Czytaj książkę: «Die Vampirschwestern – Ein bissfestes Abenteuer»
Für jeden Popo was
Elvira Tepes klemmte sich fünf Klobrillen unter den Arm. Dann hängte sie sich ihre Handtasche über die Schulter und gab ihrem Mann einen Abschiedskuss. Sein schwarzer Schnauzbart, der zwei riesengroßen Lakritzschnecken ähnelte, kitzelte. „Tschüss, mein Mihai. Schlaf gut!“
Mihai Tepes stand auf der Treppe zum Keller und lächelte seiner Frau nach. Als die Haustür ins Schloss fiel, gähnte er. Es war schon fast zehn Uhr morgens. Höchste Zeit, in den Sarg zu gehen. Langsam stieg Herr Tepes die Stufen hinab. Er konnte gar nicht glauben, dass er sich so schnell an das neue Zuhause gewöhnt hatte. Doch sein Heimweh blieb nach wie vor groß. Er vermisste die dichten transsilvanischen Wälder, seine Freunde und Verwandten. Er vermisste es, als richtiger Vampir zu leben.
Es war schon fast ein Monat vergangen, seit der Möbeltransporter aus Transsilvanien in den Lindenweg gebogen war. Mihai und Elvira Tepes waren mit ihren Töchtern Silvania und Daka in das Reihenhaus Nummer 23 eingezogen. Mihai Tepes, zweiter Sohn einer ehrwürdigen Vampirfamilie aus Bistrien, wohnte samt Sarg, Orgel und Rennzecken im Keller. Nicht ganz freiwillig.
Elvira Tepes hatte in der oberen Etage nicht nur ein Schlafzimmer besetzt, sondern auch eins der Kinderzimmer, das ursprünglich für Silvania vorgesehen war. Dort lagerte sie 250 Klobrillen, die sie günstig in Rumänien erstanden hatte. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren ersten eigenen Laden in der Innenstadt von Bindburg eröffnet. „Die Klobrille“. Es war der erste Klobrillenladen der ganzen Stadt. Vielleicht sogar in ganz Deutschland. Oder im ganzen Universum. Silvania und Daka hatten ihrer Mutter bei den Vorbereitungen zur Eröffnung geholfen. Sie hatten den Werbeslogan von Frau Tepes an das Schaufenster geklebt: Ich gestalte Klobrillen, ganz nach Ihrem Willen. Klobrillen nach Maß – für jeden Popo was!
Frau Tepes hatte zu Anschauungszwecken bereits ein paar Klobrillen kunstvoll gestaltet. Sie hingen wie Ausstellungsstücke in einem Museum an der Wand des kleinen Ladens. Die Eröffnung war ein voller Erfolg gewesen. Zunächst waren nur Familie Tepes, Oma Rose und Opa Gustav und der Ladenvermieter Dr. Peter Steinbrück mit seiner Tochter Helene gekommen. Doch im Laufe des Tages verirrten sich immer mehr Schaulustige und Stadtbummler in den außergewöhnlichen Laden. Frau Tepes bekam sogar die ersten Aufträge: Ein Mann wollte eine hellblaue Plüschklobrille, passend zu seinem Badvorleger, und eine Frau wollte eine Klobrille bemalt mit Gummibärchen, damit sie ihren kleinen Sohn dazu brachte, statt auf das Töpfchen aufs Klo zu gehen.
Frau Tepes war sehr zufrieden. Mit ihrem Laden, dem Umzug zurück in ihre Heimat und mit ihrem Mann, der sich noch mal in aller Form bei Herrn Dr. Steinbrück entschuldigt hatte. In einem nächtlichen Anflug von Eifersucht hatte er versucht, ihn zu beißen. Bei mehreren Kaffees, Tees und Sprudelwässern war es Frau Tepes gelungen, ihren Vermieter von der Harmlosigkeit ihres Mannes zu überzeugen. Zumindest dachte er jetzt, Mihai Tepes litte an einer unerforschten psychischen Störung: krankhafte Eifersucht mit Bisszwang.
Wäre es nur nach Mihai Tepes gegangen, hätte er freiheraus gesagt, wie es sich wirklich verhielt: Er war ein Vampir! Und darauf war er stolz. Er hasste es, sich zu verstecken. Aber er hatte es Elvira versprochen. Sie glaubte an Vampirjäger und fürchtete, alle Menschen würden entweder die Flucht ergreifen oder auf die Familie losgehen, wenn sie wüssten, dass ihr Mann ein Vampir und ihre Töchter Halbvampire waren. Dabei lebten Vampire, Halbvampire und Menschen in Transsilvanien friedlich zusammen. Na gut, nicht ganz so friedlich. Ab und zu verschwand schon mal ein unvorsichtiger Mensch. Aber er war selbst schuld, wenn er nicht aufpasste!
