirschwestern gespannt war, und schaukelte vor und zurück. Die Metallleine quietschte leise. Die langen blonden Haare wehten bei jedem Schwung. Sie fielen Helene über die Ohren und verdeckten ihr Hörgerät. Und sie sahen wunderschön aus, wie goldener Weizen im Wind, fand Silvania.
„Jetzt warte doch mal. Ich muss erst den Eintrag finden, der auf dich und Murdo zutrifft.“ Silvania fuhr die Zeilen mit dem Finger nach und runzelte die Stirn, dann las sie langsam vor: „Mütterliche Liebe …“
„Nö“, kam es von der Metallleine.
„Käufliche Liebe …“
Helene sah Silvania fragend an.
„Die Liebe zu Gott …“
„Steht da nichts über die Liebe zu einem Vampir?“, fragte Helene.
„Blinde Liebe …“
Helene schüttelte den Kopf. „Nur leicht hörgeschädigte Liebe.“
„Innige Liebe …“
„Aber wie!“
„Heimliche Liebe …“, las Silvania.
„Und ob!“
„Unglückliche Liebe.“
„Leider ja.“ Helene seufzte. Sie dachte an ihre innige, heimliche und leider unglückliche Liebe. Sie dachte an Murdo. Murdo war der Sänger der transsilvanischen Band Krypton Krax. Und Murdo war ein Vampir.
Er war eine Liebe, die man nicht auf dem Schulhof, beim Eisessen oder bei einer Pyjamaparty traf. Jemanden wie Murdo lernte man nur kennen, wenn man sich in das finstere Reich der Vampire wagte. Das hatte Helene getan. Und das kam so:
Helene Steinbrück war die beste und einzige Freundin der Vampirschwestern Silvania und Daka. Neben Ludo Schwarzer (der beste und einzige Freund der Zwillinge) wusste sie als Einzige von der geheimen, halbvampirischen Identität der Schwestern. Die Schwestern und Ludo wiederum kannten als Einzige Helenes Geheimnis: Sie trug ein kleines Hörgerät am Ohr, da sie bei einem Unfall beinahe ihr Gehör verloren hatte. Und Silvania, Daka und Helene kannten als Einzige Ludos Geheimnis: Er konnte hellsehen (leider nur verschwommen) und zu ihm sprachen Geister (leider oft etwas undeutlich).
Helene war mit den Schwestern in den Herbstferien nach Transsilvanien gereist. Es waren herrlich unheimliche, gefährliche Ferien gewesen, fand Helene. Doch am schaurig-schönsten war das Date mit Murdo gewesen. Die Vampirschwestern und ihre Eltern fanden das Date allerdings nur schaurig und gar nicht schön. Denn Murdo war nicht nur ein Vampir, sondern ein Transgigant. Die Transgiganten waren eine besonders blutrünstige und aggressive Vampirart. Keiner wusste so recht, ob es bei Murdo Liebe oder nur Appetit war.
Vor ein paar Tagen waren Transgiganten auf ihren Riesenfledermäusen über Bindburg aufgetaucht. Sie hatten versucht, Helene zu entführen, denn sie duldeten keinerlei Beziehungen zwischen Transgiganten und Menschen. Mit geballten Kräften und Eckzähnen hatten sie es zwar geschafft, die Transgiganten zu vertreiben, aber eins hatte ihnen der Besuch der übergroßen und nimmersatten Vampire dennoch klargemacht: Wollte Helene mit Murdo Kontakt aufnehmen, musste sie sehr vorsichtig und unauffällig vorgehen.
Silvania blätterte in dem dicken Buch vor und zurück. Sie leckte kurz und elegant ihren Zeigefinger an. Daran steckte ein großer knallroter Ring, der wie ein Bonbon aussah. Einer von Silvanias Milcheckzähnen war im Bonbon eingeschlossen. Sie hatte den Zahn zum Andenken aufgehoben und zum Ring verarbeitet. Silvania las ein Stück, blätterte weiter, las, stutzte, blätterte wieder zurück.
„Weiß der Ratgeber nun einen Rat bei inniger, heimlicher, unglücklicher Liebe?“, fragte Helene. Sie sah auf ihre gelben Turnschuhe, auf die sie grinsende Totenköpfe gemalt hatte.
