Mythos Mensch

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Mythos Mensch
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FRANK LISSON





MYTHOS MENSCH



Eine Anthropodizee










INHALT





Auftakt







I. AUS DEN ERFAHRUNGEN DES MENSCH-SEINS







Wesen, Wille, Werden







Absichtlichkeiten







Wozu überleben?







II. VON DER FREUDE AM MYTHOS







Grundbedingungen des »schönen Lebens«







Pathogenese der Zivilisation







Warum die Welt das Ungeheuerliche bleibt







III. ERFINDUNG DER GLÜCKSELIGKEIT







Eine Frage der Reife







Ironische Brechung







Ankunft im Behagen







AUFTAKT




Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender (…), und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen

.



Adalbert Stifter,

Der Nachsommer. Die Beherbergung

, 1857.



Wie viel Weisheit, wie viel Reife, wie viel Abgeklärtheit und Welterfahrung, wie viel Unbestechlichkeit ist nötig, um sich zu vergegenwärtigen, dass es genaugenommen nur einen einzigen echt philosophischen Gegenstand gibt – und das ist der

Mensch

, genauer: der Mensch in seinen

Eigenschaften

, oder noch präziser: der Mensch in seiner Eigenschaft als Mensch; worauf sogleich die Frage folgen muss, ob es überhaupt möglich ist, Natur aus der Natur heraus zu

verstehen

 und nicht bloß zu erkennen und zu nutzen. Damit wird freilich die im Grunde triviale, aber umso verkanntere, weil nur schwer hinnehmbare Tatsache ausgesprochen, dass alles, was je vom Menschen erdacht und erschaffen worden ist, woraus sich seine Lebensentwürfe, Moralen, Freuden, Ängste speisen, und was seine Welt mit Inhalten anfüllt, dass all dies nichts als die

eigene Natur abbildet

 und außerhalb dieser Natur des rein Menschlichen und damit des Phantastischen keinerlei Bewandtnis hat; ja dass sämtliche Schöpfungen als

Allegorien

 eben dieser Natur angesehen werden müssen und ihnen kein Eigenwert darüber hinaus zukommt. – Wo der Mensch sich denkend in Erscheinung bringt, setzt er der Welt eine zweite Wirklichkeit entgegen: sich selber. Alle anderen Naturphänomene, kulturellen und politischen Fragestellungen treten weit dahinter zurück oder verlieren sogar gänzlich an Bedeutung, sobald man den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, dem Urphänomen der Weltprobleme, dem

rein Menschlichen

 auf den Grund zu gehen.



Hat man den

Menschen an sich

 und damit die

menschlichen Funktionsweisen

 als die Ursache und das Kernereignis allen Weltgeschehens erkannt, interessieren die subalternen Streitfälle einzelner Gruppen nur noch insoweit, wie sie als arttypisch für den Verlauf von Werdungsprozessen (Kulturen) gelten dürfen und demgemäß zum Verständnis primärer Gattungseigenschaften beitragen. Diese Bedeutung verliert sich allerdings mit Ablauf und Schwinden ihrer tradierten Voraussetzungen und Empfindlichkeiten. Von da an, wo der Mensch die an seine frühen Werdungsprozesse gebundene Entwicklungsphase hinter sich gelassen hat und nunmehr darauf aus ist, als computergesteuerter Konsumnomade durch eine virtuell aufgelöste Wirklichkeit zu ziehen, ist es fast unerheblich geworden, ob sein Lebensraum, der inzwischen alles, was dem Kulturmenschen einst lieb und teuer war, epidemischen Wachstumszwängen preisgegeben hat, mehrheitlich von dieser oder jenen Ethnie bewohnt, von »den einen« oder »den anderen« regiert wird. Zeigt doch die Erfahrung heute mehr denn je, wie sehr sich beinahe alle Menschen in ihren Grundeigenschaften gleichen, sobald sich ihnen Gelegenheit bietet, diese auszuleben. Welcher Verlust oder Grad an Zerstörung den Einzelnen nun tiefer berührt und ob er überhaupt noch wahrgenommen wird, welche Volks- oder Glaubenszugehörigkeit auf den Straßen und in den Shopping-Centern die Überfülle vermehrt, bleibt in komfortindustriell verödeten Ländern wie denen Mitteleuropas reine Ermessenssache. – Wer sich an dem einen nicht stört, wird sich bald auch an das andere gewöhnt haben.



