Czytaj książkę: «Werte wahren - Gesellschaft gestalten»

Czcionka:

Franz-Peter Tebartz-van Elst

Werte wahren – Gesellschaft gestalten

Plädoyer für eine Politik

mit christlichem Profil

Butzon & Bercker


„Orientierung durch Diskurs“ Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Tobias Licht, Susanne Sandherr, Johannes Bernhard Uphus und Marc Witzenbacher.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1390-5

E-BOOK ISBN 978-3-7666-4141-0

EPUB ISBN 978-3-7666-4142-7

© 2012 Butzon & Bercker GmbH,47623 Kevelaer, Deutschland,

www.bube.de

www.religioeses-sachbuch.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfotos und Fotos im Innenteil: Werner Baumann

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Druck: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer

Inhalt

Hinführung: Mit Worten Werte prgäen

Erstes Kapitel: Konturen Fundament und Fügung

I. Werte wahren

1. Menschenbild und Gottesbild

2. ,imago' und ,similitudo'

3. Lebensrecht und Lebensschutz

II. Wahrheit wollen

1. Christentum und Kultur

2. Verbindung und Verbindlichkeit

3. Gewinn und Gerechtigkeit

4. Schöpfung und Verantwortung

III. Worte wählen

1. Erinnerung als Mahnung

2. Ursprünglichkeit als Auftrag

3. Dialog als Weg

Zweites Kapitel: Kriterien Haltungen geben Halt

Bild: Wurzel Jesse

I. Werte brauchen Wurzeln

1. Gegenwart aus Geschichte

2. Worte mit Wirkung

3. Stufen der Statik

II. Gewissensbildung durch Glaubensvertiefung

1. Sehen und sichten

2. Hören und handeln

3. Wahren und wagen

III. Bereitschaft zur Barmherzigkeit

1. Bekehrung zur Kindschaft

2. Befähigung zur Leidenschaft

3. Bewegung zur Anwaltschaft

Drittes Kapitel: Kontexte Geschöpflichkeit bedingt Persönlichkeit

I. Ehe und Familie

1. Familie in der Gegenwart

2. Familie als Konstante der Humanität

3. Familie als Keimzelle der Gesellschaft

4. Familienpolitische und gesellschaftliche Konsequenzen

II. Kindertagesstätten als Glaubensorte

1. Intentionen pastoraler Ankünpfung

2. Profil kirchlicher Trägerschaft

3. Konditionen kindlicher Entwicklung

III. Schule und konfessioneller Religionsunterricht

1. Öffentliche Schule und konfessioneller Religionsunterricht

2. Fachlehrer und Glaubenszeuge

3. Spiritualität und Pädagogik

Viertes Kapitel: Kooperationen Glaubensprofil und Gemeinwohlorientierung

I. Religion und Öffentlichkeit

1. Reform und Kritik

2. Partizipation und Kooperation

3. Komparation und Position

II. Staat und Kirche

1. Bewusstsein für Werte

2. Befähigung zum Dialog

3.Bewegung zur Achtsamkeit

III.Nachhaltigkeit und Stiftungen

1.Empathie und Sympathie

2.Kreativität und Spiritualität

3.Solidarität und Subsidiarität

Fünftes Kapitel: Konkretionen Wertebildung aus Glaubensverantwortung

I.Christliche Bildungsarbeit als ethische Profilschärfung

1. Konsensualität

2. Katholizität

3. Komplementarität

II. Christliche Anwaltschaft für den Lebensschutz

1.Biomedizin und Menschenbild

2.Potenzial und Manipulation

3.Ethik und Humanisierung

III.Krankenpflege als Leib- und Seelsorge

1.Bandbreite des Lebens

2.Widerspruch im Glauben

3.Sensibilität aus Mitgefühl

4.Annahme des Todes

5.Bekenntnis zum Leben

Sechstes Kapitel: Korrekturen Gerechtigkeit als Gabe des Glaubens

I.Wirtschaftskrise als Wertekrise

1.Phänomene und Indikatoren

2.Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft

3.Orientierung und Regulierung

II. Veränderungsbereitschaft und Zukunftsfähigkeit

1.Mensch und Zeit

2.Gesellschaft und Geschwisterlichkeit

3.Ziel und Zukunft

III.Medien und Moral

1.Gesellschaft prägt Medien

2.Medien brauchen Moral

3.Moral formt Profil

Siebtes Kapitel: Konspirationen Kirche und Gesellschaft im Zeichen des Kreuzes

Bild: Walsdorfer Kreuz

