Czytaj książkę: «Soviel man weiß»
FLORIAN GANTNER
SOVIEL
MAN
WEISS
ROMAN
© 2021 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Umschlaggestaltung: buero 8 / Thomas Kussin
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4664 4
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1748 4
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Danksagung
1
Eine Wand ist nichts. Ein zugezogener Vorhang ist kein Hindernis. Weil alles, was da ist, sich auch messen lässt. Nehmen wir die Quellenstraße, sagt Marek Kostka, der seit drei Jahren in dieser Straße wohnt, auf die er die letzten Tage von seinem Fenster aus hinuntergeschaut hat, als wolle er wie ein Streetview-Fahrzeug jeden Quadratmeter in sich aufnehmen: 3060 Meter schneidet sie durch Favoriten, von der Südosttangente bis zur Triester Straße. Eine Fahrbahn für Autos, Straßenbahnen und Radfahrer, zwei Gehsteige für Fußgänger. Entlang der Quellenstraße kannst du dir in einundzwanzig Läden die Haare schneiden lassen, in achtzehn Lokalen und an vier Ständen einen Kebab bestellen, es gibt sechs Handyshops, fünf Juweliergeschäfte, vier Wettbüros und vier Schlüsseldienste, die auch Schuhservice anbieten.
Was Schuhe mit Schlüsseln zu tun haben, hab ich mich schon immer gefragt, wirft Benno ein.
Was ich sagen will, fährt Marek fort: Das alles kann man messen und Schlüsse daraus ziehen. Er bleibt vor dem Haus mit der 63 stehen, nickt in Richtung Hausnummer, holt seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sagt: Nehmen wir den Sanierungszustand des Hauses, Mietpreis, Lebensstil, soziale Strukturierung und so weiter – das alles sind Daten, die du mit einem entsprechenden Algorithmus entschlüsseln kannst. Damit siehst du in jede Wohnung. Der Algorithmus sagt dir, was hinter den zugezogenen Vorhängen los ist.
2
Sie schwärmen aus in der Stunde, in der die einen bereits schlafen, die anderen aber noch nicht wach sind. Auf diese eine Stunde haben sie gewartet, die Stunde, in der die Straße ihre Verbündete ist und jeden ihrer Tritte schluckt. Niemand soll sie hören.
Eine Gruppe biegt links weg, Parko schnalzt mit der Zunge, was so viel wie Gutes Gelingen, Kommando Jamaal heißt.
Als nächstes Kommando Myrina, rechts weg. Einen fröhlichen Ausruf hören sie. Auch wenn sie alle Masken tragen, die Gesichter verhüllt sind, wissen sie, dass es Varizella war. Crazy Varizella: Ich steck euch an, dann sind wir alle Varizella!
Übrig bleibt das Kommando Dakizo. Mirjam hat diesmal den Namen bestimmt. Sie ist auf einer Website mit afrikanischen Vornamen rumgesurft, hat bis D hinuntergescrollt: Dakizo ist Swahili für Protest. Sie würde gern jemanden kennenlernen, der Protest heißt.
Dakizo erreicht den Zielort. Pollo stellt den Rucksack auf den Boden. Das Klackern der Dosen, aber niemand, den das stören würde. Nur sie sind da: Gradec, Pollo und Mirjam. Einsatzkommando Dakizo steht bereit.
Okay, sagt Gradec.
Mirjam hört heraus, dass er eine bessere Idee hat, sich aber am Riemen reißt. Gradec, Kenner der Zusammenhänge und Meister der cleveren Slogans. Die für Mirjams Geschmack aber manchmal eine Spur zu clever sind. Gradec sprayt etwa Zeigt euch! und erklärt, dass der maximale Effekt der Überwachung gegeben ist, wenn der Überwacher nur als konstante, unsichtbare Drohung existiert.
