Du bist es vielleicht

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Du bist es vielleicht
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Felix Scharlau lebt als Gagschreiber, Autor und Journalist in Köln. Er war lange Jahre Redakteur beim Kulturmagazin »Intro«. Heute ist er unter anderem Hauptautor für die Social-Media-Kanäle der ZDF heute-show. 2013 erschien Scharlaus Debütroman »Fünfhunderteins« – eine »ergreifende Satire auf jungmännliche Angeberei« (»Junge Welt«).

Danke für all eure Unterstützung: Aydo Abay, Elena Laura, Jonas Engelmann & alle bei Ventil, Axel Prahl, Sufjan Stevens (dem ich eine Metapher geklaut habe), Linus Volkmann, Daniel Wichmann

1. Auflage Oktober 2019

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz, 2019

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher

Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95575-117-3

eISBN 978-3-95575-605-5

Lektorat: Jonas Engelmann

Layout und Satz: Oliver Schmitt

Druck und Bindung: cpi books

Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

Für Katrin

It took thirteen beaches to find one empty. Lana del Rey

Inhalt

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

EPILOG

PROLOG

»Es geht los!«

Die Stimme des pausbäckigen Mädchens überschlug sich. Mit offenem Mund starrte das vielleicht elfjährige Kind die steile Dorfstraße hinauf. Tatsächlich, auf dem Hügelkamm tat sich etwas. Genau an der Stelle, wo die Straße rechts abknickte, aus Kreuzthal hinausführte und sich irgendwo in den hochstehenden Weizenfeldern verlor. Einzelne Rufe drangen über den heißen Asphalt herunter ins Tal. Die Feuerwehrleute, die sich oben postiert hatten, stellten ihre Bierflaschen ab. Manche drückten Passanten etwas in die Hand. Wahrscheinlich angebissene Steakbrötchen.

Walter Tripke beugte sich zu Timo, der im Buggy schlief. Sein Enkel sollte miterleben, was jetzt geschah. Timo zuckte. Doch er wurde nicht wach. Ein Wunder, denn neben ihnen schrie das Mädchen nun wieder grell.

»Jesses, es kommt! Da! Leute, hört doch!«

Tatsächlich quietschten dort oben Bremsen hinter der Fachwerkhausreihe aus dem 18. Jahrhundert. Eine Hydraulik ächzte. Dann pfiff sie in immer kürzer werdenden Intervallen wie ein hyperventilierender Western-Zug. Gleich sah man den LKW. Und auf ihm den Anlass dieses sommerlichen Volksauflaufs. Ein achtzehn Meter langes, umgebautes Frachtschiff, das bald in Millimeterarbeit den Berg herunterkäme, als sei Noahs Sintflut überraschend ausgeblieben. Heute Abend würde es fest vertäut im Gustlowsee hinter ihnen liegen.

Walter Tripke hatte lange um das Hausboot gerungen. Mit dem zwielichtigen Verkäufer. Mit Koschwitz, dem wankelmütigen Idioten von Bürgermeister. Und mit sich selbst.

In Tripkes Arche würde es keine zwei geben von jeder Sorte. Die Suche nach neuen Ufern war für den Frührentner vorbei.

Endlich schlug Timo die Augen auf. Sofort begann er, am Schnuller zu nuckeln und sich das Ohrläppchen zu kneten. In dem Moment, als er den Kopf hob und blinzelnd zur Anhöhe hinauf sah, schob sich das Führerhaus eines Lastzugs um die Hausecke. Dann gab Schreibwaren Kaiser den Blick auf einen panzerartigen, von Algen überwucherten Bug frei. Einen Moment verharrte das Schiff regungslos über Kreuzthal, als wolle es sich einen ersten Überblick verschaffen. Timo gluckste vor Begeisterung. Das pausbäckige Mädchen schrie den Berg an.

»JESSES!«

Endlich reagierte auch Walter Tripke. Er hob seine Super-8-Kamera. Argwöhnisch beäugt von all den Kreuzthalern, die den ganzen Morgen noch kein Wort an ihn gerichtet hatten. Mit der Nasenspitze betätigte Tripke den roten Aufnahmeknopf.