I. Christliches Bekenntnis in säkularer Umwelt

1. Verlust der Mitte

2. Bewährung in Bedärngnis

3. Gefährtenschaft aus Leidenschaft

II. Christliches Ethos als Vernunft der Liebe

1. Säkularisierung als Verlust der Religion

2. ,fides et ratio' als Prinzip der Humanisierung

3. Glaube als Licht der Vernunft

III. Christliche Wurzeln als Wachstum Europas

1. Ökonomie des Marktes

2. Krise des Kontinents

3. Ökologie des Menschen

Ausblick: Mit Werten Wege kreuzen – ein Bild als Botschaft

Anmerkungen

Hinführung: Mit Worten Werte prägen

Unter den bewegenden Ansprachen,die Papst Benedikt XVI. während seines Besuches in Deutschland vom 22. bis 25. September 2011 gehalten hat,ist seine Rede vor dem Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude zu einem besonderen und bleibenden Referenztext geworden, wenn es darum geht, Werte zu wahren und Gesellschaft zu gestalten. Dass die Erde und der Mensch von Gott her eine Würde in sich tragen, die es zu wahren gilt, hat Papst Benedikt XVI. eindrucksvoll vermittelt, indem er das Verhältnis von Natur und Vernunft aus christlicher Sicht als Quelle einer Erkenntnisorientierung zu erschließen vermochte. Er hat dabei die gängige, fast absolutistische Sichtweise eines positivistischen Konzeptes von Natur und Vernunft infrage gestellt, das nur gelten lässt, was sich der Mensch mittels seines Verstandes erschlossen hat und als allein gültig betrachtet. Ohne die damit verbundenen Leistungen des Menschen in seiner Bedeutung zu schmälern oder zu verachten, weist Papst Benedikt aber darauf hin, dass nachhaltige Wertebildung und -bindung in Staat und Gesellschaft einen darüber hinausgehenden Erkenntnishorizont brauchen: „Das positivistische Verhältnis von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschen in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur.Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen;ja,sie bedroht seine Menschlichkeit. (…)“1

Diese Wahrnehmung bewegt Christen, die sich mit allen Menschen, Gruppen und Vereinigungen in unserem Land um eine gemeinsame Zukunft in Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität sorgen. Wie sehr die Politik in ihrer Verantwortung auf Wertebildung und -wahrung angewiesen ist, wird umso bedrängender bewusst, wo sich verbindende und tragende Überzeugungen nicht mehr so selbstverständlich generieren, wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes dies aus bitteren Lernerfahrungen der Geschichte und mit Weitsicht verfassungsrechtlich verankert wissen wollten.

Unsere Gesellschaft ist im Umbruch. In diesen vielfältigen Veränderungen, die alle Institutionen erfassen,stellt sich die bange Frage: Sind auch die Werte, die bislang Orientierung und Zusammenhalt gewahrt haben,im Abbruch?

Bereits kurz vor seiner Wahl zum Nachfolger des Apostels Petrus hat Papst Benedikt XVI. In seiner Predigt vor dem Kardinalskollegium eine zutreffende Zeitdiagnose gegeben, wenn er von einer vorherrschenden „Diktatur des Relativismus“ spricht: „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ,vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen', als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ 2

Es gibt Grund zur Sorge, dass die Werte relativiert oder marginalisiert werden, die das Menschenbild prägen, auf dem unsere Verfassung und Rechtsprechung, unsere Ethik (Medizin) und Kultur aufbauen. Schon vor zwanzig Jahren hat der damalige bayerische Kultusminister Hans Maier selbstkritisch reflektiert, wieweit das Christentum insofern Opfer seines eigenen Erfolgs geworden ist, als genuin christliche Werte so sehr in das Allgemeinbewusstsein übergegangen sind, dass sie nicht mehr als spezifisch christliche Errungenschaften identifiziert werden.