Mirjam ist das zu sehr um die Ecke gedacht. Wenn der Otto Normalpassant liest Zeigt euch!, denkt er doch nicht an Überwachung. Der denkt höchstens an Versteckenspielen im Kindergarten. Mirjam stellt sich Gradec als Kindergartenkind vor, mit Brille und Pullunder. Der Miniatur-Gradec stolpert durch den Garten und sucht vergeblich die anderen Kinder, stellt sich dabei unglaublich blöd an, rennt immer wieder an stümperhaft Versteckten vorbei, bis er schreit: Zeigt euch! Und Mirjam sieht sich selbst als Pferdeschwanz-Mirjam. Sie sieht, wie sie lachend hinter einem Blumentrog hervorspringt und so tut, als ob Gradec sie entdeckt hätte.
Auch wenn sich andere bei Zeigt euch! vielleicht keinen verpeilten Dreikäsehoch vorstellen – Mirjam ist der Meinung, ein Slogan muss direkter sein. So wie der hier, den sie gebückt schlurfend auf den Asphalt sprüht, Buchstabe für Buchstabe, damit die Kamera da oben auch gut mitlesen kann: WIR ÜBERWACHEN ZURÜCK!
Sie blickt zu Gradec, der es abnickt. Ja, ist unverblümt, direkt, geht schon in Ordnung. Das riesige Auge, das die Überwachungskamera anstarrt, überlässt sie Pollo. Und der macht sich mit Windmühlenarmen an die Arbeit. Pollo, Meister der Spraydose, Kreativkopf des dreiköpfigen Monsters namens Kommando Protest.
Sie laufen zurück zum Headquarter, in die Zentrale, den Hamster*innenbau, die Bums-Residenz – so viele Namen wie Bewohner.
Die Masken sind zwar noch drauf, aber Mirjam spürt das vereinte Grinsen. Mission accomplished, Kommando Dakizo ist zufrieden. Als sie weit genug vom Einsatzort weg sind, schalten sie einen Gang runter. Gradec zieht die Maske vom Gesicht und nickt ihr zu: Und wen genau überwachen wir jetzt?
Die ironische Spitze auf wir.
Bis jetzt konnte er sich zurückhalten, aber jetzt geht’s durch mit ihm. Gradec muss seine Meinung kundtun. Interessant nur, dass er damit nicht wartet, bis sie im Headquarter sind. Da hätte er größeres Publikum. Es scheint ihm unter den Nägeln zu brennen.
Alles klar, Wir überwachen zurück ist kein Revolutionsprogramm, sagt Mirjam. Aber es ist ein Anfang.
Wir haben also einen Anfang. Und weiter?
Mirjam hat sich reingehängt, sich das Wir überwachen zurück keineswegs einfach ausgedacht: Ich dachte da an die Surveillance Camera Players in New York, die sich vor den Kameras aufbauen und Theater spielen –
Gradecs Lachen, mehr Schluckauf als Heiterkeitsbekundung: Okay, verstehe. Du willst also den Clown spielen für die Leute an den Monitoren. Das ist ja ganz nett, aber doch eher kindisch, meinst du nicht? Angreifen wirst du damit niemanden. Wenn wir wehtun wollen, müssen wir auf die Hardware gehen. Mit Laserpointern direkt ins Objektiv zielen. Oder gleich mit der Axt auf die Kabel –
Pollo schaltet sich ein: Warum nehmen wir den Slogan mit dem Zurück-Überwachen nicht wörtlich? Wir trommeln alle zusammen, dann besorgen wir uns noch Guy-Fawkes-Masken und morgen früh stehen wir vor der Kamera und glotzen zurück.
Gradec stöhnt. Mirjam weiß, dass er auch die Fawkes-Masken als kindisch empfindet. Aber bevor er das sagen kann, ruft sie: Warum nicht! Morgen früh starren wir ins nackte Kameraauge!
Im Heimathafen treffen sie auf Kommando Jamaal und Kommando Myrina. Allgemeines Hochleben und Anstoßen auf Vollbrachtes, das dumpfe Klacken von Hartplastik auf Hartplastik.
