Czytaj książkę: «The Art of Marathon»

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Franz Staab

The Art of Marathon

Ein Hamburg-Lustmacherbuch für Läufer, Pauli-Fans, Quentin-Tarantino-Freaks und Crossgolfphantasten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Run for Boston

Hamburg? An was denkst Du dabei?

Das Geckische Gnippschen

Auf großer Fahrt

Gestatten, Silbersack

Quentin Tarantino goes Hamburg

Moin Moin

P wie Pamir, Polar und Pudel

The Art of Hamburg

Start und Ziel in St. Pauli!

Nachwort

BONUS TRACK: Raining Lola

Es ist Zeit, Danke zu sagen.

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Impressum neobooks

Run for Boston

Den Opfern des feigen Anschlags auf den Boston-Marathon 2013 gewidmet.

Donnerstag, 18. April 2013

Am Vortag unserer Abreise nach Hamburg bestimmt der Boston-Marathon die Nachrichten, bei dem vergangenes Wochenende drei Menschen ums Leben gekommen sind. Ein irrer Bombenleger hat dort zwei Sprengsätze, die aus einem Schnellkochtopf gebastelt wurden, hochgehen lassen. Man weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel. Das amerikanische FBI hat laut Medienberichten bereits zigtausende von Fotos ausgewertet, es gibt erste Hinweise auf die mögliche Identität des Täters. Aber noch ist alles Spekulation. Nicht nur die deutsche BILD-Zeitung transportiert Bilder des Grauens.

Sicher ist, wie gesagt, dass es drei Tote gab und zahlreiche Verletzte. Man liest von ca. hundert teils schwerst Verletzten. Ich habe im Internet ein Bild eines Mannes gesehen, dessen Beine unterhalb der Knie vollständig weggefetzt wurden. Das sah so grauenerregend und furchtbar aus, dass es mir das Herz abschnürte beim bloßen Anblick. Was für eine Schandtat eines Verrückten, was für ein Schicksalsschlag, für jene, die es so schlimm erwischt bei so einer Kacke. Was muss im Kopf eines Menschen vorgehen, der selbst Läufer ist und dann, von einer Sekunde auf die andere, erkennen muss, dass er nie mehr wird laufen können? Ich versuche mir die Schockstarre der Erkenntnis vorzustellen. Man sieht eben an sich herunter, alles ist noch da wie immer, es tut einen Schlag, man wird zu Boden gerissen, sieht wieder an sich herunter, und die Beine sind beide einfach weg. So weg, wie sie nur weg sein können, unwiederbringlich. Man sieht etwas, was man nie geglaubt hat zu sehen: Seine eigenen Knochen, sein Knochenmark, vielleicht Reste des eigenen, echten Kniegelenks und Sehnen und das blanke Fleisch. Dazu Blut, Geschrei (das eigene klingelnd in den Ohren?), das Geschrei der anderen, Tumult, Chaos, Schmerz, der kommt, so rasend, dass er einem die Besinnung raubt.

Ein achtjähriger Junge wurde getötet. Dessen Schwester, vielleicht fünf Jahr alt, hat ein Bein verloren. Die Mutter im Gesicht schwer verletzt. Die Familie wollte den Vater beim Zieleinlauf anfeuern.

In Boston war im Ziel plötzlich alles anders, als man das von solchen Veranstaltungen gewohnt ist.

Natürlich sind nun alle noch kommenden, großen Frühjahrs-Marathonläufe im Fokus der Medien. Man hat Angst. Man sorgt sich oder ist mindestens bedrückt. Freilich ist die Wahrscheinlichkeit bei einem Marathon durch einen Anschlag getötet oder schlimm verletzt zu werden, immer noch geringer, als durch einen simplen Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, rein statistisch gesehen, aber angesichts der Einzelschicksale, mit denen wir Menschen heutzutage innerhalb weniger Stunden konfrontiert werden, durch gestochen scharfe Bilder und Berichte fast in Echtzeit, macht uns das Geschehene so betroffen, dass es auch uns trifft, vom TV Goldbach. Eine halbe Erdenkugel weit entfernt.