Heute ist aber auch diese scheinbare Selbstverständlichkeit christlicher Imprägnierung immer weniger gegeben. Fortschreitende Säkularisierung und Individualisierung des Lebens bewirken eine Relativierung und Marginalisierung der Glaubenssubstanz, die Werte hervorbringt und so Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Zusammenleben schafft, die Staat und Politik nicht aus sich selbst schaffen können. Relativierung christlicher Werte hat dementsprechend eine Schwächung ethischer Verbindlichkeit und sozialer Verbundenheit zur Folge.

In seinem Diskussionsbeitrag „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ 3 nennt der Philosoph Jürgen Habermas vier Desiderate der Gegenwart: den Verlust der eschatologischen Dimension; den Verlust von Solidarität und Motivation zum gemeinwohlorientierten Handeln; den Verlust an Überzeugungsgemeinschaften, die Politik und Staat aus bindenden Werten mittragen, sowie den Verlust an religiös begründeten Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit. Diktatur der Diesseitigkeit bewirken einen Smog der Säkularisierung des Lebens, in dem die Wurzeln und Wirkung christlicher Werte nicht mehr gesehen werden. Es ist die Aufgabe der Kirche, in der Öffentlichkeit der Gesellschaft ein Bewusstsein von dem zu wecken, was fehlt, wenn der christliche Glaube nicht mehr gehört und gesehen wird.

Die folgenden Beiträge sind in Zusammenhängen entstanden, die nach der Stimme der Kirche rufen. Sie verstehen sich als Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil, die die Werte wieder ins Wort bringt, die in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich sind. Solche Werte zu wahren, führt die Kirche manchmal auf einen einsamen, deswegen aber noch lange nicht verlorenen Posten. Aus Politik und Gesellschaft kommen zugleich Signale und manchmal auch Hilfeschreie, die Religion und Kirche neu auf die Verantwortung des Rufers in der Wüste (vgl. Mt 3,1–12) verweisen. Es ist an der Zeit,von dem zu sprechen, was von Gott her um der Menschen willen nicht verloren gehen darf, wenn sich gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell so vieles rasant verändert. Eine Lebensmentalität, die einem konstanten Drängen zur Diesseitigkeit und einem Druck zum Pragmatismus unterliegt, bringt schleichend und offen eine Dominanz des säkularen Denkens mit sich, für das am Ende gilt: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“ (Fjodor Dostojewski).

Gegen solche Gegebenheiten einer säkularen Kurzsichtigkeit, die zu einer ethischen Blindheit führen können, bekommt der „Ruf nach Religion“ auch eine politische Dimension. Der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch stellt diese Bedeutung heraus, wenn es um die Garantiedes Gemeinsinns in unserer Gesellschaft geht: „Der Mensch hat eine natürliche Neigung, sich selbst für den Mittelpunkt der Welt zu halten. Ohne einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst wird er intolerant gegenüber allem, was sich ihm entgegenstellt, und verfällt in Verzweiflung, sobald er in existenzielle Not gerät. Die Neigung des Menschen zur Transzendenz ist vor diesem Hintergrund etwas Befreiendes (…) Denn tief im Herzen haben die Menschen die Sehnsucht, sich selbst nicht für den Maßstab aller Dinge halten zu müssen, sondern Antwort zu erhalten auf tiefere Fragen nach dem Sinn des Lebens.“4

Dieses Bedürfnis will das vorliegende Buch in sieben Themenfeldern aufgreifen. Orientierung aus dem christlichkirchlichen Glauben hilft, ein Gewissen zu formen, das um die Größe Gottes und um die Grenzen des Menschen weiß, wo ihm scheinbar alles möglich ist. Politik mit christlichem Profil verweist auf die unverzichtbaren Räume der Entfaltung, in denen die Tragfähigkeit des christlich-kirchlichen Glaubens so erfahren und vermittelt werden kann, dass die Lebensform von Ehe und Familie in ihrer wesenhaften Verbindlichkeit und ihrer gesellschaftlich verbindenden Bedeutung erlebt wird. Politik mit christlichem Profil setzt auf Bildung, die mehr ist als Pisa. Christen geht es um Bedingungen und Möglichkeiten, unter denen Menschen ihre ganze Persönlichkeit im Sinne einer umfassenden Charismenförderung entwickeln können. Den ganzen Menschen zu sehen bedeutet, ihn gerade an den Grenzen des Lebens, in Gesundheit und Krankheit als Geschöpf Gottes zu begreifen, dem ein unbedingtes Lebens-und Fürsorgerecht zukommt. Politik mit christlichem Profil versteht sich als unermüdliche Anwaltschaft für einen Lebensschutz, der den Menschen nicht von seiner Produktivität für die Gesellschaft her bewertet, sondern das Apriori Gottes als Maß aller Dinge begreift. Wo Gott vorkommt, gewinnt die Gerechtigkeit auch in der Welt der Wirtschaft und der Arbeit Gestalt.