Mihai Tepes schloss die Kellertür, legte sich in seinen Sarg mit der Heimaterde und atmete tief ein. Er schloss die Augen und stellte sich vor, mit seinem Bruder Vlad durch die transsilvanischen Wälder zu fliegen, über rauschende Bäche hinweg und durch steinige Schluchten. Sie verspeisten genüsslich die Fliegen, die sich dabei in ihren Mund verirrten. Der Wind zerzauste Mihai die halblangen pechschwarzen Haare, während sie immer schneller flogen, geradewegs auf den Vollmond zu …
„Papa?“
Jemand klopfte kräftig am Sargdeckel. Mihai Tepes stöhnte. Er verabschiedete sich von seinem Traum, von Vlad, dem Mond und den transsilvanischen Wäldern. Dann öffnete er die Augen und stieß den Sargdeckel auf. „Was?“
Seine Tochter Daka, die sieben Minuten jüngere Zwillingsschwester von Silvania, hielt ihm den Telefonhörer entgegen. „Onkel Vlad.“
Herr Tepes fuhr sich durch die Haare. „Schon wieder?“
Daka nickte.
„Mitten am Tag?“
Daka nickte abermals.
Schließlich nahm Herr Tepes den Telefonhörer. „Danke“, sagte er und strich Daka kurz über ihre Stachelhaarfrisur. Erst gestern Nacht hatte Mihai Tepes mit seinem Bruder gechattet. Und vorgestern Nacht hatten sie sich im Fünfminutentakt SMS geschrieben. Herrn Tepes tat noch immer der Daumen weh. Anscheinend vermisste Vlad seinen kleinen Bruder in Transsilvanien genauso sehr wie der seinen großen Bruder in Deutschland.
„Hoi, Vlad“, meldete sich Mihai. Das Gespräch fand natürlich auf Vampwanisch statt. Einer der kompliziertesten und ältesten Sprachen der Welt. Vlad erkundigte sich nach der Familie, dann regte er sich über einen Nachbarn auf, der tagsüber Orgel spielte (und dazu noch schlecht), und schließlich kam er zu seinem Lieblingsthema: der Weltrevolution der Vampire aller Länder.
Mihai Tepes war über die Revolution aus früheren Gesprächen bestens informiert, deswegen hörte er nicht so genau hin. Er legte sich mit dem Telefonhörer am Ohr wieder in den Sarg, schloss den Deckel und brummte ab und zu „hm, hm“. Herr Tepes brauchte dringend Schlaf. Seine Nachtschichten als Gerichtsmediziner am Institut für Rechtsmedizin waren doch anstrengender, als er gedacht hatte. Vor allem, wenn man neben der Arbeit noch ein paar leckere Blutkonserven mit nach Hause in die große Tiefkühltruhe schmuggeln musste.
Daka war wieder nach oben gegangen. Sie setzte sich neben Silvania auf die blutrote Couch im Wohnzimmer und stellte ihre nackten Füße in ein Katzenklo. Es gehörte Herrn Tepes und war am Boden mit Heimaterde bedeckt.
Silvania las in der neuesten Mädchenzeitschrift. „Fumpfs!“, rief sie. „Lila ist total out, jetzt ist Kirschrot in.“ Sie starrte voller Entsetzen auf ihre lila lackierten Fingernägel.
„Tja, da hilft nur Fingerabhacken.“ Daka verdrehte die Augen.
„Übrigens ist der Punklook auch total out“, sagte Silvania und zeigte auf die Seeigelhaarfrisur ihrer Schwester.
„Bei Menschen vielleicht.“
Silvania seufzte. „Hallo! Guten Morgen! Wir sind jetzt bei den Menschen.“
„Na und? Trotzdem bin ich ein Halbvampir.“ Daka fuhr sich mit der Zunge über ihre spitzen Eckzähne. Es war höchste Zeit für Dentiküre. Sie sprang auf und holte ihre Zahnfeile aus dem Bad. Dann setzte sie sich wieder auf die Wohnzimmercouch und begann, an einem Eckzahn zu feilen. Es quietschte furchtbar.
Silvania verzog das Gesicht. „Was soll denn das jetzt?“
Daka setzte die Feile ab. „Dentiküre. Radikale Regel Nummer sieben.“ Frau Tepes hatte sieben radikale Regeln für die Töchter aufgestellt. Sie verboten den Halbvampiren zum Beispiel Fliegen bei Tageslicht, Flopsen, lebende Mahlzeiten und schrieben Dentiküre und Tragen von Sonnenschutz vor. Normalerweise hielt sich Daka nicht besonders an die radikalen Regeln. Aber wenn ihr langweilig war und sie ihre Schwester damit ärgern konnte, dann schon.