Die Kamera fing an zu surren.

Tag 267 seit dem Unfall. Der erste, an dem Walter Tripke nicht daran denken musste, dass ihm eine hydraulische Presse den linken Arm abgetrennt hatte. In dem geringen Maß, in dem er das Gefühl noch empfinden konnte, war er heute glücklich. Doch schon morgen würde der 17. Juli 1977 nicht mehr sein als ein Tag, der in der Vergangenheit lag.

Wie eine Eule stand Timo Tripke vor dem Regal seines Arbeitszimmers. Mit seitlich abgeknicktem Kopf ging er die handgeschriebenen Titel der Kassettenhüllen durch, die dort zu Dutzenden nebeneinander standen. »Erschließen literarischer Texte 2«, »Alltag in der DDR: Leben im ›real existierenden Sozialismus‹«, »Diktate Klasse 6« las er in seiner eigenen krakeligen Handschrift, die sich kaum geändert hatte in den letzten Jahren. Wie überhaupt sehr wenig sich geändert hatte am Rande des Wohngebiets von Holden.

Zwei Räume weiter erklang die Titelmusik einer bekannten Fernseh-Krimireihe. Er musste sich beeilen. Nicht für den sonntäglichen Krimi. Den sah Bernadette schon seit Jahren lieber alleine. Seit sie sich wegen der Leistung eines Hauptdarstellers so heftig gestritten hatten, dass sie fortan ohne ihn schaute und lieber im Netz mit Gleichgesinnten über das Gesehene chattete. Online, wenn Tripke das schon hörte. Vermutlich würde er bald in einen Käfig kommen als letzter Mensch ohne Profil in einem sozialen Netzwerk. Doch solange Sterbende noch an ihre Kinder oder Haustiere dachten anstatt den cleversten Kommentar zu einem Fernsehfilm, wollte Timo Tripke lieber offline bleiben.

Sein Netz befand sich in der echten Welt. Auch wenn es sehr klein war.

Doch in dieser, der echten Welt, war er wieder viel zu spät dran mit der Arbeit. Sonntag, Viertel nach acht, das hieß, Timo Tripke hatte das Wochenende wieder zu lange in den Armen gewiegt. Bis ungefähr halb elf würde er jetzt noch brauchen, um das Unterrichtsmaterial für die kommende Woche zusammenzustellen.

Er hatte sich den Ablauf angewöhnt und rückte keinen Millimeter mehr davon ab.

Sonntag Abend die Unterrichtsvorbereitung. Und unter der Woche erst die Korrektur von Klassenarbeiten. So blieb ihm erspart, unmittelbar an seine Freizeit angrenzend vom schlimmsten Teil des Arbeitsalltags geplagt zu werden. Von dem, was Schülergehirne zu Papier brachten.

So sehr Jugendlichkeit einen gesellschaftlichen Fetisch darstellte, das analytische Denken von Jugendlichen konnte nur vermissen, wer lange nicht mehr damit konfrontiert worden war. Schülergehirne waren wie Baustellen, die man zur eigenen Sicherheit besser nicht betrat. Mit jedem neuen Schultag verblasste der positive Eindruck, den er zunächst von den meisten Schülern bekam, ein bisschen mehr. Am Ende jedes Schuljahres saßen vor Timo Tripke nur noch rosige Idioten, die alles taten, sich das Gegenteil einzureden.

 

Und diese Idioten konnten grausam sein, so grausam. Auch wenn sie es nicht merkten und vielleicht nicht einmal etwas dafür konnten. Wie motiviert er damals sein Referendariat begonnen hatte. Ein Team auf Augenhöhe bilden. Denkmuster einreißen. Hierarchien sowieso. Das hatte er gewollt. Seine Schüler wertschätzen. Sich um sie bemühen, sie spüren. Herausfinden, wie sie dachten. Was sie bewegte und interessierte. Vielleicht wollten sie dann auch wissen, was ihm gefiel. Gemeinsame Interessen konnten Brücken schlagen, alles zwischen ihnen erleichtern.