Kommando Dakizo, Kommando Myrina und Kommando Jamaal lösen sich in Luft auf, und sie alle sind wieder die, die sie vorher waren: Jetzt heißen sie KokoRoschka, Gradec, Varizella, Pollo, Parko, Aquamarina, Chicana und Mirjam. Sie haben sich im Headquarter um den Feuerwasser-Altar versammelt, um Hartplastikbecher in regelmäßigen Abständen in die Höhe zu heben.
Auf uns, my Seaworld, ruft Chicana.
Aquamarinas Antwort ist eine Mischung aus arabischem Schlachtruf und Jodeln.
Parko erzählt Mirjam laut lachend, dass diese Scheiß-Masken gemeingefährlich sind: Koko ist hinter mir gerannt und hat gesehen, dass ich direkt auf einen Postkasten zusteuere. Ich hab natürlich weder ihn noch den Postkasten gesehen, weil die Augenlöcher, irgendwo da oben. Auf einmal spüre ich, wie mich jemand von hinten packt, hochhebt und einen Meter weiter links wieder absetzt. Wie in einem Comic sind meine Füße inzwischen in der Luft weitergerannt.
Mirjam fragt sich, und das nicht zum ersten Mal, was zuerst da war, der Name oder das Outfit. Haben sie ihn Parko getauft, weil er immer in Parkas rumläuft? Parka – Parko? Oder hieß er ursprünglich Paco? Aber ein Mexikaner namens Paco, das ist ungefähr so banal wie ein russischer Ivan. Oder ein Deutscher, der Horst-Rüdiger heißt. Obwohl, sie ist mit einem Rüdiger in die Grundschule gegangen, einen Horst kennt sie aus der Karlsruher Zeit auch noch –
Roschka! Koko! Koko-KokoRoschka! trällert Varizella, als wäre es der Refrain eines bekannten Songs. Dazu tänzelt sie um KokoRoschka, unsichtbare Kastagnetten in den Händen, und drückt abwechselnd ihren Hintern und ihr Schambein an Koko, als wolle sie ihn anmachen. Wenn sie in Stimmung ist, macht Varizella das aber mit so ziemlich jedem. Nur nicht mit Mirjam, ist ihr einmal aufgefallen. Da gibt es irgendeine Grenze. Nicht dass die beiden sich nicht mögen, ganz im Gegenteil. Keine Spur von peinlichem Schweigen, wenn sie mal allein im Zimmer sind. Varizella ist gern zusammen mit ihr, nur ist sie bei ihr weniger Crazy Varizella. Vielleicht blickt sie zu Mirjam auf. Vielleicht liegt es am Altersunterschied? Ist sie ein bisschen Varizellas Mama-Ersatz?
Später wird Gradec von Varizella umtänzelt, dem das sichtlich unangenehm ist. Offensichtlich hat er noch zu wenig getankt, betrunken würde er einfach nur grinsen, so sagt er aber: Lass, Vari.
Sie macht aber unbeeindruckt weiter, Gradecs Unsicherheit spornt sie an. Ergebnis ist ein Balztanz, wie ihn das Headquarter noch nicht gesehen hat.
Da schubst Gradec sie weg: Kannst du dich nicht mal normal aufführen!
Und alles ist für einen Moment nüchtern.
Normal? grinst Varizella ihn an. Wen interessiert denn normal? Komm schon, Gradec, sei kein kleiner Spießer!
Sie nähert sich Gradec, Becken vorgeschoben. Der weicht einen Schritt zurück.
Varizella lacht: Weißt du, Gradec. Dein ständiges Geschwafel –
Sie äfft ihn mit übertrieben tiefer Stimme nach: Mit Überwachung wollen sie nur Uh-mbivalenzen und Uh-nterschiede beseitigen, um Kontrolle zu erlangen. Jede INDIVIDUALITÄT wollen sie unterdrücken, bla, bla, bla.