Schließlich dürfte keiner der Kontrahenten ein besserer oder schlechterer Marktteilnehmer sein, wo es allein nur noch darum gehen kann, wer an wen den Hauptteil der Beute Staat und Welt zu verteilen hat. War es bis ins 20. Jahrhundert hinein noch sinnvoll, den Willen einzelner Völker oder Nationen in Kultur und Politik zu den bestimmenden Akteuren der Weltgeschichte zu erklären, so haben wir es von nun an und bis auf unabsehbare Zeit mit einer viel weiterreichenden Kraft, nämlich mit der

Ultima ratio

 des

Menschen an sich

 zu tun. Lasse man sich daher von gewissen, derzeit aufkeimenden Reaktionen gutmeinender Widersacher nicht täuschen: es sind die gleichen Menschen – und nichts Menschliches ist ihnen fremd.



Nie ist die Konditionierbarkeit des Menschen sichtbarer zutage getreten als in den Anfängen des digitalen Weltalters zu Beginn unseres Jahrhunderts, nie gab es weniger Selbständigkeit, Originalität, Mut und Willen zur Wahrheit und zur Weisheit als heute; – eine vielleicht paradoxe, aber zwingende Beobachtung, gegen die sich alle unsere Behauptungen von den vermeintlichen Entwicklungsfortschritten modernen Menschseins wehren müssen. Doch die hochkomplexe Rechenmaschine

Homo sapiens

, die sich zu gern ihren ureigenen oder antrainierten Reflexen hingibt, scheint nunmehr ganz und gar in ihrer

primären Natur

 aufgegangen zu sein. Dem Über-Affen stets näher als dem Über-Menschen, legt sie ihr gesamtes Geschick in die technische Beherrschung ihrer Umgebung, indem sie fragt: wie kann ich mich am besten der Welt

präsentieren

? Auf dieses

In-der-Welt-sein

 als ein sichtbares Etwas, das allein jener Sichtbarwerdung halber von sich reden machen will, scheint es dem Menschen in der Zivilisation mehr denn je anzukommen; und zwar deshalb, weil das oberste Prinzip der Zivilisation, die Totalnivellierung sämtlicher Menschheitspartikel, dazu nötigt, sich innerhalb der Milliarden einander Angeglichener abzuheben, um sich selber etwas zu sein.



Von außen betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, als bestünde die »Bestimmung« des Menschen in der technischen Optimierung seiner Anpassungsstrategien und seines Kalküls zum Zwecke der Selbstinszenierung. Denn was ist ihm die Welt anderes als der Ort zum

naturgemäßen

 Überleben? Und eben diese seine

Natur

 hat es bislang immer wieder verstanden, den Menschen dergestalt über sich selber zu täuschen, dass er so gut wie nie einen Blick in die Abgründe der eigenen Daseinsbedingungen zu werfen und nach den

Prinzipien hinter den Ereignissen

 seiner Eigenschaften zu fragen wagte: warum bin ich wer geworden und zu welchem Preis?



Vielleicht war die gesamte bisherige Geschichte des Menschen, so wie man sie sich gegenseitig erzählte und noch immer erzählt, nichts als eine große Mythologie, das heißt: die Geschichte des eigenen Mythos vom Dasein einer Art, die sich für etwas hielt, was sie nie war. Eine Sammlung von Verklärungen der eigenen Absichten, Erwartungen, Leistungen, Eigenschaften im Guten wie im Bösen. Mehr ein Dahindämmern oder Schlaf und Traum potentieller Möglichkeiten als der klare, unbestechliche Blick auf das eigene Wesen, mehr Wunsch als Wahrheit, mehr Hoffnung als Einsicht, mehr Glaube als Wissen, kurz: vielleicht enthielt dieser Mythos stets mehr von all dem, was träge und eitel und also

glücklich

 macht, als jene Stoffe, die zur Selbstrevision verführen und zum strengen Misstrauen gegen alles Menschliche.