„Musst du das hier mitten im Wohnzimmer machen?“ Silvania beugte sich zur Terrassentür. „Wo dich jeder sehen kann?“
„Meinst du den Komposttypen?“ Daka winkte ab. „Der hat sich schon seit Tagen nicht mehr blicken lassen.“
Dirk van Kombast, der unmittelbare Nachbar der Tepes, war tatsächlich seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Dabei sah man ihn sonst regelmäßig, gut gebräunt und gut geföhnt, in seinem silbernen Sportwagen den Lindenweg entlangfahren.
„Vielleicht ist er auf extralange Vertreterreise gegangen“, überlegte Silvania laut.
„Sag bloß, du vermisst ihn!“
Silvania warf ihrer Schwester einen mitleidigen Blick zu. Es war nicht zu fassen, was sieben Minuten Altersunterschied ausmachten! Daka hatte keine Ahnung von Männern, der Liebe und anderen grundlegenden Dingen. „Nur weil ich finde, dass er wahnsinnig gut aussieht, vermisse ich ihn doch nicht gleich.“
„Wahrscheinlich hat er nach der Geschichte mit Rattatoi Angst, dass Papa ihn wirklich anzeigt, und hat sich erst mal aus dem Staub gemacht“, sagte Daka.
Herr van Kombast hatte eine tote Ratte auf der Terrasse der Tepes gefunden. Mit eindeutigen Bissabdrücken. Herr Tepes (der seinen Mitternachtssnack auf der Terrasse vergessen hatte) konnte Dirk van Kombast davon überzeugen, dass es sich um das Haustier der Familie handelte. Offenbar hatte es ein tragischer Tod ereilt. Offenbar durch Herrn van Kombast. Er drohte dem Nachbarn mit einer Anzeige, woraufhin dieser die Flucht ergriff. Seitdem hatte sich Dirk van Kombast nicht mehr bei den Tepes sehen lassen.
Doch Dirk van Kombast war weder auf extralanger Vertreterreise, noch hatte er sich aus Angst vor einer Anzeige aus dem Staub gemacht. Dirk van Kombast war in den letzten Tagen mit den Vorbereitungen einer Reise beschäftigt gewesen. Er hatte den besten Anzug aus der Reinigung geholt, Flugtickets und ein Hotel gebucht, war noch mal zur Zahnreinigung gegangen und hatte schließlich seine Reisehausschuhe und seinen Laptop eingepackt. Sein Laptop war sein Gedächtnis, seine geheime Zentrale voller Beweismittel.
Vor zwei Tagen hatte Dirk van Kombast den Flieger nach New York genommen. Doch die Stadt, die niemals schlief, interessierte ihn nicht. Er war kein gewöhnlicher Tourist. Er war geladener Besucher der „VI. International Vamptology Conference“. Endlich würde er mit vernünftigen, gleich gesinnten Menschen reden können.
Bevor Dirk van Kombast zum Vampirologenkongress aufgebrochen war, hatte er sich von seiner Mutter in der psychiatrischen Anstalt verabschiedet. Außer ihr, vermutete er, würde ihn niemand in Deutschland vermissen.
Silvania dachte an Rattatoi und musste kichern. Doch dann überkam sie ein langes Gähnen. Daka stimmte sofort in das Gähnen ein. Die Schwestern blinzelten zum Fenster, vor dem die Sonne schien.
„Wie schaffen es die Menschen nur, bei der Helligkeit wach zu bleiben? Da kneift man doch freiwillig die Augen zu“, meinte Daka.
Silvania gähnte zur Bestätigung gleich noch einmal. Dann nahm sie die Hand vom Mund. „Diese schlaflosen Tage sind echt anstrengend.“
„Ich werde mich nie daran gewöhnen, den Tag zur Nacht zu machen.“
„Papa hat es gut mit seinem Job. Aber in der Schule werden sie extra für uns sicher keine Nachtschichten einführen“, sagte Silvania.
„Na ja, immerhin konnten wir letzte Woche in Geschichte und Geo mal schön ausschlafen.“
Das lag nicht daran, dass der Unterricht so langweilig war oder der Lehrer ein Schlafexperiment durchgeführt hatte. Herr Martin Graup, der Klassenlehrer der 7b und Lehrer für Geschichte und Geografie, war die ganze Woche krank geschrieben. Es hieß, ihm wäre eine Honigmelone direkt aus dem Himmel auf den Kopf gefallen. Statt Geschichte und Geo hatte die 7b stille Beschäftigung. Daka und Silvania Tepes nahmen es mit dem „still“ sehr ernst. Von ihrer Bank war nur ab und zu ein leises Schnarchen zu hören. Hätte Helene sie nicht regelmäßig geweckt, hätten sie bis zum Sonnenuntergang schnarchend auf der Schulbank gelegen.