Sie macht eine theatrale Pause: Aber wo ist deine Individualität? Von oben bis unten der Linke aus’m Katalog. You walk like a Linker, you talk like a Linker. Du siehst sogar aus wie ein Linker. Schau dir mal deine Brille an. Selbst die ist Klischee.
Crazy Varizella ist jetzt beispiellos uncrazy und allen ist klar: Rauschend wird die Party heute nicht mehr. Ein paar betretene Blicke werden ausgetauscht, bald darauf sieht Mirjam verstecktes Gähnen, erste Bewegungen vom Zentrum zu den Rändern, wo sie in neuen Kommandoformationen zusammenstehen oder sich vorausschauend eins der weniger ramponierten Klubsofas sichern.
Der Rücken schmerzt, ihr Mund ist ein Abfalleimer. Lange kann Mirjam nicht geschlafen haben. Rundum wird noch gemützt, wie Pollo sagen würde. Der liegt auf dem nackten Boden, hat sich einen Pulli als Polster untergeschoben. Chicana und Aquamarina Arm in Arm auf der Korpsmatratze I, Varizella hat sich fürs extra durchgelegene Klubsofa entschieden. Von Gradec keine Spur.
Mirjam schaut, ob irgendwo Zigaretten oder Tabak rumliegen. Nichts, nicht mal ein Stummel. Die Letzten haben wieder mal alles säuberlichst aufgeraucht.
Eigentlich ist sie froh, dass die anderen noch schlafen. Sie will noch nicht reden. Sie sollte heimgehen, ein paar Stunden schlafen. Im Bett. Dann sähe alles wieder anders aus.
Im Flur liegt eine Sonnenbrille am Boden, die sie für den Heimweg ausleiht. Draußen lauert ein greller Tag.
Frische Luft in der Lunge, Sonnenstrahlen auf der Haut, das bisschen Bewegung: Alles hilft. Da fällt ihr auf, dass sie drauf und dran ist, am Einsatzort vorbeizukommen. Wenig später steht sie am Kundenparkplatz eines Supermarkts und beäugt ein Graffito, das am Vortag noch nicht da war.
Aus dem Supermarkt kommt ein Junge, Anfang-Mitte zwanzig, sieht das Graffito, grinst, nickt und geht weiter. Das Grinsen und das Nicken haben Mirjam gesagt: Ist auch an der Zeit, dass jemand zurücküberwacht.
Mirjam geht weiter, ihre Stimmung steigt kontinuierlich. Sie biegt in die Quellenstraße ein. Wenige Meter vor ihrem Haus sieht sie den Alten, der unter ihr wohnt, wie er mitten am Gehsteig seine rechte Handfläche begutachtet. Sucht er etwa seine Lebenslinie, der alte Konfusius? Sie zwitschert ihm ein Gut’n Morgähnentgegen, der Alte will sie aber nicht bemerken.
Dann sagst halt nichts, flötet sie noch über die Schulter, wenn auch nicht unbedingt so, dass er es hören kann. Weder eine beleidigte Wirbelsäule noch so ein alter Eigenbrötler können ihre Stimmung jetzt noch trüben.
Aber als sie ihre Wohnung betritt, und noch bevor sie aus den Schuhen geschlüpft ist, kommt der Anruf.
3
Als der Griff der Plastiktasche in seine Handfläche zu schneiden beginnt, stellt Illir Zerai die Einkäufe ab und betrachtet die roten Striemen. Die Sommersonne liefert hervorragendes Licht. Zerai dreht seine Hand und blickt lange auf den Handrücken. Adern, Altersflecken, sonst ist nichts zu erkennen. Dann begutachtet er die roten Stellen an seinem Unterarm. Eine dichte Hülle ist die Haut.