Was also, wenn sich der Mensch eines Tages als sein eigenes großes Missverständnis erkennen sollte, als das Gespött der Welt, in die er hineingeraten war zu seinem eigenen Verhängnis und mit lauter einander widersprechenden Fähigkeiten …? So hätte der Mensch allen Grund, ein ewiges Plädoyer für sich selber zu halten, eine Dauerrechtfertigung seines großen, wenngleich ephemeren Störeinsatzes auf Erden, seines permanenten Krieges gegen die übrige Natur, aus der er gewissermaßen in die Selbstwahrnehmung, ins

Selbst-Bewusstsein

 hinein verstoßen wurde.



Welche Voraussetzungen aber müssen erfüllt sein und welche Bedingungen müssen herrschen, damit ein Mensch mit sich als das Wesen, das er darstellt, in

Totalrevision

 geht? Welcher geistige Zustand muss erreicht werden, damit sich alle Haushaltsbücher des Lebens vor ihm öffnen, er rigoros Bilanz zieht und sich alle Machenschaften eingeübter Verhaltensweisen, die ihn durchs Leben tragen, vor ihm aufdecken? Wann wird sich der Mensch dahin entwickelt haben, endlich einmal ernsthaft Rechenschaft über sich und seine Spezies ablegen zu wollen, weil er des ewigen Ringens um seine ihm auferlegten Rollen in der Welt müde geworden ist? Vielleicht muss er erst von seinen Funktionsweisen und Programmabläufen derart angewidert und gelangweilt sein, dass er die Kraft und den Mut findet, auf sich selber herabzublicken wie auf eine fremde Art. Und vielleicht treten dann die Fragen nach den tiefsten Wahrheiten schauerlich an ihn heran: was geschah eigentlich mit mir, als ich dem großen Abkommen der Überlebenswilligen beitrat? Was wurde daraufhin von mir verlangt und wessen hatte ich mich von da an zu enthalten? Was macht das Leben aus einem Menschen, sobald dieser sich ans Leben macht, sich also am

Leben aller

 beteiligen will? Gibt es womöglich noch einen Menschen

hinter

 dem Spieler, der er werden musste, um in Gesellschaft sein und überleben und

glücklich

 werden zu können?

 



Insofern steht jene große philosophische Eigenleistung noch aus, in deren Verlauf der Mensch die Scheu vor dem Blick auf die Motive seiner »

menschlichsten

« Handlungen verliert und die Mechanismen und überhaupt das Mechanische, ja Maschinelle all seiner Interessen, Zugehörigkeiten, Reaktionsmuster, biologischen Äußerungsformen, tradierten Bräuche, Reflexe in politicis etc. sich ihm selber offenbaren.



Strenggenommen kann es heute bei allem Bedenklichen um gar nichts anderes mehr gehen als um die

Rechtfertigung

 des Menschen. Alle Philosophie musste darauf hinauslaufen, den Begründer der Welt nach den

Gründen

 seines Tuns zu fragen. Denn tatsächlich ist eine solche Indiskretion lange unterblieben. Was liegt dem Willen einer jeden Ich-Einheit zugrunde? Wie bildet sich menschliches Wollen, das die Art und deren Entwicklung nach einem bestimmten Muster formt? Die Vernunft Einzelner kann diesem Willen widersprechen, sich ihm verweigern, ohne ihn und seine Folgen jedoch zu verhindern.



Solange der Mensch damit beschäftigt ist, das eigene Ich zu erhalten und zu inszenieren, bleibt er blind für die Vorgänge, die ihn dazu verleiten. Deshalb muss das Leben selber zur Disposition stellen, wer über eben diese Methoden und Künste der Eigenerhaltung Klarheit gewinnen will. – Denn nur das bedeutet

Weltüberlegenheit

: den Menschen und damit das Menschentum aus der höchstmöglichen Entfernung erschauen und begreifen lernen wie ein Wetterphänomen!