Doch es war anders gekommen. Als die wenigen »coolen« Lehrer am Riesenhuber galten längst andere. Tripkes Sprüche, seine vereinzelten Lernspiele, die Ausflüge, sie waren nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Vielleicht weil die Schüler wirklich so blöd waren und nicht verstanden, was sie an ihm hatten. Vielleicht aber auch, weil er einfach nicht cool war. Er wollte die Wahrheit lieber nicht kennen. Sie waren sie und er war er. Und daran würde sich nichts ändern.

Keinen seiner Schüler hatte er jemals deswegen aufgegeben. Aber sich als Lehrer sehr wohl. Das konnte ihm niemand verbieten.

Endlich fand er »Von der Dolchstoßlegende zur Krise der Weimarer Republik« im Regal. Die Kassette war falsch einsortiert worden, deshalb hatte er sie minutenlang übersehen. Timo Tripke kroch unter den Tisch, schaltete den Stromverteiler an und sah dabei zu, wie der alte Rechner ratternd hochfuhr. Aus dem Hintergrund drangen hölzerne Dialogfetzen ins Arbeitszimmer, als probe irgendwo im Haus eine Laienschauspielgruppe. Der Computer verarbeitete Systemupdates. Zumindest bei ihm gab es etwas Neues.

Timo Tripke starrte durch das Fenster jenseits des Monitors und hinein in das schwarze Loch, das die ungenutzte Rasenfläche hinter dem Haus Nacht für Nacht bildete. Gut möglich, dass er heute wieder ins Bett gehen würde, ohne Bernadette vorher noch einmal über den Weg zu laufen.

Zufall konnte das nicht mehr sein.

Das Gefühl, das die Menschen überkam, wenn sie den Riesenhuber vor sich aufragen sahen, war traditionsgemäß Unbehagen. Nicht angsterfülltes Unbehagen. Nicht die Art, die sich des Körpers bemächtigte, sobald die transsylvanische Passstraße den Blick auf das Schloss von Vlad dem Pfähler freigab.

Das Riesenhuber-Unbehagen speiste sich aus Verwunderung und ganz viel Mitleid. In diesem Betonklotz mit der Architektur eines Kernreaktors wurden Schüler unterrichtet? Ausgerechnet hier bereiteten sich die künftigen Säulen eines im Morast versinkenden Rentensystems auf ihren Einsatz vor?

Der Gedanke wirkte undenkbar. Und doch musste man ihn denken. Denn er war real.

Das Konrad-Zuse-Gymnasium mit dem Rufnamen Riesenhuber änderte sein Aussehen mit den Jahreszeiten. Wenn im Winter der Nordwind wochenlang um den fünfstöckigen Flachdachbau mit dem Handy-Sendemasten in der Mitte strich, wurde das höchste Gebäude der Umgebung von Tag zu Tag unscheinbarer. Die marode Front mit den rosa Streifen und den grasgrünen Metallfensterläden schimmerte dann nur noch blass. Dazu nebelte der Schornstein den Riesenhuber ein, als wolle er sein vernarbtes Äußeres vor der Welt verbergen. Im Sommer wirkte die Schule hingegen divenhaft extrovertiert. Die Fenster froren dann natürlich nicht mehr von innen an, sondern mussten wegen der Hitze weit aufgerissen werden. Das Gebäude schrie seine Hässlichkeit in die Welt hinaus.

Timo Tripke bog auf den Parkplatz ein und brachte den Wagen weit hinten, an der schmalen Seite des asphaltierten Rechtecks, zum Stehen. Direkt neben dem Fußweg, der zum Haupteingang führte. Die gute Parklücke war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er die 20 Kilometer aus Holden heute schneller zurückgelegt hatte als sonst. Er war früh dran.