Wie lange man mit ein und derselben Haut durch die Welt läuft. Während Schlangen ohne viel Aufhebens ihre Haut abwerfen. War das Albaner-Sein nicht wie eine aus Volk-Partei-Staat zusammengesetzte Haut, die er problemlos abgestreift hat? Einzig die sogenannten Gedanken der Volksphilosophie konnte er nie abschütteln. In Alltagssituationen schießen sie ans Tageslicht.
Etwa damals, als er genau hier auf der Quellenstraße von einem jungen Mann angerempelt wurde. Anstatt sich zu entschuldigen, warf ihm der Mann nur einen verächtlichen Blick zu. Beleidigt dich dein Feind, bedeutet es, dass du dich auf dem rechten Weg befindest – so eine der Redensarten, die jeder Albaner mit der Muttermilch aufsaugt.
Eine andere Parole kommt ihm in Erinnerung: Der Fluss schläft, aber der Feind schläft nie. Bei genauerer Betrachtung ein Unsinn. Ein Fluss schläft nicht. Er ist immer in Bewegung, sonst wäre er kein Fluss, sondern ein Tümpel. Diese vermeintliche Weisheit der Alten – weit kann es damit nicht her sein. Inzwischen ist er selbst alt, da braucht er keine fremden Scharfsinnigkeiten mehr. Wenn er in seinem Alter noch keine Lebensweisheit erworben hat, wird das auch nichts mehr.
Obwohl er so viel von Volk-Partei-Staat gehört hat, dass es für ein Leben reichen sollte, lassen sich diese Phrasen nur schwer verscheuchen. Kaum spürt er den Schmerz im Knie, hört er den albanischen Ausspruch Wer leidet, der lernt. Nun ja, er hat auch wirklich gelernt, sein rechtes Knie weniger zu belasten und keine abrupten Drehbewegungen zu machen.
Beim Aufsperren der Haustür streift sein Blick das Klingelschild. Die deutsch, türkisch oder slawisch anmutenden Namen sind für ihn die Definition von Europa. Selbst sieht sich Zerai aber keineswegs als Europäer. Es ist komplexer.
Nachdem er dem Albanertum, das für ihn nur mehr aus Volk-Partei-Staat bestand, abgeschworen hat, begann Zerai, sich als Enklave zu betrachten. Außer dem Vatikan, San Marino oder Kaliningrad gibt es in seiner Wirklichkeit noch eine Enklave namens Illir Zerai. Illir Zerai liegt in Wien.
Doch Illir Zerai ist nicht irgendeine Enklave. Da die Stadt Wien selbst eine Enklave in Niederösterreich ist, handelt es sich bei Illir Zerai genau genommen um eine Doppelenklave. Diese Doppelenklave befindet sich hinter Tür 2, Quellenstraße 63.
4
Anscheinend hat der Mann niemanden, sagt Agnes Wallner, die gegenüber auf Tür 3 in der Quellenstraße 63 wohnt.
Dass er da drüben allein wohnt, wissen wir ja dank deiner Neugier. Aber woher willst du wissen, dass er keine Verwandten hat? fragt Gernot Waibl.
Ich hab noch nie bemerkt, dass jemand drüben gewesen wäre. Und er kommt doch eher ungepflegt daher.
Und weil sich niemand um ihn kümmert, fühlst du dich gleich verpflichtet, die Tochterrolle zu übernehmen?
Du könntest ja auch in die Sohnesrolle schlüpfen.
Beim Wort Sohnesrolle reißt sie die Augen übertrieben auf. Ach was, sagt sie, ich kann doch nicht einfach zusehen, wenn ein alter Mann neben uns krank ist.
Will er denn, dass du ihm hilfst? Will er sich von dir bemuttern lassen? Tochter, Sohn, Mutter, bald ersetzen wir ihm die ganze Familie, lacht Gernot. Also, du hast ein paar Flecken gesehen. Was hat er?