Helene Steinbrück, die Tochter von Dr. Peter Steinbrück, war Silvanias und Dakas neue, einzige und beste Freundin. Zumindest fast. Helene hatte den Schwestern ihr Geheimnis anvertraut: Sie trug ein Hörgerät, das sie hinter ihren langen blonden Haaren versteckte und von dem niemand in der Klasse etwas wusste. Daka und Silvania hatten versprochen, niemandem davon zu erzählen. Aber sie hatten auch versprochen, Helene ihr Geheimnis zu verraten. Helene hatte die Schwestern genau beobachtet und war sich sicher, dass sie nicht ganz normal waren. Dabei hatte Daka nur mal kopfüber am Stufenbarren ein Schläfchen gemacht und Silvania war bei einem akuten Heimaterdeentzug vom Schwebebalken gekracht. Ganz normale Begebenheiten. Für Halbvampire.
Solange die Zwillinge Helene nicht ihr Geheimnis anvertrauen würden, waren sie keine echten Freundinnen. Das leuchtete auch Daka und Silvania ein. Denn echte beste Freundinnen vertrauten einander. Doch in der Schule war es viel zu gefährlich, solche Geheimnisse auszutauschen. Zum einen störten die Lehrer, die mitten im Unterricht ständig Fragen hatten, zum anderen der Schrank und der Kleiderständer. Das waren Lucas Glöckner, ein Möchtegernmonster, und Rafael Siegelmann, ein leibhaftiger Lehrerliebling.
Am meisten aber störte Ludo Schwarzer. Er schlich wie ein Panther durch die Schulgänge, tauchte plötzlich in der Nähe der Zwillinge auf und starrte sie dann mit seinen geheimnisvollen, ockerfarbenen Augen an, dass die Halbvampire eine Gänsehaut bekamen. Wenn Silvania und Daka schon nicht ganz normal waren – Ludo Schwarzer war es sicher nicht.
Die Ratten
Elvira Tepes stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer und hängte sich ihre Lieblingsohrringe an die Ohrläppchen. Sie ähnelten zwei großen Tränen und hatten die gleiche Farbe wie ihre nachtblauen Augen. Mihai hatte sie von einem Besuch bei Verwandten in Damaskus mitgebracht.
Mihai Tepes trat lautlos neben seine Frau. „Du siehst zum Anbeißen aus!“
Elvira zuckte zusammen. Sie hatte ihren Mann weder kommen hören noch gesehen. Auch jetzt war sie allein im Spiegelbild. Sie drehte sich mit einem Ruck um. „MIHAI!“
Mihai Tepes grinste, wobei sich sein Lakritzschnauzer noch mehr kringelte und man die langen Eckzähne aufblitzen sah. Er liebte es, seine Frau zu erschrecken. Wenn er sie schon nicht beißen durfte. „Und, bin ich dir schick genug?“, fragte er, zupfte an seiner knallroten Fliege, die der einzige Farbklecks auf seinem schwarzen Hemd, der schwarzen Weste und dem schwarzen Frack darüber war. Bunt war nur für Frauen, fand Herr Tepes.
Elvira stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Mann einen Kuss. Seit sie sich nach dem bissigen Eifersuchtsanfall von Herrn Tepes wieder versöhnt hatten, waren sie wie zwei Turteltauben. Silvania fand das zum Seufzen schön. Daka zum Stöhnen anstrengend. Herr Tepes hatte seiner Frau Theaterkarten ihrer Wahl geschenkt. Elvira Tepes hatte sich die Samstagabendaufführung ausgesucht: „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann. Mihai Tepes fand, der Titel klang vielversprechend.
Als sich die Eltern an der Wohnungstür von ihren Töchtern verabschiedeten, hielt Daka einen Daumen hoch und rief: „Boi!“
„Ihr seht wunderschön aus“, fand auch Silvania.
Elvira Tepes strahlte, und Mihai Tepes warf seine halblange pechschwarze Mähne nach hinten, als würde er gleich selbst eine Bühne betreten. „Also, ihr wisst Bescheid …“, begann Frau Tepes.
„Klar doch, Mama“, fiel ihr Daka ins Wort. „Wir fliegen nicht durch die Innenstadt, beißen niemanden und betrinken uns nicht mit Blut.“
Elvira und Mihai Tepes nickten.