Wir fahren morgen nach Hamburg. Um 05:00 Uhr früh ist für die Ersteinsteiger Treffpunkt an der Kirche in Waldaschaff. Es mag Zufall sein oder nicht, wir haben uns schon öfter an der Kirche getroffen zum Einstieg in den Bus, und ich bin tatsächlich kein bigotter Mensch, aber heuer werde ich, bevor ich einen Fuß in den Bus setze, einen Blick zur Kirche werfen und an die Opfer von Boston denken, an den Mann, der nun keine Beine mehr hat, an das Mädchen, das nur noch eines hat und an den Jungen, der nicht mehr lebt und seinen Vater nie wieder wird anfeuern können, wenn dieser bei einem Marathon ins Ziel läuft. Unsere Silke hat bereits am Dienstag eine Kerze angezündet. Danke Silke.

Wir hoffen natürlich alle, dass Hamburg ohne einen solchen Zwischenfall ablaufen wird. Denn es ist doch klar, dass wir alle nicht nach Hamburg fahren, um zu trauern. Und es ist auch klar, dass jeder von uns dieses Thema vielleicht gar nicht so an sich heranlassen wird an diesem Wochenende. Ich persönlich finde das auch nicht verwerflich und deswegen bekräftige ich auch, dass wir in Hamburg dieses Wochenende bestimmt ein sensationelles Wochenende haben werden. Die Sonne mag scheinen oder nicht, sie wird uns allen auf jeden Fall aus dem Hintern grinsen. Wir sind auch nur Menschen und wir haben nur dieses eine gemeinsame Wochenende für den einen gemeinsamen Marathon.

Aber es ist bei alldem sicher legitim, wenn jeder von uns auch einen klitzekleinen Gedanken, einen Faden nur, nach Boston schickt. Viele kleine Fäden machen ein dickes Tau.

Ich hoffe so sehr, dass ich mich nicht täusche, in meinem festen Glauben daran, dass das kommende Wochenende in Hamburg nicht das geschehen wird, was in Boston so viele in unsagbare Trauer gestürzt hat.

Hamburg? An was denkst Du dabei?

Elbphilharmonie oder Puff? Oder vielleicht an was ganz Anderes? Etwa an einen Marathon?

Moin!

Hamburg ist auch eine dieser Städte, in die der untermainische Mittelgebirgstiroler aus dem nördlichsten Nordwesten Bayerns nicht unbedingt und selbstverständlich hinkommt, einmal in seinem Leben. Nun fährt der TV Goldbach jedoch tatsächlich dorthin, um ein weiteres Mal gemeinsam einen der großen Marathonläufe auf diesem Planeten zu rocken, Entschuldigung, zu „torf“rocken, wir sind ja in Hamburg dann...

Ich selbst war noch nicht so richtig in Hamburg. Einmal das „Phantom der Oper“ besucht, mit Stewa-Reisen in einem Bistrobus vor gefühlten hundert Jahren. Das war ein Abenteuer! Etwa acht Stunden Anfahrt (das ging noch), guter Dinge und unterwegs wasserlöslichen Cappuccino trinkend an einem der Stewabusbistrotische. Tina und ich saßen damals alleine unten im Bistrobereich, während alle anderen Mitfahrer eine Etage höher, und im Schnitt dreißig Jahre älter, dösten. Die Erinnerung klebt irgendwo zwischen der Celler und der Lüneburger Heide.., ich weiß es nicht mehr so genau. Ja, und letztes Jahr sind wir zumindest durchgefahren, auf dem Weg zum Ostseeman nach Flensburg. Erinnerung daran? Die Zubringerautobahn proppenvoll. Voller als die A3 bei Würzburg/Kist zu Stoßzeiten.