Die Beiträge dieses Buches verdanken sich allesamt konkreten Situationen, in denen das Wort der Kirche erbeten war.Sie gehen auf Redemanuskripte zurück, die darauf angelegt waren, pointiert zur Sprache zu bringen, was Christen vom Evangelium her zu sagen haben. Der bisweilen appellative Charakter ist dem Interesse geschuldet, christlich-kirchliches Profil benennbar und damit zitierbar zu machen.

Mit der Vorlage dieses Buches verbinde ich meinen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bistum Limburg, die an unterschiedlichen Orten in Gemeinde, Bildung und Caritas den Glauben der Kirche auch mit ihrem persönlichen Zeugnis als einen Dienst an der Welt vertreten. Den Vertreterinnen und Vertretern des politischen und öffentlichen Lebens, die in säkularer Gesellschaft den Mut zu diesem Bekenntnis aufbringen, gilt mein tiefer Respekt. Meinem persönlichen und theologischen Referenten, Roland Berenbrinker, danke ich für die Mühe der redaktionellen Überarbeitung.

Das Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil ist die Position der Heiligen Schrift. Der erste Petrusbrief zeigt den Weg auf, wie Christen Werte wahren und Gesellschaft gestalten können: „Denn es ist der Wille Gottes, dass ihr durch eure guten Taten die Unwissenheit unverständiger Menschen zum Schweigen bringt. Handelt als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für das Böse nehmen, sondern als Knechte Gottes. Erweist allen Menschen Ehre, liebt die Brüder, fürchtet Gott und ehrt den Kaiser“ (1 Petr 2,15–17).

Diese Worte in unsere Zeit gesprochen mahnen zu begründeten Positionen im Respekt vor Personen und Verantwortungen. Es geht um die Haltung eines demütigen Selbstbewusstseins, die den Mut zum Widerspruch und die Leidenschaft zur Argumentation nicht scheut. In diesem Sinn will uns die Bibel bewegen, offensiver zu werden. Es geht um eine Perspektive,die im Denken und Handeln die gefährliche Enge einer Immanenz durchbricht, die Transzendenz in ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl unserer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren scheint. In diesem Sinn verstehen sich die folgenden Beiträge als ein Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil und im Dienst einer Priorität, die Papst Benedikt XVI. In seiner Ansprache vor dem Bundestag in einem plausiblen Bild als Gebot der Stunde formuliert hat: „Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster,in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbst gemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“5

Limburg an der Lahn, zum 20. Januar 2012

+ Dr. Franz-Peter Tebartz-van Elst

Bischof von Limburg

Erstes Kapitel Konturen Fundament und Fügung

I. Werte wahren

In seinem viel beachteten Roman „Das amerikanische Hospital“ schildert Michael Kleeberg die Begegnung zweier Menschen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein können. Die dreißigjährige Pariserin Hélène wartet in einem amerikanischen Militärkrankenhaus in Paris auf einen Untersuchungstermin, um, zusammen mit ihrem Mann, mittels künstlicher Befruchtung doch noch zur Erfüllung ihres sehnlichen Kinderwunsches zu kommen. Vor der Rezeption des Hospitals begegnet sie dem Literaturwissenschaftler David Cote, der vor ihren Augen zusammenbricht.

Als Veteran kehrte er aus dem Golfkrieg des Jahres 1991 zurück, nun, Jahre später, bricht sich bei ihm eine Art posttraumatische Belastungsstörung bahn. Immer wieder begegnen sich beide. Ein Mann, der Leben nahm, und eine Frau, die es nicht schafft, Leben zu schenken. Sie werden, obwohl ihre Situationen so gegensätzlich sind, einander zur Stütze. Er ist lange davongelaufen; vor der Auseinandersetzung mit seiner Kriegsvergangenheit, aus Angst vor der Konfrontation mit persönlicher Schuld. Wie sollte er damit umgehen, dass er auch am Tod von Kindern schuldig wurde, denen zu helfen er doch eigentlich aufgebrochen war.