Naja –
Herumdrucksen nennt er das, wenn sie nicht gleich eine Antwort findet. Drucks doch nicht so herum – sie weiß, dass das bald kommen wird, deshalb beeilt sie sich: Im Vorbeigehen kann ich das jetzt nicht so genau beurteilen, aber es sah mir ganz nach Scabies aus.
Gernot blickt sie ratlos an.
Die Krätze halt.
Ein Glucksen, dann lacht er los.
Das ist nicht witzig, Gernot. Das kann extrem unangenehm werden, wenn er sich das nicht anschauen lässt.
Also hast du ihm gesagt, dass er zum Doktor gehen soll. Und was hat er darauf gesagt?
Naja –
Sie ärgert sich über seine hochgezogenen Augenbrauen und sein Nicken, das ihr zu verstehen geben soll, dass er nicht den Rest seines Feierabends über ihr neues Pflegeprojekt reden will.
Er war eher abwehrend. Aber ich weiß halt nicht, wie gut sein Deutsch ist. Ob er mich richtig verstanden hat.
Woher ist der überhaupt? Hast du das mal rausgefunden?
Irgendwo Balkan, was weiß ich.
Wenn er sich nicht helfen lassen will, würde ich die Sache für erledigt erklären. Das ist einfach die Euphorie der Jungärztin, die dir keine Ruhe lässt. In ein paar Jahren bist du genauso abgebrüht wie deine Kollegen, da läufst du an solchen Leuten vorbei.
Ja, eh. Trotzdem kann ich das nicht einfach ignorieren. Der Mann wohnt direkt neben uns. Man muss doch aufeinander schauen.
5
Der Mann auf dem Balkon gegenüber hat weiter nichts als eine kurze Hose an. Sein braungebrannter Oberkörper glänzt in der Sonne, er hat ihn wohl eingeölt. Stolz trägt er seinen Brustkorb vor sich her, obwohl er das sogenannte beste Alter längst hinter sich gelassen hat. Von seinem Wohnzimmerfenster aus kann Illir Zerai erkennen, dass die Haut des Mannes bereits schlaff und ledern ist.
Für einen Augenblick bleibt der Mann stehen und sieht zu Zerai herüber. Nur kurz, aber Zerai entgeht der prüfende Blick nicht. Ja, ich bin da und ich gaffe zurück. Und ja, ich habe dich gesehen, sagt sich Zerai, ich weiß, dass du auch heute wieder deine Turnübungen am Balkon abhältst. Ob der Nachbar Zerais hochgezogene Mundwinkel gesehen hat? Ahnt er, dass Zerai seine Gockelhaftigkeit lächerlich findet? Armselig. Letztlich auch traurig, wie der Alte dort herumstolziert an diesem Spätsommermorgen.
Da kommt ihm der Gedanke, dass der Nachbar für ihn die gleiche Bezeichnung benützen könnte. Während Illir Zerai aus dem geöffneten Fenster zum Nachbarn hinüberblickt, sieht der Nachbar vom Balkon aus zu ihm, Zerai, und denkt in diesem Moment vermutlich genauso: Da drüben steht er, der arme Teufel vom Nachbarhaus.
Als der Mann am Balkon mit den Kniebeugen beginnt, befindet Zerai, dass er genug gelüftet hat. Während er das Fenster schließt, murmelt er mit tonloser Stimme: Wir müssen uns stählen, um die Kraft des Proletariats unbezwingbar zu machen. Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, erschrickt er.
Er dachte, die Parolen und Losungen für immer abgeschüttelt zu haben. Er dachte, die Sätze des Diktators wären als leere Worthülsen an einer entlegenen Stelle seines Gehirns wie in einem Endlager deponiert. Aber anscheinend wollen diese Sätze jetzt, fast vierzig Jahre, nachdem er sie abgelegt hat, nicht länger verborgen bleiben. So viele Jahre ist es her, dass er die Arbeit beim staatlichen Radiosender an den Nagel gehängt hat und geflüchtet ist. Und jetzt auf einmal sind die Worte des Genossen Enver Hoxha, Führer der Partei der Arbeit und des albanischen Volkes, wieder da. Aber Wir müssen uns stählen, um die Kraft des Proletariats unbezwingbar zu machen ist nicht der einzige Satz Hoxhas, der wieder da ist. Mit einem Mal kann er jeden beliebigen Satz des Genossen aus seiner Erinnerung hervorholen.