Wir haben damals, bei der Phantom-der-Oper-Reise, auch und immerhin noch Zeit gehabt, das Millerntor anzufassen und einen Bummel durch die Speicherstadt zu machen. Besonders letzteres ist mir in beeindruckender Erinnerung geblieben. Denn die Speicherstadt ist eine ganz eigene Welt, gebaut aus Ziegelstein, alten Treppenhäusern, deren Wände Geschichten erzählen. Keine in altes Geländerholz geschnitzte, sondern solche, die man von bröckelnden Betonwänden klauben kann, eingeritzt und aufgemalt. So voller Leben zwischen den Fugen, dass man den inneren Drang bekommt, man müsste sogar seine Nase in jede Ritze stecken und riechen, wie das damals war, als hier noch der Überseehandel tobte. Da muss doch noch was kleben irgendwo, von der alten Luft von damals..! Und alte Eisengeländer, industriegrau gestrichen mit Rostflecken, deren griffige Enden zu Fluren führen, in denen wiederum abgewetzte Türen zu Räumen weisen, in denen es nur so wimmelt von Seemannsgarn, Handelswut, Kaffeeduft und alten Holzböden. Reanimiert zu neuer und frischer Modernität erlebt man in der Speicherstadt heute ein zusammengeflicktes Sammelsurium in frankensteinischer Vielfalt, das einen fortwährend spannend, toll und total interessant umgibt und für sich einnimmt. Teppichhändler, Künstler, Cafès, die weltgrößte Modelleisenbahn und viel Geschichte. Wer es heimelig und historisch zugleich mag, sollte da mal hingehen. Wer selbst irgendwie künstlerisch veranlagt ist, kann sich da sogar einmieten. Normalbürger ohne kreative Veranlagung kommen da jedoch nicht rein. Man muss nachweisen, dass man kreativ tätig ist, sonst bekommt man keinen der Räume in Hamburgs Speicherstadt als Mietobjekt.

Ich kann mich außerdem an zwei Männer erinnern, die mit uns im gleichen Hotel waren. Wir hatten zweimal mit ihnen gefrühstückt und kamen mit ihnen ins Gespräch. Die beiden hatten einen Traumjob in Hamburg. Sie waren aus dem hessischen Friedberg und waren als Angestellte der Fa. Yamaha jeden Tag in einer Werkstatt in der Speicherstadt zugange. Ihre Aufgabe war es, die in Japan gefertigten Einzelteile von Motorrädern, die per Schiff nach Hamburg ausgeliefert wurden, zusammenzubauen, anschließend Probe zu fahren und dann für den Deutschlandvertrieb freizugeben. Jede einzelne Maschine. Es gibt sicher schlechtere Alternativen, sein Geld zu verdienen.

Dann wird es schon mau. Wenn ich weiter nachdenken soll, was Hamburg ausmacht, kommt nicht mehr viel.

Ich mache ein kleines Spiel: Ich gucke jetzt auf die Uhr neben mir, es ist 12:50 Uhr. Ich gebe mir jetzt genau eine Minute und schreibe derweilen alles auf, was mir zum Thema Hamburg noch einfällt. Achtung, die Zeit läuft:

 HSV

 Die Ritze

 Fische

 Hans Albers

 Starclub und Beatles

 St. Pauli – die Fußballer

 St. Pauli – das Rotlichtviertel

 Der komische Innensenator, der dann in Ungnade gefallen war, Richter Gnadenlos haben sie ihn genannt, wie hieß der noch? Der wurde dann auch mit Koks erwischt, irgendwo in Südamerika.

 Helmut Schmidt! Das ist ein Hamburger!

 Die Flut in den Sechziger Jahren!

Mist, die Zeit ist um.

Es sickert aber noch etwas nach: Segelschiffe, mondäne Hotels und Kaffeehandel (hatte ich ja schon in der Speicherstadt), reiche Menschen, die in Blankenese nobel an der Elbe wohnen, der Hamburger Michel, das Alte Land in der Vorstadt und die Hansestadt. Hamburg ist Bundesland!

Und, was auch noch nachtröpfelt, ist eine Anekdote, die unser Andreas schon oft erzählt hat, über die ich aber immer wieder lachen muss. 2002 war Andreas schon einmal in Hamburg, um dort einen Marathon zu laufen. Seinerzeit noch nicht mit dem TV Goldbach, sondern mit dem TV Großostheim.

Als 2002 freitags die Marathonmesse besucht wurde, um die Startunterlagen abzuholen, hatten alle Teilnehmer den gleichen, farbigen Bag bekommen. Das heißt, die Sportler waren im Anschluss überall in der Hansestadt sofort als solche zu erkennen. Andreas Gruppe ist seinerzeit zu Fuß zurückgelaufen zum Hotel und hat dabei die berühmte Davidstraße, von der auch die noch berühmtere Herbertstraße abzweigt, in St.Pauli durchquert. Ein besonders geschäftstüchtiger Türsteher wollte die als sportlich ambitioniert erkennbaren Hamburgbesucher dazu animieren, doch in seinen Club zu kommen, da gäbe es „Ficki Ficki!“, dort könnten „sie mal zeigen, was sie wirklich drauf hätten“.