Sie muss erleben, wie die immer wieder vorgenommenen Befruchtungen immer aufs Neue fehlschlagen; erlebt ihren Körper als etwas zunehmend Fremdes, ihrem tiefen Wunsch Widerstrebendes. Er gibt ihr Trost und Hoffnung, wenn sie immer mehr von dem durch verschiedenste Behandlungen vorgegebenen ,Takt' bestimmt wird: „Down-Regulierung, Stimulation, Auslösung, Follikelpunktion, Transfer, Wartezeit, Enttäuschung, Erholung und Neubeginn.“1 Mit zunehmender äußerlicher Routine, ja, mit der „Selbstverständlichkeit einer Pendlerin“, passiert Hélène die Grenze zwischen ihrem Leben, das von dem so starken Kinderwunsch geprägt ist, und den beschriebenen, beinahe mechanischen Abläufen in der Klinik.

Ergreifend und empfindlich präzise beschreibt Michael Kleeberg die Situation des modernen Menschen und konfrontiert mit der kalten medizinisch-technisierten reinen Möglichkeit. Es bleibt der fahle Geschmack eines über alles andere erhobenen ,Denkens der Machbarkeit', das Vorgaben und Grenzen nicht akzeptieren will. Kleebergs Roman führt durch die beiden so persönlich geschilderten Biografien zu den grundsätzlichen Fragen, die sich unserer Gesellschaft heute stellen. Dazu gehört vor allem die Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Sollen und können, zwischen Dürfen und Vermögen des Menschen. Es steht zu befürchten, dass die Antwort darauf – das zeigen die zuweilen heftig geführten Kontroversen und Debatten unserer Zeit – nicht selbstverständlich zugunsten des christlichen Menschenbildes ausfallen wird.

1. Menschenbild und Gottesbild

Deutschland ist ein Land, das man im positiven Sinne als ,Teil Europas in der so genannten westlichen Welt' bezeichnen kann. Oft beschworen werden dabei von den unterschiedlichsten Vertretern und Meinungen ,unsere Werte' bzw. ,unser Menschenbild'. Wie selbstverständlich verstehen wir uns – und auch jeden anderen Menschen – als frei, gleich an Rechten und Würde; wir betrachten unsere Verfassung als eine, die dieser Auffassung am ehesten gerecht wird, und geben ihr ,grund-sätzlichen'Rang.

Allzu schnell übersehen wird jedoch, dass das damit gemeinhin verbundene und transportierte Bild vom Menschen in unserem Kulturraum nicht ohne Herkunft bzw. Bezugsgröße ist, es ist nicht im ,luftleeren Raum' entstanden. Immer stärker ist in unserer Gesellschaft die Tendenz zu einer regelrechten ,Selbstsäkularisierung' aller Lebensbereiche zu spüren. Es erscheint geradezu verpönt, sich mit seinem Wertebezug festzulegen, besonders da, wo dieser sich auf originär christliche Wurzeln stützt. Die Rückbindung an den eigentlichen Grund unseres Wertesystems droht uns immer mehr abhandenzukommen. Die Debatte um die Frage einer ,christlichen Leitkultur' zeigt das eindrücklich. Es gibt in unserem Land durchaus eine christliche Leitkultur. All unsere Rede vom Menschen, von seinen gesellschaftlichen Bezügen und Bindungen, ist geprägt vom (jüdisch-)christlichen Erbe unseres Kulturraumes. Immer weniger haben wir jedoch das Bewusstsein für diesen Ursprung und damit auch für die Plausibilität unserer Grundwerte. Es gerät uns zunehmend aus dem Blick, dass sich unser Menschenbild dem jüdischchristlichen Gottesbild verdankt. Ausführlich widmen sich die Kapitel 3/I.; 3/II. und 7 des vorliegenden Buches der Frage nach der Herkunft unserer Werte (vgl. auch Kapitel 1/II.1.).