Tripke fragte sich wieder einmal, warum er und die anderen Lehrer Tag für Tag woanders parkten. Warum keinerlei feste Gewohnheiten aus der täglichen PKW-Rochade herauszulesen waren. Vielleicht ging es den Kolleginnen und Kollegen wie ihm selbst. Bevor der Riesenhuber wieder die modrige Hand nach ihnen ausstreckte, sie mit seinem jahrzehntealten Atem aus Kunststoffteppichböden, abgestandener Heizungsluft und jugendlichem Schweißgeruch einnebelte, strebte jeder für sich nach einem letzten Akt freier Entscheidung. Jedes Mal woanders zu parken verhieß Vibration in einem wattierten Dasein.

Tripke schauderte. So konkret hatte er darüber noch nie nachgedacht.

Auf Platz 12 angekommen, zog er die Handbremse aggressiver an als nötig, stieg aus und knallte die Tür zu. Dann sah er sich um. Mittlerweile war er so lange an der Schule, dass er mit fast jeder Parkbucht eine Geschichte verband.

Auf 9 hatte er bei strömendem Regen unter Mithilfe eines Kollegen vor einigen Monaten den Ersatzreifen aufziehen müssen. Nagelstreich.

Auf 2, direkt hinter der Einfahrt, hatte Frau Sperber vor zwei Jahren ein Weinkrampf ereilt. Ein Neuntklässler lag mit verschränkten Armen hinter ihrem Kleinwagen und verhinderte ihre Heimfahrt PR-wirksam. Anlass: eine vermeintlich ungerechtfertigte Benotung.

Und auf 14, direkt gegenüber, hatte vor ziemlich genau einem Jahr der graue Wagen von Gymnasialprofessor Gerber gestanden.

Gerber war an jenem Dienstag nicht pünktlich zur ersten Stunde erschienen. Als Rektor Steiner der 11a eröffnete, Gerber sei aus unerfindlichen Gründen noch nicht im Haus, sie sollten sich in Stillbeschäftigung üben, erfuhr er von einem Schüler, Gerbers alter Passat stünde sehr wohl unten auf dem Lehrerparkplatz. Er habe den »Prof« eben beim Vorbeiradeln sogar hinter dem Lenkrad sitzen sehen. Möglicherweise beim Telefonieren.

Als eine neugierige Gruppe wenige Minuten später den Parkplatz erreichte, bot sich das Bild, vor dem Rektor Steiner sich immer gefürchtet hatte. Natürlich hing Gerber nicht tot hinterm Steuer. Das hier war Heiligenstedt zur Faschingszeit, nicht Detroit bei Nacht. Doch ein toter Gerber hätte vieles erleichtert.

Gymnasialprofessor Gerber saß auf dem Fahrersitz seines Jahreswagens und schlief. In der rechten Hand hielt er eine leere Flasche Wodka. Einen Teil davon hatte er sich über das Hemd geleert. Den Rest, da musste man nicht lange rätseln, gesoffen. Im Schrittbereich, Steiner konnte seinen Blick kaum abwenden, prangte ein frischer Urinfleck auf der braunen Cordhose.

Kein untalentierter Regisseur hätte das Stück über einen gestrauchelten Beamten-Alkoholiker lächerlicher inszeniert, als Gerber es real aufführte.

Das hier, da war sich Steiner sicher, war das Ende der alten Zeitrechnung. Der Sargnagel für die moralische Integrität des Lehrkörpers. Jetzt galt es, pädagogisch wieder unten anzufangen. Erster Stock.

Und es war natürlich auch das Ende von Gymnasialprofessor Gerber. Er hatte sich endgültig zwischen überhöhten Ansprüchen an sich selbst und mangelndem Selbstbewusstsein zerrieben. Auf dem Fahrersitz lagen nur noch Reste von ihm.

Timo Tripke war die Szene vielfach geschildert worden. Natürlich jedes Mal anders. Trotzdem hatte Tripke den letzten Eindruck, den Gerber am Riesenhuber hinterlassen hatte, so klar vor Augen, als sei er selbst dabei gewesen. Dieser verdammte Parkplatz glich einem Mahnmal.