„Und wenn, dann rufen wir vorher an“, sagte Silvania. Als sie den entsetzten Blick ihrer Mutter sah, fügte sie schnell hinzu: „War ein Scherz.“
Mihai führte seine Frau zu seiner ersten großen Liebe: seinem flaschengrünen Dacia. Er öffnete die Beifahrertür und ließ Elvira einsteigen. Dann knallte er die Tür so schwungvoll zu, dass es das ganze Wohnviertel hören konnte. Nur so funktionierte die Tür noch. Der Dacia war nur ein paar Jahre jünger als Herr Tepes selbst. Frau Tepes drehte das Fenster herunter, das wie immer etwas klemmte, während Mihai auf der Fahrerseite einstieg.
„Viel Spaß mit den Ratten!“, rief Silvania.
„Geht danach doch noch schön was essen oder trinken“, schlug Daka vor. „Macht euch keine Sorgen um uns.“
Elvira Tepes nickte, doch in ihren Augen schimmerte Zweifel. War es wirklich eine so gute Idee, die Zwillinge allein zu Hause zu lassen? Sie waren gerade mal zwölf, fast noch Kinder. Sie wohnten gerade mal ein paar Tage in Deutschland. Und sie waren Halbvampire, mitten unter Menschen. „Vielleicht hätten wir doch Opa Gustav oder Oma Rose noch mal fragen sollen“, meinte Elvira, als der Dacia den Lindenweg entlangtuckerte.
„Ob sie auf zwei halb erwachsene Halbvampire aufpassen wollen?“ Herr Tepes schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, dass deine Eltern heute Abend ihre eigenen Pläne haben.“
Opa Gustav musste ins Stadion. Sein Verein, der FC Bindburg, spielte. Er hatte in der letzten Saison nur knapp den Meisterschaftstitel verpasst. Genau wie all die Jahre zuvor. Aber Opa Gustav war sich sicher, dass es diese Saison klappen würde. An ihm sollte es nicht liegen. Er würde kein einziges Spiel des FC Bindburg verpassen und seinen Verein kräftig anfeuern.
Oma Rose machte Überstunden im Museum. Diese Woche war eine neue, große Ausstellung eröffnet worden. Japanische Kunst der Edo-Zeit. Es war eine der wertvollsten und wichtigsten Ausstellungen, die das Kunstpalais Bindburg jemals veranstaltet hatte. Oma Rose war für die Führungen verantwortlich.
„Außerdem“, sagte Herr Tepes und bog auf die Hauptstraße, „was sollen unsere Töchter schon anstellen?“
Maultiere und Spiderwoman
Als sich im Theaterhaus der Vorhang zum ersten Akt öffnete und Herr und Frau Tepes erwartungsvoll zur Bühne blickten, klingelte es ein paar Kilometer weiter nördlich im Lindenweg Nummer 23 an der Wohnungstür.
Daka sprang aus ihrem Schiffsschaukelsarg, der daraufhin wackelte, als wäre er in einen Atlantiksturm geraten. „Das ist sie!“
Silvania schob sich schnell den Rest ihres Wiener Würstchens in den Mund und folgte Daka die Treppe hinunter. Seit Silvanias gescheitertem Versuch, Vegetarierin zu werden, war sie wieder zur Vollblutfleischfresserin geworden.
Daka riss die Wohnungstür auf. „Hallo!“
„Hoi boi!“ Helene lächelte und gab den Zwillingen jeweils eine Kopfnuss, die diese sogleich erwiderten. „Hoi boi“ waren Helenes erste Worte auf Vampwanisch. Es hieß so viel wie „alles paletti“. Allerdings wusste Helene noch nicht, dass es sich dabei um vampwanische Wörter handelte. Sie wusste noch nicht einmal, dass so eine Sprache existierte.
Silvania und Daka hatten lange nachgedacht, geredet, wieder nachgedacht und abermals geredet. Sie hatten kreuz und quer gedacht, im Stehen, Liegen, Hängen und beim Fliegen. Beim Sitzen auch. Sie hatten überlegt, ob sie ihre Mama um Rat fragen sollten. Aber wozu? Sie würde Nein sagen. Garantiert. Sie hatten überlegt, ob sie ihren Papa fragen sollten. Aber wozu? Er würde Ja sagen. Garantiert. Dann wären sie genauso schlau gewesen wie zuvor. Außerdem würden sich die Eltern deswegen vielleicht wieder streiten. Das wäre nicht nett, wo sie sich doch gerade versöhnt hatten.
Schließlich waren sie zu dem Schluss gekommen: Wenn Helene nicht wusste, dass sie Halbvampire waren, wenn sie ihr nicht genug vertrauten, ihr dieses Geheimnis zu verraten, dann konnten sie auch keine echten, allerbesten Freundinnen sein.