2. ,imago' und ,similitudo'

Unsere kirchliche Rede vom ,Menschenbild' nimmt ihren Anfangin den ersten Kapiteln der Genesis. Hier ist von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Rede und von der Schöpfungsabsicht Gottes: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild (imago), uns ähnlich (similitudo). Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild;als Abbild Gottes schuf er ihn.Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,26 f.).

In der nachfolgenden Paradiesgeschichte wird in den bekannten Bildern beschrieben, wie der Schöpfer Adams, gleichsam als bildender Künstler, den Menschen („Adam“) wie auch die Tiere aus der Erde formt. Adam ist es, dem er den Odem, den göttlichen Geist, einhaucht, dem er damit allein gewissermaßen Anteil gibt an seiner Schöpfung. Diese „Sonderstellung im Kosmos“ (Max Scheeler) – das Alleinstellungsmerkmal des Menschen – ist es, was Psalm 8 in seiner so wunderbaren Sprache noch einmal hervorhebt: Die einzigartige Würde des Menschen kommt darin zum Ausdruck, dass der Schöpfer ihn mit „Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ hat; ihn nur „wenig geringer gemacht hat, als Gott“ (vgl. Ps 8,6). Adam, obwohl er selbst Teil der Schöpfung ist, darf neben den Schöpfer treten und den Tieren Namen geben.

Die hier kurz angesprochenen Texte bilden Quelle und Grund des biblischen Menschenbildes. Gerhard Lohfink hat darauf hingewiesen, dass der hebräische Begriff ,Selem' (Ebenbild) sprachlich auch in anderen Kontexten vorkommt bzw. vorkam. Interessant und aufschlussreich ist beispielsweise der Hinweis, dass im Ägypten der Pharaonen der Begriff ,Selem' das ,Bild des Pharao' bezeichnete, was ihm in seinem Reich eine ,ubiquitäre Präsenz' verschaffte. Überträgt nun der biblische Sprachgebrauch diesen Zusammenhang auf die Beziehung zwischen Schöpfer und (menschlichem) Geschöpf, bleibt die Rede vom Menschen als ,Bild Gottes' nicht nur Sinnbild, sondern wird zu Realität und Anspruch der Schöpfung. Der Mensch hat nicht nur die Möglichkeit, sondern den Auftrag, überall und in jeder Situation die Gottespräsenz zu verkörpern und – andersherum – die Gottespräsenz im anderen anzuerkennen. (Vgl. dazu Kapitel 3/II.3)

Dieser Grundgedanke setzt sich im Zeugnis des Neuen Testamentes fort. In und durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kommt uns der Schöpfer auf einmalige Weise unüberbietbar entgegen. Mit ihm ist die Fülle der Zeiten angebrochen. Wir sind hineingenommen in die Liebes-und Lebensgemeinschaft des dreifaltigen Gottes. Daraus resultiert unsere Auffassung von Werten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinander. Es ist das christliche Menschenbild, das diese Grundhaltung bedingungslos auf alle Menschen übertragen hat.

Das christliche Bild vom Menschen weiß auch um die Schwäche des Einzelnen. Wir sind nicht frei von der Gefahr der Selbstüberschätzung. Zu sehr neigt der Mensch dazu,sich selbst in den Mittelpunkt zu setzen und den Bezugspunkt seines Handelns letztlich im eigenen Wollen zu suchen. Der Glaubende hingegen hat ein ,Korrektiv'. Ohne einer gesellschaftlichen Funktionalisierung der Religion das Wort zu reden, soll doch auf diesen entscheidenden Punkt hingewiesen werden. Wir sehen uns als Christen immer schon auf die in Jesu Christi Person gewordene Wahrheit bezogen, zu der uns zu verhalten wir stetig gefordert sind. Der Mensch muss sich damit nicht dem geradezu unmenschlichen Druck ausgesetzt sehen, sein Heil aus eigener Kraft, im Hier und Jetzt, selbst bewerkstelligen zu müssen.

Ohne Transzendenz, so drückt es der vormalige Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch, aus, „ohne einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst, wird [der Mensch] intolerant gegenüber allem, was sich ihm entgegenstellt, verfällt in Verzweiflung, sobald er in existenzielle Not gerät“. 2 Wenn nun aber der Mensch in dem bis hierher skizzierten Sinne ,Bild Gottes' ist, und zwar jeder Einzelne, dann hat dies besonders auch an den ,Grenzen des Lebens' seine Berechtigung und verdient dort besonderen Schutz.