Die perplexen Sportler hatten kaum Zeit, sich zu wundern, da kam von einem anderen Zuhälter, der die Lockrufe seines Kollegen mitbekommen hatte, schon der Ruf herüber: „Hey, das sind Marathonläufer, die tun nur wichsen, das kannste vergessen!“ Andreas lacht heute noch über diese Geschichte. Wenn ich ehrlich bin, ich weiß nicht, ob ich das auch könnte, darüber lachen. Denn das würde mich per se schon ärgern, wenn jemand der Meinung wäre, ich „würde nur wichsen“, nur weil ich Marathon laufe. Da könnte derjenige ja gleich sagen, ich sei ein Wichser.

Andreas denkt, wenn er Hamburg hört, an die Reeperbahn (nachts um halbeins?), St. Pauli und Astrabier! Das Bier mit „dem Herzanker auf jeder Knolle“ hat es nicht nur dem Goldbacher Urgestein angetan. Auch ich mag es. Seit 2006 gibt es neben dem Astra Urtyp sogar ein Astra Rotlicht, das mit stolzen 6% (sex oder sechs??!) aufwartet!

Andreas denkt darüber hinaus an die vielen Musicals, die in Hamburg aufgeführt werden, die Farbe Grün, wegen der Natur im Norden, und natürlich an die Alster. Dort will er sich heuer wieder hinsetzen und einfach nur vom Stammkiosk aus den Schiffen zugucken. Das kann auch ich mir gut vorstellen. Vielleicht noch bereichert um eine Currywurst. Ja, es wäre in der Tat eine mehr als feine Sache, mit Andreas an der Alster zu sitzen und eine Currywurst zu essen. Es wäre mir eine Ehre, nein, ein Fest, oder nochmal nein, es wäre mir mindestens beides auf einmal! Ich stelle mir vor, wie Schiffe vorbeifahren. Große und Kleine, welche mit Segel und welche ohne, vielleicht auch dazwischen einige kleine Jollen, die sich dann bei leichter Brise sogar mit gewagter Krängung zu uns lehnen, in der Hoffnung etwas abzubekommen von unserer Currywurst… Riecht ihr die See? Ich habe sie schon in der Nase..

Es gibt Stimmen, die behaupten, die Currywurst sei in Berlin erfunden worden. Seit ich Uwe Timms „Die Erfindung der Currywurst“ gelesen habe, will ich das nicht mehr glauben. Ich finde, die Currywurst gehört definitiv nach Hamburg. Auf der Internetplattform Wikipedia ist der Grund dafür sehr gut erklärt, ich erlaube mir zu zitieren:

Die Erfindung der Currywurst wird Herta Heuwer zugeschrieben, die nach eigenen Angaben erstmals am 4. September 1949 an ihrem Imbissstand an der Ecke Kant-/Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg gebratene Brühwurst mit einer Sauce aus Tomatenmark, Currypulver, Worcestershiresauce und weiteren Zutaten anbot. Im Januar 1959 ließ sie den Namen ihrer Sauce, Chillup, angeblich als Marke schützen. Herta Heuwers Imbiss zog in ein Ladenlokal mit Garküche in der Kaiser-Friedrich-Straße 59 (in der Nähe des damaligen Busbahnhofs im Rotlichtviertel des Stuttgarter Platzes) um und entwickelte sich dort zu einer festen Institution: Er war Tag und Nacht geöffnet und beschäftigte in seinen besten Zeiten bis zu 19 Verkäuferinnen. Die Firma Kraft bemühte sich um das Rezept und das Markenrecht, was Heuwer allerdings ablehnte. Seit 2003 befindet sich am ehemaligen Standort (heute: Kantstraße 101) eine Gedenktafel ihr zu Ehren.