Auf dem Weg zum Hauptgebäude überlegte er, ob er vielleicht den ganzen Tag Sekunden zählen sollte. Solange, bis er wieder ins Auto steigen durfte. Kurze Zeit schien ihm der Gedanke genial.

»245, 246 … ›Hi, Sherlock!‹… 2112, 2113 … ›War denn überhaupt irgendwas sozialistisch am Nationalsozialismus?‹ … 5121, 5122 … ›Das müsste mal jemand für den Elternabend nächsten Monat auf die Agenda setzen‹ … 13232, 13233 … ›Ach, Hühnchen ist alle?‹ … 17293, 17294 … ›Hausaufgabe bis Dienstag‹ … 22937, 22938 … ›Ihnen auch, tschüss!‹«

Perfekt, das würde gehen.

Aber nicht jetzt.

Morgen. Morgen würde er es mal versuchen. Heute brachte er die Energie dafür noch nicht auf. Es war doch erst Montag.

»Hi, Sherlock!«

Sherlock saß in ihrem verglasten, von innen mit zahlreichen Plakaten behängten Hausmeister-Kabuff, als Timo Tripke den Riesenhuber betrat. Zu sehen war nur, dass sie in einen Laptop tippte. Sherlock trug wieder ihren dunkelblauen Overall mit den großen Taschen, aus dem sie ihr Werkzeug zog wie der Zauberer seine Kaninchen.

»Der Herr Tripke!«, krächzte sie, ohne aufzublicken. Es war die belegte Stimme einer Frau, die seit langem nicht mehr geredet hatte. Tripke war stehengeblieben und beugte sich zum kleinen Bedienspalt hinunter.

»Danke der Nachfrage, Sherlock! Mein Wochenende war, es war, na, ganz okay. Und Ihres?«

Hypnotisch klackerten die Tasten weiter. Zeichenreihe um Zeichenreihe schob sich nach oben, über das Bildschirmende hinaus und ins Nichts. Dann war Sherlock fertig. Oder zumindest genervt genug, um eine Pause einzulegen. Sie klappte den Rechner zu und drehte sich gleichgültig zu Tripke um. Dabei nahm sie auch endlich die obligatorischen Ohrstöpsel ab, die sie trug, um bei ihrer Arbeit nicht angesprochen zu werden. Tripke wusste, dass Sherlock sich den Stecker meist nur lose in die Hosentasche schob, ohne die Kopfhörer irgendwo anzuklinken. So bekam sie ihre Ruhe.

»Wochenende? Eben dachte ich noch, wir hätten Sonntag.«

Timo Tripke lachte. Sherlock nicht.

»Was machen Sie da eigentlich die ganze Zeit am Rechner?«

»Es ist keine Lüge, wenn man die Wahrheit für sich behält.«

»Wittgenstein?«

»Mr. Spock.«

Sherlock öffnete das Notebook wieder und machte weiter sein Ding. Was sein, vielmehr ihr Ding exakt war, wusste niemand so genau. Vordergründig war Heike Stiefmutter, Rufname Sherlock, Hausmeisterin am Riesenhuber. Ihre Alltagsmission war klar. In der Turnhalle wischte Sherlock Blut oder Kotze weg. Sie wechselte kaputte Neonröhren. Erneuerte zerstörte Türen. Aus ihrem Kabuff, der Baker Street, verkaufte sie, genau: Backwaren. Und sie entfernte Schadsoftware von all den Lehrer-PCs, auf denen wieder jemand die falschen Pornoseiten besucht hatte, nachdem die Kollegen gegangen waren.

Was sie sonst in ihrer Kammer und dort vornehmlich am Computer tat, blieb rätselhaft. Sherlock schien immer hier zu sein. Doch weder Schüler noch Lehrer noch Putzhilfen noch Köche wussten, was in ihr vorging.

Heike Stiefmutters Geist war eine emotionslose, sauber getaktete Maschine. Hinter ihrer menschenfeindlichen Art hatte sich ein kleines Genie verbarrikadiert. Keines, dem man sich im Alltag nähern konnte. Smalltalk, Etikette, Grußformeln prallten am Schalter der Baker Street ab.