Er weiß, dass er die Losungen damals als inhaltsleer abgetan hat. Abgeschmackte Maximen waren Alltag, nichts, worüber man sich den Kopf zerbrach, geschweige denn, was man sich merken musste. Dennoch kommt ihm, als er im Spülbecken eine leere Milchpackung mit dem Bild einer Kuh sieht, die Parole in den Sinn: Die Albaner essen lieber Gras, als die Ideale der Revolution zu verraten.
Illir Zerai nimmt die Gratiszeitung zur Hand, die er am Heimweg von seinem Einkauf mitgenommen hat. Auf dem Titelblatt ist eine Raumfähre abgebildet. Schon ist ein passender Satz Hoxhas zur Stelle: Die Supermächte haben das Weltall mit Spionagesatelliten, mit Raketen und Antiraketen vollgestopft, die mit todbringenden Strahlen- und Lasersystemen, mit Nachrichtenapparaturen und so weiter ausgestattet sind; ein echtes Chaos, das die große Gefahr des Zusammenstoßes birgt.
Er erinnert sich, dass dies einer der Sätze war, der eine Gewissheit in ihn gepflanzt hat: die Gewissheit, dass Genosse Enver Hoxha, Führer der Partei der Arbeit und des albanischen Volkes, der gut informierte Kenner der politischen Weltentwicklung Enver Hoxha, eindeutig Gefahr lief, eine Grenze zu erreichen.
Die eines Tages plötzlich überschritten war. Wobei Zerai zu der Überzeugung gelangte, die alles andere verdrängte: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Und wenig später begriff er: Illir Zerais Stimme war es, die die Reden des Wahnsinnigen mittels Radiowellen in die Welt sandte.
Wem konnte Zerai seine Entdeckung mitteilen? Wenn er sie jemandem anvertraute, würde er mit dem nächstbesten Lastwagen in den Norden gekarrt werden, nach Fushëbar oder gleich nach Burrel. Umerziehung durch produktive Arbeit würde sein Schicksal besiegeln.
Eines Tages konnte er nicht mehr. Er lag neben Jetmira und sagte mit leiser Stimme, als schwöre er ihr seine ewige Liebe: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Entsetzt klammerte sich Jetmira an ihn, klammerte sich an das gute Leben. In ihrem Gesicht die Angst, als würden sie mit ihren eleganten Anzügen plötzlich mitten im Schlafzimmer der Zerais stehen. Die Sigurimi brauchte nicht zu klopfen.
Das darfst du nie wieder sagen, hast du mich gehört. Das musst du in dir verstecken.
Sie griff an seine Stirn: Aber nicht hier, das darf nicht in deinem Kopf bleiben. Du musst eine andere Stelle finden, wo du es verstecken kannst.
Sie strich ihm mit der Hand über die Brust, über Ober- und Unterarme.
Unter die Haut müsste ich diese Entdeckung verbannen, war sein erster Gedanke.
Die Augen des vëzhgues, des Beobachters. Er saß meist hinter der Glasscheibe, während Zerai die Sätze ins Mikrofon sprach. Zef Drini, Spaßvogel Zef, der immer den Eindruck vermittelte, als mache er seine Arbeit nur, weil sich sonst niemand dafür finden lasse. Aber dann kam der neue Beobachter. Spiro Jaku, stellte er sich vor. Die Tontechnikerin flüsterte Zerai zu: Weißt du, was aus Zef geworden ist?