Das wollten sie aber. Deshalb hatten sie beschlossen, Helene am Samstagabend zu sich einzuladen und es ihr zu sagen, während sich ihre Eltern „Die Ratten“ ansahen. Aus Rücksicht hatten sie gar nicht erst erwähnt, dass sie Helene eingeladen hatten. Ihre Eltern sollten den Theaterabend genießen können, ohne sich dabei Sorgen zu machen, dass ein fremder Mensch in ihrer Wohnung war und sich vielleicht aus Versehen in den Keller verlief und über einen Sarg stolperte.
„Komm rein“, sagte Silvania und führte den Gast nach oben in ihr Zimmer.
„Cooool!“, rief Helene, als sie Dakas Bett sah. Es war ein alter Sarg, den Daka zusammen mit Onkel Vlad kunterbunt bemalt und mit vier Ketten an ein Metallgestell gehängt hatte. „Ist das eine alte Schiffsschaukel?“
Daka kratzte sich hinter dem Ohr. „So ähnlich.“
„Darf ich mich mal reinsetzen?“
„Klar.“
Einen Moment betrachtete Helene mit gerunzelter Stirn Dakas schwarze Bettwäsche, auf die lauter kleine weiße Larven gedruckt waren, und ihr Kopfkissen, das wie eine riesige, behaarte Spinne aussah. Dann schaukelte sie und sah sich im Zimmer um. „Cooler Hutständer“, sagte sie und deutete auf den alten verdorrten Baum, an dessen Ästen Silvania ihre Mützen und Hüte aufbewahrte. Helenes Blick wanderte zur Baumspitze und weiter an die Zimmerdecke. „He, wieso habt ihr denn eine Metallkette quer durch euer Zimmer gespannt?“
„Na, zum Abhängen“, sagte Daka.
„Das ist eine Art Wäscheleine“, warf Silvania schnell ein.
Helene staunte. „Voll abgefahren.“
Silvania und Daka nickten.
„Und wer ist das?“, fragte sie und deutete auf ein Poster an der Wand.
„Das sind Krypton Krax, die beste transsilvanische Band aller Zeiten“, sagte Daka stolz. „Wenn du willst, kann ich dir was vorspielen.“
Silvania schüttelte heftig den Kopf. „Willst du nicht!“
Doch Helene hatte schon etwas Interessanteres entdeckt. „Was ist denn da drin?“, fragte sie, stieg aus dem Schiffsschaukelsarg und kniete sich vor Dakas Aquarium.
„Dort wohnt Karlheinz. Und ein paar andere Blutegel“, erklärte Daka. „Aber sie sind ziemlich schüchtern bei Fremden.“
Helene zögerte einen Moment. Doch dann presste sie ihre Nase ans Aquarium. „Beißen die?“
„Nö. Nur, wenn sie hungrig sind.“
Silvania räusperte sich und sah ihre Schwester mit großen Augen an. Daka riss ebenfalls die Augen auf und zuckte die Schultern. Keine der Schwestern wusste, wie und wo sie anfangen sollten. Sollten sie einfach in einem Nebensatz erwähnen, dass sie Halbvampire waren? Nach dem Motto: „Wir sind zweieiige Zwillinge, unsere Hobbys sind Musik und Lesen, wir essen am liebsten Zartbitterschokolade und sind Halbvampire. Und welche Schokolade isst du gern?“ Oder sollten sie Helene ganz behutsam und langsam mit dem Gedanken vertraut machen, dass es nicht nur Vampire gab, sondern auch Halbvampire? Und dass sie – Glückwunsch – zwei Halbvampire als Freundinnen hatte!
„Was ist los?“, fragte Helene.
Silvania biss sich auf die Unterlippe (wie gut, dass sie ihre Eckzähne erst vor Kurzem abgefeilt hatte) und versuchte, Helenes Blick auszuweichen. Daka setzte sich neben Silvania auf ihr Bett und sah Helene, die noch auf dem Fußboden kniete, ernst an.
Helene wurde blass. Sie öffnete die Lippen ganz leicht. Dann trat ein Glanz in ihre Augen. „Ihr wollt mir euer Geheimnis verraten, stimmt’s?“, flüsterte sie.
Daka und Silvania nickten. Aber keine der Schwestern sagte etwas.
Helene setzte sich in den Schneidersitz und warf ihre blonden Haare über die Schultern. „Ich bin bereit. Mein Hörgerät ist eingeschaltet. Legt los!“
Daka und Silvania warfen sich einen letzten fragenden Blick zu. War Helene wirklich bereit? Sie würden es gleich sehen. Wahrscheinlich rannte ihre neue, allerbeste Freundin schreiend aus dem Haus. Vielleicht stürzte sie sich auch aus dem Fenster. Das wäre noch schlechter.