Dass Sherlock am Riesenhuber, nur am Riesenhuber, arbeitete, unterstrich, wie konsequent sie den üblichen sozialen Umgangsformen Stöcke in die Speichen warf. Jemand wie sie machte keine Karriere. Zumindest nicht offline.

Als Timo Tripke am Riesenhuber angefangen hatte, musste jedoch etwas unplanmäßig verlaufen sein in Sherlocks Regelwerk, das vorgab, wie jeder an ihr zu zerschellen hatte. Tripkes Verhältnis zu ihr war von Anfang an besser gewesen als das aller anderen. Ihn hatte sie gegrüßt, wenn auch nicht immer. Mit ihm redete sie, wenn auch nur manchmal.

Als ihm seine exklusive Verbindung zu Sherlock bewusst geworden war, hatte er sich geschmeichelt gefühlt. So wie jeder, der glaubte, Menschen für sich einnehmen zu können.

Die Wahrheit über ihr Verhältnis war jedoch eine andere. Irgendwann hatte es Timo Tripke gedämmert, dass sie vermutlich schon lange vor ihm begriffen hatte, wie ähnlich sie sich waren.

Der kleine Timo war einmal ein hübsches Kind gewesen. Noch immer hatte er professionelle Fotografien aus der Zeit, die das bestätigten. Doch irgendwann hatte er begonnen, sich zu verformen. Er musste ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein, als er es das erste Mal bemerkte. Während Timo nachts schlief, schien jemand sein Gesicht neu zu modellieren. Seine Physiognomie verzerrte sich. Jeder morgendliche Blick in den Spiegel zeigte, dass sich im Vergleich zum Vorabend eine Kleinigkeit zum Schlechteren verändert hatte.

 

Als Kind hatte Timos Gesicht rundlich und völlig normal ausgehen. Als junger Erwachsener glich sein Kopf von vorne gesehen einer Acht. Sein Schädel war über die Jahre länger und länger geworden, die Backen dabei breit geblieben. An den Schläfen dellte sich sein Kopf nun nach innen, was den Blick seiner hellblauen Augen stechender werden ließ, als er ohnehin schon war. Die Stirn war lang wie eine Litfaßsäule. Das ohnehin dünne Haar zog sich weiter zurück. Schon mit 21 wirkte er wie ein junggebliebener 35-Jähriger, dessen Gesicht aus dem Lot geraten war. Der süße, telegene Junge von einst war Geschichte geworden. Fast Legende.

Pubertät. Niemals ging sie so ganz. Und wenn doch, dachte Tripke, dann war man nicht richtig dabei gewesen.

Er ahnte, Sherlock erlebte es für sich wohl ähnlich. Kniff man die Augen zusammen, hatte sie ein reizendes Gesicht. Niedliche, etwas zu große Ohren, eine unzeitgemäße Pony-Kurzhaarfrisur und einen rosigen Teint. Doch darauf konnten die wenigsten achten. Akne-Narben zogen sich, von den Nasenflügeln angefangen, über die Wangen bis zum Hals. Die Hautkrankheit hatte dem hübschen Mädchen die einsame Frau weisgesagt. Ihr Blick verriet, dass ihr Selbstbewusstsein unter der Erfahrung unwiederbringlich gelitten hatte.

Sherlock und Tripke waren Versehrte, die die Pubertät überlebt hatten. Deren Körper die Vergangenheit aber so plastisch nacherzählten wie mittelalterliche Wandteppiche.

Stiefmutters Spitzname Sherlock war vor diesem Hintergrund weniger ehrfurchtsvoll gemeint, als es erscheinen mochte. Er unterstrich die offensichtliche Entsexualisierung, statt das Genialische an ihr zu feiern.

Sherlock und Tripke waren zwei von derselben Sorte. Sie ahnten es instinktiv. Mögliche Allianzen schienen jedoch sinnlos. Das aber würde sich bald ändern.