Ausgehend von Uwe Timms Novelle Die Entdeckung der Currywurst von 1993, in der er die Erfindung seiner (erdachten) Lena Brücker zuschreibt, die in der Geschichte einen Imbiss am Großneumarkt in Hamburg betrieben und die erste Currywurst bereits 1947 serviert haben soll, wird die Berliner Herkunft der Currywurst immer wieder bestritten. Lena Brücker zu Ehren wurde ebenfalls im Jahr 2003 eine Gedenktafel am Hamburger Großneumarkt angebracht. Timm selbst beschreibt Lena Brücker als fiktive Person, die stellvertretend steht für „eine dieser wunderbaren Frauen, von denen es viele gab. Die haben den Großteil des Wiederaufbaus gestemmt, die waren sehr präsent damals.“ Die Figur der Novelle ist angelehnt an eine Frau, die auf dem Großneumarkt einen Imbissstand betrieb und bei der er seiner Erinnerung nach als Kind bereits 1947 zum ersten Mal eine Currywurst aß.

Ich will unbedingt an den Hamburger Großneumarkt kommendes Wochenende und die Gedenktafel für Lena Brückner sehen! Diejenigen unter uns, die einen ganzen Marathon laufen werden, kommen da bestimmt sowieso vorbei, da ich nur Staffelteilnehmer bin, muss ich vorher sehen, wie ich dahin komme.

Und dann noch Udo Lindenberg. Wenigstens den. Blankenes spar ich mir, wir haben schließlich nur ein Wochenende und einen Marathon. Aber Udo Lindenberg. Läuft der auch? Läuft er vielleicht mit? Er wohnt auf alle Fälle nicht mehr im Hotel Atlantic! Lindenberg wohnt jetzt gegenüber, im Hotel Royal Meridien. Angeblich deshalb, weil das Atlantic renoviert wurde, auch die Zimmer, die Lindenberg siebzehn Jahre lang gebucht hatte. In den ehemals hohen, herrschaftlichen, vermutlich auch mit Stuck und allerlei Tand veredelten Zimmern wurden die Decken abgehängt und so alles wärmedämmtechnisch zu sehr auf Normalbürgerniveau gebracht. Da fühlt sich unser Altrocker nicht mehr wohl, heißt es.

Also, man darf gespannt sein. Einmal mehr, Hamburg wird eine riesengroße Hausnummer, Freunde. Diese Stadt ist kein Kindergeburtstag, sie ist eine Metropole. Lasst uns gegenseitig unsere Handynummern, unsere Namen und unsere Wohnadressen mit Kuli auf die Arme schreiben, nur für den Fall, dass wir uns verlieren irgendwo und nur für den Fall, dass uns das – unter Verlust unserer Muttersprache – schon vorher passiert. Ich denke, in Hamburg kann das durchaus passieren. In dieser Stadt könnte unser Marathon tatsächlich zur Nebensache werden, nehmt euch in Acht!

Ich freue mich saumäßig auf morgen früh! Moin!

Das Geckische Gnippschen

Vorblende

Montag, 22. April 2013, ca. 09:00 Uhr

Ein Hahnenschrei weckt mich, ich schlage die Augen auf und liege in unserem Schlafzimmer, nicht im Zimmer Nr. 325 des Ibis in Hamburg, sondern zuhause in Waldaschaff. Ist das Marathonwochenende 2013 des TV Goldbach tatsächlich schon wieder um?

Ist das, was in meiner Erinnerung klebt, an diesem Montagmorgen, wirklich alles geschehen, oder habe ich nur geträumt?

Nein.

Es ist zweifellos Montag.

Also muss alles tatsächlich passiert sein.

Was für ein Wochenende. Was für eine Stadt.

Der Hahn, der neuerdings in der Nachbarschaft lebt, kräht schon wieder, was ich zum Anlass nehme, noch einmal die Augen zu schließen.

Ich habe heute frei und angesichts der Tatsache, dass wir erst mitten in der Nacht heimgekommen sind, bin ich einmal mehr froh darüber, dass ich mir erneut den Montag dazu genommen habe. Lästig ist im Augenblick maximal, dass ich, um nachher schön frühstücken zu können, aufstehen muss, um die Kaffeemaschine anzumachen. Aber das hat noch ein wenig Zeit, genügend Zeit, um noch einmal über das sogenannte „Geckische Gnippschen“ nachzudenken, dessen Eigenarten uns gestern im Bus nach Hause Sportfreund Sascha genial erläutert hat. Nebst einer Ausführung über den „kalten Bauch“ und dessen Vorteile, wenn man ihn denn habe. Sascha hat einen sehr ausgeprägten und großen „kalten Bauch“, mit vielen „Hautsträngen“, entsprechender „Fettschicht“ und „gar nicht so übler Oberflächenspannung“, die letztlich „eher vorteilhaft ist“, wie ihm sein Arzt erklärt hat.