„Wenn ich das alles richtig verstehe, empfehlen die hier Geduld, Zurückhaltung und einen starken Willen. Und sie verweisen auf tragische Liebesgeschichten aus Literatur und Geschichte, wie zum Beispiel Romeo und Julia.“
„Von denen hab ich schon mal gehört.“ Helene stieß mit der Zunge von innen gegen ihre Wange, während sie nachdachte. „Die heiraten am Ende und bekommen Drillinge, stimmt’s?“
„Die bekommen jede Menge Ärger und bringen sich am Ende um.“
„Oh.“
Silvania schlug das Buch mit einem lauten Knall zu. Es staubte etwas. „Dein Fall ist einfach zu speziell. Wir müssen nach einer eigenen Lösung suchen.“
Helene stieß sich mit beiden Beinen vom Boden ab, schaukelte an der Leine und nickte entschlossener, als sie war. „Genau.“
„Zunächst einmal musst du herausfinden, ob Murdo dein Blut will oder dein Herz. Ich meine, rein symbolisch, Herz ohne Blut, verstehst du?“
Helene nickte. „Aber wie soll ich das herausfinden, ohne mit ihm zu reden? Und wie soll ich mit ihm in Kontakt treten, ohne dass es seine Eltern oder die Transgiganten merken?“ Bei dem Gedanken an die gewaltigen, kräftigen Vampire begann Helenes Unterlippe zu zittern.
In dem Moment flog die Zimmertür auf. Sie war nicht das Einzige, was flog. Dakaria Tepes flog ins Zimmer. Sie hatte einen Arm ausgestreckt und die Hand zur Faust geballt. Unter dem anderen Arm klemmte ein flaches schwarzes Brett. Daka trug eine enge graue Hose und lila Schnürschuhe, die halb von dunkelgrauen Stulpen verdeckt wurden. Ihr schwarzer Pullover hatte Fledermausärmel und einige Löcher. „Superdaka im Anflug!“, rief sie. Sie gab Silvania und Helene im Vorbeifliegen eine Kopfnuss.
„Hoi boi!“, sagte Silvania.
„Autsch!“, sagte Helene.
Daka blieb in der Luft stehen und betrachtete Helene. „Du hängst falsch herum ab“, stellte sie fest und hing sich selbst kopfüber an die Leine. Das Brett, das sie unter den Arm geklemmt hatte, legte sie in einem Regal neben der Leine ab.
Erst jetzt erkannten Silvania und Helene, dass es ein Laptop war.
Daka strich über den Laptop, legte den Kopf schräg und lächelte das Gerät versonnen an, wie sie es sonst nur bei Karlheinz tat. „Mein erster eigener funktionstüchtiger Portokulator.“
„Wo hast du den denn her?“, fragte Silvania.
„Von Ludo.“ Daka klappte den Laptop vorsichtig auf, als wäre er eine Schatztruhe. „Ludo hat gesagt, er braucht ihn grad nicht, da er einen neuen geschenkt bekommen hat. Außerdem hat er hellgesehen, dass ich den Portokulator dringend brauche.“
Silvania zog die Augenbrauen hoch. „Wozu?“
„Um genau drei Sachen zu machen“, erwiderte Daka. „Erstens: eine neue Bananenschneckenschleimseife für meine Haare aus Transsilvanien zu bestellen. Zweitens: mir die neuesten Songs von Krypton Krax herunterzuladen. Und drittens: an der Diskussion im Forum für Blutegelbesitzer teilzunehmen. Da erfährt man alles über die Pflege und richtige Haltung der Blutegel. Und man kann einen Taucher, ein Schiffswrack oder einen Sarg als Deko für das Aquarium bestellen.“
„Und das ist dringend?“
Daka reagierte nicht auf die Frage ihrer Schwester. Sie hatte den Laptop eingeschaltet und sah angestrengt auf den Bildschirm. „Fumpfs, hier ist alles verkehrt herum.“
„Du bist verkehrt herum“, sagte Helene.
„Gumox“, sagte Daka, nahm den Laptop in beide Hände und drehte ihn um. Jetzt lag der Monitor auf dem Regal und die Tastatur stand nach oben. „Na also, geht doch.“
Silvania verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Ihre Haarspange mit den Geierfedern rutschte dabei ein Stück nach unten. „Und wie willst du jetzt tipp–“ Der Rest des Satzes blieb Silvania im Hals stecken. Sie starrte auf den Laptop. Dann wanderte ihr Blick langsam zu Helene. „Das ist DIE Lösung!“
„Weiß ich.“ Daka grinste ihren Laptop zufrieden an.
„Nein, ich meine für Helene und Murdo!“
Daka und Helene sahen Silvania fragend an.
„Ihr trefft euch im Internet“, fuhr Silvania fort. Vor Aufregung bildeten sich rote Kringel um ihre lindgrünen Augen. Sie war vom Bett aufgestanden und strich sich den dunkelroten Rock glatt, an dessen unterem Rand kleine Skelette tanzten.
„Und wo da genau?“, fragte Helene.
„Dort, wo euch keine Transgiganten finden. Dort, wo nur Auserwählte Zugang haben. In einem geheimen Netzwerk.“
Daka atmete durch die Zähne ein. Sie sah kurz auf den Bildschirm, dann nickte sie ihrer Schwester verschwörerisch zu und flüsterte: „Ihr trefft euch im Vampir Vunio Zettercorda.“