„Ich verrate es keinem. Allerernstes Ehrenwort“, versprach Helene leise.
„Also“, begann Silvania mit belegter Stimme. „Wie du ja schon gemerkt hast, sind wir nicht ganz normal.“
Helene nickte.
„Wir sind anders als andere Menschen. Genau genommen sind wir anders als alle Menschen“, fügte Daka hinzu.
„Das liegt an unseren Chromosomen“, sagte Silvania.
„Du weißt schon, die Dinger mit dem Erbgut drin“, warf Daka ein. „Da haben wir nämlich welche von unserer Mutter und unserem Vater.“
Helene runzelte die Stirn. „Ist das nicht normal?“
„Schon. Aber das Problem sind die Chromosomen von unserem Papa“, erklärte Silvania.
Helene zog hastig Luft ein und riss die Augen auf. „Ist er krank?“
„Nein. Er ist nur … anders.“
„Ah! Ich weiß. Die Chromosomen von eurer Mama und eurem Papa vertragen sich nicht so toll. Ihr leidet an einer seltenen Stoffwechselkrankheit. Deswegen seid ihr immer so blass und müde.“ Helene warf den Schwestern einen triumphierenden Blick zu.
Daka und Silvania sahen sich mit gerunzelter Stirn an. „Nicht ganz“, sagte Silvania schließlich.
„Also, eigentlich vertragen sich die Chromosomen schon ganz gut“, fuhr Daka fort. „Ungefähr so wie bei einem Maultier.“ Daka war sehr stolz, dass ihr dieser treffende Vergleich eingefallen war.
„Ein Maultier?“ Helene machte ein Gesicht wie ein Schaf.
Silvania begriff sofort. „Genau. Ein Maultier entsteht durch Kreuzung zwischen Pferdestute und Eselhengst. Unsere Mama ist sozusagen die Pferdestute und unser Papa der Hengst.“
„Und wir sind die Maultiere“, ergänzte Daka.
Helene sagte einen Moment nichts und blickte zwischen Daka und Silvania hin und her. „Ihr – seid – Maultiere?“
„Genau.“ Daka nickte.
„Also natürlich keine richtigen“, wandte Silvania ein. „Das ist nur ein Vergleich, verstehst du?“
Helene schüttelte den Kopf.
Daka und Silvania seufzten. Das war schwieriger, als sie gedacht hatten. „Na gut“, begann Daka wieder. „Dann sagen wir es dir eben einfach, wie es ist.“
Helene nickte eifrig.
„Sitzt du gut?“ Silvania betrachtete Helene ängstlich, die sich bequem zurückgelehnt hatte.
Daka holte einmal tief Luft, dann sagte sie in einem Atemzug: „Unsere Mama ist ein Mensch, unser Papa ist ein Vampir und wir sind Halbvampire.“
Die Zwillinge starrten Helene an. Für Sekunden blieb es mucksmäuschenstill im Zimmer. Helene blickte von einer Schwester zur anderen, nur ihre Augen bewegten sich, sonst saß sie stocksteif da. Immerhin – sie lief nicht schreiend weg und sprang auch nicht aus dem Fenster.
Plötzlich stieß Helene einen markerschütternden Schrei aus, ließ sich mit dem Rücken nach hinten auf den Boden fallen und krampfte sich zusammen.
Silvania sprang auf. „Sie hat einen Anfall!“
Daka sprang auf. „Das war doch zu viel für sie.“
Die Schwestern knieten sich neben Helene, die zusammengerollt am Boden lag, wild zuckte und seltsame Geräusche von sich gab.
„Helene, wir sind bei dir, keine Panik“, sagte Silvania.
„Vielleicht macht ihr genau das Angst“, entgegnete Daka.
„Ruhig atmen“, versuchte es Silvania erneut. „Denk an etwas Schönes. Schokoladeneis, Horrorfilme oder Pusteblumen.“
Pusteblumen? Daka sah ihre Schwester verwirrt an. Den Vergleich mit den Horrorfilmen verstand sie ja noch – schließlich war Helene ein Fan davon. Aber Pusteblumen? Sie beschloss, es auf ihre Weise zu versuchen. Mit beiden Händen packte sie die zuckende Helene an den Schultern und schüttelte sie. „Alles wird gut. Hoi boi, hoi boi, hoi boi!“
Es wirkte. Helene schnappte nach Luft und richtete sich auf. Da sahen die Schwestern, dass ihre neue allerbeste Freundin Tränen in den Augen hatte.