Erst dort, wo der Mensch die Unvereinbarkeit von Ich und Welt erfährt, beginnt die Philosophie. Er bemerkt, dass sich hinter oder über dem Programm primärer Natur zum Lebensvollzug noch eine weitere Sphäre befindet, die ihn jedoch von allem anderen, das heißt von allen Dingen überhaupt, trennt, so dass es ihm möglich wird, die Welt als etwas wahrzunehmen, das sich zum Menschen verhält wie die Idee zu ihrem Schöpfer: das eine verliert ohne das andere die ihm angetragene Bedeutung; es muss oder kann nunmehr über sich selber hinaus betrachtet werden, wodurch jeder kontextuelle Bezug, jeder Wertmaßstab und Nutzen schwindet. Der Mensch steht anders in der Welt, wo er nach einer Besichtigung und Beurteilung dessen verlangt, was ihn als die von ihm erlebte Wirklichkeit umgibt: was ist das, was da mit der Welt geschieht, während wir an ihr teilnehmen und von ihr profitieren, indem wir uns in das bereits Geschaffene einer Umwelt einfügen, deren Sinn und Zweck vollständig auf die menschlichen Bedürfnisse abgestimmt zu sein scheint? Wo ein Mensch der offiziellen, landläufigen Deutung der Welt misstraut, weil ihm das Menschsein buchstäblich über den Kopf gewachsen ist, bekommt die Wirklichkeit einen befremdlichen Charakter; sie offeriert ihm plötzlich Wahrheiten von bestürzender Evidenz, und es drängen nunmehr die horrendesten Fragen auf ihn ein: wie kann ein denkendes, empfindendes Wesen in die Welt eintreten, ohne durch das Bedenkliche und also zu Bedenkende, das es überall umringt, in völliger Verstörung zu enden? Da doch niemand weiß, was das eigentlich für ein Ding ist, das man selber darstellt… Deshalb lautet die erste und letzte aller Fragen: wieso überlebt ein Mensch, der bei

klarem Verstand

 und zur

Vernunft fähig

 ist, sich selber – und stirbt nicht alsbald an dieser Dichotomie und damit an der Welt? – Freilich, man kennt die Antwort: ohne die

Begabung zum Mythos

 hätte der Mensch seinen Weg in die Selbstwahrnehmung kaum überleben oder auch nur antreten können.



So sind es also die großen Mythen, die bald alle Wirklichkeit begründen und die als die großen Befindlichkeiten unserer Art in fünftausend Jahren Eigenrezeptivität längst ihren definitiven Ausdruck gefunden haben. Jetzt aber gilt es, endlich in die Welten hinter den Beschreibungen vorzustoßen und die Geschichten hinter den Geschichten zu erzählen! Doch werden Menschen je die nötige Reife und Unerschrockenheit erlangen, die sie dazu befähigt, das Wesen und den Werdegang der eigenen Art mit der gleichen Strenge, Distanz, Vernunft und Bravour zu beschreiben, mit der die Klügsten und Feinsinnigsten bisher die übrige Natur zu erforschen verstanden? – Damit wäre tatsächlich eine Stufe erweiterten Menschentums erreicht, das den Willen zur Eigenerkenntnis über den Willen zum »schönen Leben« erhöbe. Denn gibt es eine größere Aufgabe, als das Wachsein und die Fähigkeit zur Vernunft für den einen Zweck zu verwenden, nach den Gründen und Wahrheiten der eigenen Gattungseigenschaften, also nach dem

Wesen des Menschseins

 zu fragen?



Jede Anthropologie, die immer auch eine Anthropodizee ist, enthält die Rechtfertigung des Überlebens, also die hinreichenden Gründe gegen das vorzeitige Sterben. Dies scheint nötig, weil das Leben selber solche Gründe offenbar noch nicht liefert, sondern vielmehr im Gegenteil bei genauerer Betrachtung stets vom Dasein weglockt. – Denn strenggenommen beschreibt die gesamte Kulturgeschichte im Wesentlichen ja kaum etwas anderes als eine

Anthropodizee

: der Mensch will seiner Vernunft nach nicht sein, was er seiner Natur nach ist. Und zwar deshalb nicht, weil er bemerkt hat, dass er, um glücklich zu werden, sich und andere andauernd

betrügen

 muss, selber aber nicht (offen) betrogen werden will. Seitdem betreibt man einen enormen Aufwand, um diesem Dilemma zu entkommen – und einigte sich früh auf Formen des gegenseitigen Selbstbetrugs, die für

alle

 verbindlich sein sollen. – Das waren die Geburtsstunden von Religion und Politik.