Nicht zu fassen, da kommt man irgendwann nach acht Stunden Fahrt in Aschaffenburg wieder an und es geschieht tatsächlich, dass keiner aussteigen will, weil da einer am, wie er es selbst nennt, besten Platz im Bus steht (direkt neben dem Klo mit Griffweite zu den darüber abgestellten Getränken, „einer Stehtecke, von der noch nicht einmal der Busfahrer weiß, dass er sie hat in seinem Bus!“) und Monologe hält, die einem Tränen in die Augen treiben, wie sonst nur nach zwei Kilo Zwiebeln schneiden.

Saschas Ausführungen zum „Geckischen Gnippschen“ wurden dabei zu einem Referat der besonderen Art, nach gestern Abend bin ich gar der Meinung, dass das „Geckische Gnippschen“ ein durchaus respektables Thema für eine Doktorarbeit wäre. Denn dieses Thema ist garantiert abschreibungssicher. Das „Geckische Gnippchen“ und alle Vorgänge, die damit zusammenhängen, sind garstig kompliziert zu erläutern. Ein wirklich gutes Thema also zum promovieren, so einen Doktortitel hat man dann auch ein Leben lang, den nimmt einem niemand mehr ab.

Es handelt sich bei dem „Geckischen Gnippschen“ laut Sascha um diesen berühmten Punkt am Ellbogen, an dem ein bestimmter Nerv sich so konzentriert, dass es einem bei entsprechend hartem Druck darauf augenblicklich, einem Stromstoß gleich, einen sirenenähnlicher Schmerz durch den Arm jagt. Manche Zeitgenossen sprechen bei dem Phänomen auch vom sogenannten Musikerknochen, recherchiere ich später, und dass dieser kurze, aber starke Schmerz tatsächlich durch die Reizung des Ellennervs ausgelöst wird, der in der Fachsprache Nervus ulnaris heißt. Der Nerv mit dem komischen Namen ist wichtig für die Bewegung und das Gefühl von Unterarm und Hand. Bei einer Überreizung (zum Beispiel durch einen Stoß an der Autotür) werden der Tastsinn und das Schmerzempfinden des Menschen gleichzeitig irritiert.

Richtig interessant werden diese Vorgänge aber erst durch Saschas erweiterte Gnippschen-Theorie! Denn dieser hat uns nun gestern im Bus erklärt, dass ihm das Anstoßen an diesen Nerv in bestimmten Autotypen besonders häufig passiert. Und das wiederum nervt den Saarländer gewaltig. Im Originalton, auf der Rückfahrt von unserer sagenhaften Marathonreise 2013, im Bus nach Waldaschaff, nach ich weiß nicht wie vielen Hopfen-Malz-Kaltschalen, klang das dann so:

Was en Scheiß, fährst de hundertfuffzich Kilometer und kriegst die ganz Zeit so en Nerveschock, nur weil der Ellenbogen falsch liegt. Da biste geckisch, wenn de hier da druffdrückst. Des is es „Geckische Gnippsche“. Des kennt doch jeder, wenn er sich einmal ganz blöd gestosse hat. Des sind Sache, die kann mer nich erklären. Die muss man erlebt haben. Wer das nicht erlebt hat, der hat noch gar nit gelebt! Hahaha. Wenn de im 5er BMW liegst, da gehste ab, zack, gegen des „Geckische Gnippsche“ gestosse. Hahaha. Beim Golf Combi gibt’s des nit. Hahaha. Man muss nit alles mache, wo man irgendwie irgendwann einmal meint, dass es toll wäre, BMW fahre oder so. Es gibt Körperteile, die wo man schützen muss! Und des „Geckische Gnippsche“ gehört garantiert zu den Körperteilen, was man schützen muss! Ein verdammt unangenehmes Gefühl ist das, wenn man da draufkommt! Das ist ungefähr so, wie wenn dir taub wird beim Fahrradfahren. Das is auch nix. Aber ich hab ja schon gesehen, es gibt welche beim TV Goldbach, die fahren quasi Anti-Taubheitssattel. Da kann Dir gar nix passieren angeblich. Die sind anatomisch so geformt, dass Dir gar nix taub werden kann, auch als Kerl… (Hier hat Sascha eine kurze Kunstpause gemacht.) Sagt man!… (Hier hat Sascha eine zweite Kunstpause gemacht, länger als die erste, die wir zum Lachen genutzt haben.) Ich habe den, der den Sattel hat, noch nicht gefragt, aber ich hab mich gefragt, ob das so stimmt, wie es in der Werbung steht. Aber ich denk, ein bisschen Taubheit schadet auch nix… Hahaha! Ach ja, der Wein ist super!“ (Sascha hat hier eine dritte und endgültige Pause gemacht, der Bus hat getobt.)