„Nicht heulen. So schlimm ist das doch gar nicht“, fand Daka.
Helene schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann zuckte sie wieder und stieß seltsame schnaufende Geräusche aus.
Die Zwillinge starrten Helene an. War das etwa …? Tatsache. Ihre Freundin hatte keinen Anfall. Sie heulte auch nicht. Sie lachte! Sie kicherte und schnaufte und grunzte, da konnte kein Lachsack mithalten.
Silvania runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich habe gerade einen Witz verpasst.“
„Ich auch“, sagte Daka.
Helene japste: „Ihr“ – kicher – „seid“ – kicher – „Halbvampire!“ Prust. Kicher. Prust.
Silvania nickte. „Und du findest das gar nicht … unheimlich?“
„Doch. Total unheimlich. Brrr“, machte Helene und schüttelte sich. „Ein unheimlich guter Scherz!“ Dann brach sie wieder kichernd und glucksend zusammen.
Die Schwestern sahen sich ratlos an. Sie hatten Helene ihr größtes Geheimnis anvertraut und sie lachte nur!
Helene schniefte zwischen den Lachern. „Ich meine – Halbvampire! Das ist total abgefahren. Wie kommt ihr denn darauf?“
Daka wurde es langsam zu blöd. Sie verschränkte die Arme und funkelte Helene an. Sie war ein sehr stolzer Halbvampir.
Helene bemerkte Dakas Blick. „Ihr meint, ihr spielt ab und zu Vampir, ja? Das ist euer Hobby, richtig?“
„Nein, wir meinen, wir sind Halbvampire“, sagte Silvania.
Helene versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, aber es gelang ihr nicht. „Okay, wenn ihr Halbvampire seid, dann bin ich Spiderwoman.“ Helene lachte und schoss mit ihrem Finger einen imaginären Spinnenfaden durchs Zimmer.
Mittlerweile hatten beide Schwestern die Arme verschränkt und starrten Helene mit ernster Miene an.
Helene zog die Augenbrauen zusammen. „He, das ist ein Witz, oder? Das kann nur ein Witz sein!“
„Wenn du es nicht glauben willst, dann beweisen wir es dir“, sagte Daka.
Silvania sah ihre Schwester mit großen Augen an. Was hatte sie vor?
Daka stellte sich an die Tür. „Guck genau hin“, sagte sie zu Helene. „Onu, zoi, trosch!“, zählte sie laut und – RAPPELDIZACK!, flopste sich Daka durch den Raum. In der Zeit, in der ein Mensch einmal blinzelte, war sie von der Tür zum Fenster geflopst.
Helene starrte Daka mit offenem Mund an. Sie sah zur Tür, zum Fenster, zur Tür und wieder zum Fenster. „Wie … was …?“
„Das heißt Flopsen. Es ist ziemlich anstrengend und wir können es nur über kurze Entfernungen hinweg und nicht durch Wände hindurch“, erklärte Silvania. „Aber manchmal ist es ganz praktisch.“
„Wenn man die Straßenbahn noch kriegen will“, sagte Daka.
„Oder am anderen Tischende etwas hinunterfällt.“
„Oder man den besten Platz im Kino haben möchte.“
„Oder einem der Traumjunge abhauen will“, sagte Silvania.
„Oder man einer Ratte nachjagt.“
Helene war etwas blass geworden. „Einer Ratte?“
„Klar. Das ist zwar gegen die radikale Regel Nummer zwei, aber so ein Rattensnack ist echt schmacko. Wobei“, sagte Daka und fixierte eine Fliege, die unvorsichtigerweise vor ihrer Nase Runden drehte. Die Fliege war entweder sehr dumm oder sehr mutig. Was manchmal dasselbe ist. Sie flog direkt auf Dakas Mund zu. Blitzschnell schoss Dakas Zunge vor. Klatsch!, hatte sie die Fliege gefangen. Knack!, knirschte sie zwischen den Zähnen. „So eine Fliege ist auch ganz lecker.“
Helene war jetzt so weiß, dass ihr Gesicht in keiner Schneemannparade aufgefallen wäre. Ihr Mund stand offen, ihre Augen waren kugelrund. Sie schnappte dreimal nach Luft, und dann … „AAAAAAAH!“, stieß sie einen zitronenschrillen Schrei aus. Mit einem Ruck stand sie auf und rannte aus dem Zimmer. Sie verschwand im Bad, schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte das Schloss.
Daka und Silvania folgten Helene. Sie standen vor der Badezimmertür und hörten Helene dahinter weiterschreien.
„Immerhin ist sie nicht aus dem Fenster gesprungen“, meinte Silvania.