Die

totale Industrialisierung des Menschen

 in einer

total industrialisierten

 Welt und das damit eng verbundene Axiom der

Konsumfähigkeit als Menschenrecht

 und oberstes wie einziges politisches Ziel bilden die beiden Fundamente globaler Zivilisation. Aus diesem Zustand ist ein Überlebenstypus hervorgegangen, der dem des alten, antik-abendländischen Geistes- und Kulturmenschen diametral entgegensteht. Kulturen waren Prägungseigenarten isolierter Verbände auf der prinzipiell gleichen Grundlage aller Gattungsangehörigen, die sich auf die gleiche natürliche Weise, wie sie einst entstanden, zurückbilden, sobald jene Isolationsverhältnisse nicht mehr bestehen. Wo sich noch Reste des alten Typus finden, ist dieser heute gewissermaßen zur Teilnahmslosigkeit verurteilt, je weniger dessen Naturell den neuen Anforderungen genügt: ihm schwindet von nun an mehr und mehr das Habitat einer kulturell geprägten, »natürlich« tradierten Wirklichkeit heimatlicher Lebensart. Erst das 21. Jahrhundert lehrt uns mit aller Deutlichkeit das

Vergebliche

 der Arbeit am Menschen in bildungsbürgerlichhumanistischer Absicht.



Es bleibt daher abzuwarten, wann oder ob überhaupt jemals wieder Generationen heranwachsen, in denen das Bedürfnis wütet,

grundsätzliche

 Fragen an die Wirklichkeit zu richten. Denn dazu müsste das Narkotikum der Moderne und Übermoderne erst einmal deutlich an Kraft verlieren und selber zum Gegenstand fundamentaler Lebenskritik werden. Dann erst könnten sich wieder Stimmen erheben, die konsequent nach dem

Warum

 gegenwärtiger Realitäten fragen. –

Warum

 müssen wir alle sogenannten Errungenschaften der sogenannten modernen Welt hinnehmen, als seien sie Naturgesetze?

Warum

 unterwirft sich der rezente Mensch widerstandslos dem Gegenwärtigen und meint, darin seine »Freiheit« zu verwirklichen?



Vor Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch keine hässliche Architektur, noch keine Überbevölkerung, noch keine Technokratie, noch keinen totalen Ausverkauf der Erde. – Erst nachdem wir einmal ernsthaft die Frage nach dem

Warum

 all dieser Dinge aufgeworfen haben, erschließt sich uns der Wert des Kulturellen; wir erkennen die Lage des neuen, kulturell entsittlichten und entwerteten Menschen und bekommen vielleicht ein Gespür für das Ungeheuerliche, das diese beiden Weltalter voneinander trennt. Im 20. Jahrhundert ereignete sich der große geistig-materielle Bruch, die gewaltige Umbildung, ist buchstäblich

alles anders geworden

! Und was die meisten Menschen in blinder Bewunderung als »emanzipatorischen Fortschritt« feiern, weist in die Richtung einer Entwicklung, die alle romantischen Veredelungsabsichten Lügen straft.



Es gehört zu den faszinierendsten Erfahrungen des Menschseins, dass bereits in dem Moment, wo sich

Homo sapiens

 seiner Stellung in der Welt rational bewusst zu werden begann, die gravierenden Daseinsprobleme erkannt und beinahe schon erschöpfend behandelt worden waren. Jedenfalls bleibt es erstaunlich, wie die großen Entdecker des

Humanistischen

 oder, griechisch gesprochen, des

Anthropologischen

 und damit

Halluzinatorischen

 in der Philosophie, wie also der antike Geist etwa eines Heraklit oder Platon die wesentlichen Fragen des Menschseins bereits bis auf den Grund auszukosten vermochte. Je tiefer wir seitdem in die Ursachen aller geistigen Verwerfungen und Widersprüche eindringen, desto klarer wird, dass die Grundprobleme menschlichen Daseins weder kultureller noch politischer oder sozialer, sondern allein

typologischer

 Natur sind. Nicht am Gesellschaftlichen und an seiner Ökonomie, sondern am

Typologischen

 scheiden sich die Geister. Kein Mythos erzählt von dieser Tatsache eindringlicher und anschaulicher als Platons berühmtes