Zef war von einem Tag auf den anderen weg. Vom Erdboden verschwunden. Und nun dieser Spiro Jaku, der Zerai von Anfang an verdächtig erschien. Er saß mit einer Miene hinter der Scheibe, als verbüße er eine Strafe: Weil die letzten Informationen, die du uns geliefert hast, wertlos waren, musst du jetzt den Beobachter machen. Wir lassen den Radiomann eine mehrseitige Rede des Genossen Enver Hoxha einsprechen und jede Zeile lassen wir dich auf ihre Richtigkeit überprüfen. Und wehe, du bringst uns noch einmal so belanglose Informationen, dann bist du weg vom Fenster.
Panik kroch Zerais Rücken hoch: War jemand zum Direktor gelaufen, hatte man ihn angeschwärzt? Er ging mögliche Verfehlungen durch. Der Witz über die Mondrakete und die Diktatur des Proletariats? Harmlos. Aber hatte jemand Böses im Sinn, konnte er selbst so eine Kleinigkeit zum Verrat an der Partei aufbauschen. Schon ging Zerai Namen durch. Wer hatte den Witz gehört? Wer könnte ihm feindlich gesinnt sein?
Zerai las die deutsche Übersetzung von Hoxhas Rede, verhaspelte sich immer wieder, da er an den kleinsten Bewegungen des Beobachters zu erkennen glaubte, dass dieser auf etwas aufmerksam geworden sei. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Unprofessionalität, darüber, wie leicht er sich aus dem Konzept bringen ließ: ein Blick oder eine Geste genügten. Aus dem Augenwinkel registrierte er aber jede Regung, und nach jeder Bewegung, die er hinter der Scheibe ausmachen konnte, ging Zerais Gehirn schnell noch einmal durch, was er zuvor gesagt hatte: Gab es eine falsche Wendung, einen Versprecher, der eine Mehrdeutigkeit zuließ?
Manchmal glaubte er, ein wissendes Leuchten in den Augen des Beobachters zu erkennen. Das waren die Momente, in denen er schnell den Blick abwandte. Weil er aber wusste, wie wichtig es war, dem forschenden Blick der Partei standzuhalten, bemühte er sich, das Abwenden zwanglos erscheinen zu lassen. Was ihm in dieser Situation nicht weiter schwerfiel. Er musste weder die Reinlichkeit seiner Fingernägel kontrollieren noch sich vergewissern, ob seine Schnürsenkel aufgegangen waren – es reichte, sich auf den vor ihm liegenden Text zu konzentrieren:
Im Verlauf seiner Existenz hatte das albanische Volk unter Kriegen schwer zu leiden, die zum Schaden seiner Freiheit, seiner territorialen Integrität und nationalen Unabhängigkeit geführt wurden. Wir Albaner als Volk, als Partei, als Staat haben im Kampf um unsere Integrität, Freiheit, Unabhängigkeit, Kultur und eigene Existenz die Taktiken unserer äußeren und inneren Feinde zu verstehen gelernt, wir haben gelernt, ihre Ziele, Pläne und Verschwörungen zu lesen. Auf dieser Grundlage haben wir, das Volk der Adlersöhne, eigene Taktiken des Widerstands entwickelt, so endete die Rede des Genossen Enver Hoxha.
Illir Zerai gab der Tontechnikerin ein Zeichen. Das Aufnahmelämpchen erlosch.
Er drehte sich zum Beobachter und sah, wie dieser ihn angrinste. Zerai senkte den Blick, der auf seine abgetretenen Schuhe fiel – und mit einem Mal war ihm das herablassende Auftreten dieses Spitzels unerträglich.
Mit herausforderndem Lächeln wandte er sich an Spiro Jaku: Ein weiteres Mal hat Genosse Enver Hoxha den Nagel auf den Kopf getroffen.
Spiro Jaku sah ihn mit erprobtem Blick an: Als würde er hinter Zerais Augen blicken, wo er dessen wahre Gedanken lesen könnte. Doch dieser Spitzel hatte keine Ahnung von Illir Zerais eigenen Taktiken des Widerstands.