3. Lebensrecht und Lebensschutz

Mit der Frage, was dem unbedingten Schutz menschlichen Lebens dient, sind wir noch einmal sehr konkret beim Thema des eingangs zitierten Romans „Das amerikanische Hospital“. Die Nüchternheit und der geradezu berechnende Umgang mit den befruchteten Eizellen der Hauptprotagonistin, die der Autor Michael Kleeberg beschreibt, rückt eindrücklich vor Augen, dass die rein medizinisch-technische Orientierung das menschliche Leben viel zu schnell zur Konkursmasse der Machbarkeit zu degradieren droht.

So sehr in dem fiktiv geschilderten Fall Verständnis und sogar echtes Mit-Leiden für den sehnlichen Kinderwunsch aufkommen mag: Die bereits genannte Würde und die Freiheit jeden menschlichen Lebens werden hier in der Regel nur noch sehr selektiv und damit willkürlich geachtet. Aus dem bereits herausgestellten Bekenntnis des christlichen Menschenbildes zur Einzigartigkeit und Würde jeder Person resultiert konsequent auch der Wille zum unbedingten Schutz menschlichen Lebens von Anfang an. (Vgl. Dazu Kapitel 5/II.)

Dies gilt in den Debatten über Stammzellenforschung, über Präimplantationsdiagnostik (PID) ebenso wie in der Frage der Abtreibung. In allen genannten Bereichen wird in den immer wieder aufkommenden Diskussionen mit dem Freiheitsbegriff argumentiert. Die Freiheit der Forschung müsse gewährleistet sein, auch, um nicht hinter die internationale Konkurrenz zurückzufallen. Das aber würde bedeuten, Unrecht zu legitimieren, weil es an anderer Stelle auch getan wird. Ebenso gerne wird der Begriff der Freiheit derartig isoliert, dass er am Ende dazu dienen soll, die Tötung ungeborenen Lebens zu rechtfertigen. Dass die menschliche Freiheit ein Gut ist, das nur im Verbund mit anderen Werten zu realisieren ist, wird dabei in der Regel zugunsten der Individualität ausgeblendet. Konkret hat dies im Jahr 2003 der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, am Beispiel der Abtreibung ausgeführt:

„In der Radikalisierung der individualistischen Tendenz der Aufklärung erscheint Abtreibung als ein Freiheitsrecht: Die Frau muss über sich selbst verfügen können. Sie muss die Freiheit haben, ob sie ein Kind zur Welt bringen oder sich davon befreien will. Sie muss über sich selbst entscheiden dürfen, und niemand kann ihr – so wird uns gesagt – da von außen her eine letztlich bindende Norm auferlegen. Es geht um das Recht der Selbstbestimmung. Aber entscheidet die Frau bei der Abtreibung eigentlich über sich selbst? Entscheidet sie nicht gerade über jemand anderen – darüber, dass einem anderen keine Freiheit zugestanden werden soll, dass ihm der Raum der Freiheit – das Leben – genommen werden muss, weil das mit meiner eigenen Freiheit konkurriert? Und so ist zu fragen: Was ist das eigentlich für eine Freiheit, zu deren Recht es zählt, die Freiheit eines anderen gleich vom Ansatz her aufzuheben?“ 3

In dem geschilderten Fall handelt es sich nicht um einen ,Sonderfall', den man bei der Frage nach der menschlichen Freiheit eigentlich ausschließen kann. Das Gegenteil ist der Fall: Entwickelt sich der Embryo doch nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch. So wird gerade der Umgang mit diesem Beispiel gewissermaßen zur ,Nagelprobe' für die Wertegemeinschaft einer Gesellschaft. Es verdeutlicht das typisch menschliche Wesen unserer Freiheit. Wer dennoch nach absoluter Freiheit verlangt, der verkennt die Grundfigur menschlicher Existenz: Als Wesen der Gemeinschaft begrenzt sich unsere Freiheit am Für- und Mitsein der anderen. Dieses macht unser Miteinander-Sein gerade ,menschlich'.

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