Höhlengleichnis

, das verdeutlicht, wie es um das menschliche Verhältnis zur Wahrheit durch Erkenntnis eigentlich steht. Wer sich der Weltschau des

reinen Denkens

 überließe, machte sich dadurch bald seine gesamte Umgebung zum Feind, da er überall an ihren Ungereimtheiten, Schwachstellen, Torheiten rühren müsste, wobei sich herausstellte, wie wenig das Denken oder der Logos mit den menschlichen Gewohnheiten, Meinungen, Einrichtungen, Vorlieben und Zwecken übereinstimmt.



Vor bald zweitausendvierhundert Jahren wurde also bereits warnend beschrieben, was Erkenntnis ist, was sie anzurichten vermag und wie es ihr gelang, das Menschentum in einander widersetzende Teile zu spalten. Seitdem stehen sich zwei grundverschiedene Menschentypen geradezu artfremd gegenüber: derjenige, welcher aus der »Höhle« heraustrat und sich an das Licht der »Sonne« gewöhnte, wodurch er »sehen lernte«, den Blick für das Wahre, also Unverborgene erwarb, und jener, der dem Schattenspiel innerhalb der »Höhle« verhaftet blieb.



Zunächst bereitete der Blick in die »Sonne« freilich Schmerzen; und zwar in zweierlei Hinsicht: er hebt die schöne Täuschung auf, und er trennt den Sehenden von den übrigen, die nichts von ihm wissen wollen, sobald er sie über das Wesen ihrer Trugbilder und Eigenschaften aufzuklären versuchen sollte. Denn sie haben sich in ihrer »Höhle« bestens eingerichtet, genießen dort alle Privilegien und wollen mit gar keiner anderen Wahrheit konfrontiert werden als mit jener, die sie täglich zu sehen bekommen. Wenn aber, lässt Platon in der bei ihm üblichen Dialogform fragen, der dem Höhlendasein entronnene Mensch nun an seine erste Behausung zurückdenkt und an die Weisheit, die dort galt, und an seine damaligen Mitgefangenen, wäre er dann noch auf das Lob, das sie einander dort spendeten, erpicht und würde er diejenigen beneiden, welche bei jenen dort in Ehre und Macht stehen? – »Wenn er dann aber wieder versuchen müßte, im Wettstreit mit denen, die immer dort gefesselt waren, jene Schatten zu beurteilen (…), so würde man ihn gewiß auslachen und von ihm sagen, er komme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es lohne sich nicht, auch nur versuchsweise dort hinaufzugehen. Wer es aber unternehmen sollte, sie zu lösen und hinaufzuführen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten?«

1




Tatsächlich gibt es nichts Schaurigeres als einen solchen, schärferen Blick auf den Menschen; und es gibt keine größere Qual, als mit einem solchen Blick, mit dem legendären »Auge zu viel«, geschlagen zu sein. Schon allein deshalb ist es zur guten Gewohnheit geworden, für die eigenen Funktionsweisen und Instinkte zu erblinden. Denn kein anderes Lebewesen kennt den Schrecken und die Verzweiflung, die sich aus dem ungeheuren Spannungsverhältnis menschlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Geistesleistungen ergibt. Keine andere Kreatur vermag ihr Verhalten zu beobachten und dahinter die Absichten zu erkennen, durch die es gelenkt wird. Und eben das macht das Leben unter Menschen für die im platonischen Sinne Sehenden so bedrückend und bedrohlich, ja beinahe unmöglich.

 



Wissen wir doch bis heute nicht, was Leben eigentlich ist – und

warum

 Leben ist, geschweige denn,

wozu

 es ist! Und was es wäre, wenn es den Menschen nie hervorgebracht hätte, niemand also je dazu veranlasst worden wäre, einen höheren Plan hinter all dem zu vermuten und entsprechende Theorien und Mythen zur Erklärung oder Erbauung herbeizudichten. Der Umstand, dass es Leben in seiner denkenden, sinnierenden Form – vielleicht nur eine knappe Erdgeschichtssekunde lang – gibt, scheint die Intensität der Selbsterkenntnis kaum gestei

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