Sascha hatte dann (als sich alle wieder beruhigt hatten) noch darüber geplaudert, wie es ist, mit ihm Schuhe zu kaufen und wie es war, als ihm in Südfrankreichurlaub der vom Schwiegervater geliehene VW-Bus unter dem Hintern weggeklaut wurde.

Weswegen waren wir in Hamburg? Um einen Marathon zu laufen? Wir haben es zwischendurch tatsächlich manchmal vergessen.

Sascha ist eine Kanone der besonderen Art. Es war bis zuletzt nicht sicher, ob er in Hamburg überhaupt laufen würde. Da es kurz vor knapp einige Umstellungen bei unseren drei gemeldeten Staffeln gab, wurde kurzfristig noch ein Staffelstartplatz für Sascha frei. So waren wir gestern sogar zusammen im Startblock, um einem bis dahin filmreifen Hamburger Wochenenderlebnis die Krone aufzusetzen.

Für Hamburg als Gesamtpaket gehen mir die Superlative aus. Ich weiß nicht recht, wie ich das am vergangenen Wochenende in Hamburg Erlebte würdig beschreiben soll. Vielleicht sollte ich deshalb tatsächlich mit dem Start beginnen.

Ich liege also immer noch an diesem schönen Montagmorgen in meinem Bett in Waldaschaff und halte immer noch die Augen geschlossen, während ich mich zurückbeame, und plötzlich ist es wieder 08:50 Uhr Ortszeit Hamburg, am Sonntag, den 21. April 2013. Ich höre keinen Waldaschaffer Hahn mehr schreien, stattdessen ohrenbetäubend laute Rockmusik aus mehreren Meter hohen Boxentürmen, surrende Kameraburgen, pausenlos redende Reporter und Tribünenteilgeklapper. Sascha und ich betreten den Startblock D neben der Messe in Hamburg. Um uns, unter uns, über uns, neben uns , einem riesengroßen Schwarm Heringe gleich, laufen sich Dutzende Läufer gegen den Uhrzeigersinn warm. Wir tauchen ein in den schwindelnden Trudel und werden eins mit der Umgebung. Auch wir bewegen uns mit und freuen uns über den unmittelbar bevorstehenden Start. Über zwanzigtausend Läuferinnen und Läufer fiebern mit uns dem Start entgegen. Die Sonne scheint, was für ein herrlicher Tag! Hundertausende Menschen warten auf uns an der Piste, die wir gleich erobern werden.

Für eine Minute nur friert sich das Bild dieser Heerschar von Sonntagssportlern fest, alle stehen still, als den Opfern von Boston gedacht wird.

Run for Boston.

Dann geht es los.

Sascha läuft gut an, Andreas und Petra wollen zusammen bleiben und unter die 3:30 laufen, ich halte mich rechts, weil ich einige Flyer austeilen will, tosendes Gejubel umfängt mich und hört nicht auf. Der Hamburg-Marathon ist wie eine volle Waschmaschine im Schleudergang losgetobt. Überall geht es rund. Dieser Waschgang wird ab jetzt gut vier Stunden dauern. Bei manchen noch länger. Fast siebenhunderttausend Menschen feuern uns an. Das sind gut zehnmal mehr, als in ein großes Fußballstadion passen.

Darmowy fragment się skończył.

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