Czytaj książkę: «Die Gerissene»

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EVA SCHÖRKHUBER

DIE GERISSENE

ROMAN


Ich lasse mein Wort dort, wo ich es begonnen habe.

Die Welt ist eine helle Dunkelheit.

Sprichwörter aus Mali

Inhalt

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

EPILOG

PROLOG

So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Höhen- und Tiefflüge es auch vollzogen haben mag, der Sternenhimmel ist mir nie die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege gewesen. Das Licht der Sterne hat meine Wege stets in jenes blau gewandete Zwielicht gehüllt, in dem der Horizont verblasst und sich nicht mehr von dem Wogen, dem Auf und Ab einer irdischen Existenz unterscheiden lässt. Ich habe zwar das eine oder andere Mal nach den Sternen gegriffen, ja, auch ich wollte Teil sein der Gestirne, die eine leuchtende Krone bilden, doch habe ich nie davon absehen können, dass der Großteil unseres Universums aus unsichtbarer, dunkler Materie besteht. Ihr ist es zu verdanken, dass sich alles in seinen Umlaufbahnen bewegt, dass alles um irgendetwas anderes kreist.

Wo viel Licht ist, ist noch mehr Schatten, ein kompakter, undurchdringlicher Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Das Universum ist eine riesige Saite, die in die Existenz hinein- und hinausschwingt, sich ausdehnt und dabei Klänge erzeugt, die einmal sagenhaft harmonisch, einmal ausgesprochen disharmonisch erscheinen. In Wahrheit handelt es sich um eine furchtbare Kakophonie, um einen wüsten und elementaren Klang, der auf nichts anderem als auf Zufall beruht – so wie das Leben, so wie mein Leben, das sich, wie das gesamte Universum, in der Einsamkeit eines einzigen Teilchens begründet. Durch Zufall ausgeschlossen aus dem großen Gleichgewicht der Energie hat es sich aufgemacht, hat es sich auf die Suche begeben nach einer Bahn, in der es kreisen kann. Ein überschüssiges Elektron, ein freies Radikal, ein aus einer sozialen Umlaufbahn herausgesprengtes Individuum, ich kann es nennen, wie ich will. Zu allen Zeiten, an allen Orten haben Teilchen dieser Art, manche würden bestimmt auch sagen: dieser Unart, den gewohnten Lauf der Dinge verändert, haben neue Bahnen eröffnet oder etwas Neues in Umlauf gebracht.

Schon vor meiner Geburt bin ich gewissermaßen ein Anstoß dafür gewesen, die gewohnten Bahnen zu verlassen. Meine Großeltern hatten miterlebt, wie es ist, wenn sich der Lauf der Dinge verändert. Auf den Straßen ihrer Stadt hatten sie gemeinsam mit Tausenden Menschen das Neue für sich in Anspruch genommen und hatten es so lange verteidigt, bis die Panzer kamen und alles niederwalzten. Alles, das sich im Frühlingswind geregt hatte, wurde planiert und wieder in die gewohnten Bahnen gelenkt, alles, bis auf die Erfahrung, gemeinsam etwas in Bewegung versetzt zu haben. Diese Erfahrung saß tief in den Herzen und Köpfen der Menschen, und so konnten sich meine Großeltern nicht damit abfinden, dass ihre Kinder und Enkelkinder dort aufwachsen sollten, wo ihr Bestreben nach Veränderung niedergeschlagen worden war. Sie zogen gemeinsam jeweils mit ihren Kindern in ein Nachbarland, zuerst in eine provisorische Unterkunft auf einem Feld, dann in eine Stadt. Ihre Kinder lernten mühsam die neue Sprache und fanden, da sie niemand anderen hatten, schnell zueinander. So kam mit der Zeit auch ich ins Spiel. Ich bin schließlich Grund und Anstoß dafür gewesen, dass sich meine Eltern von ihren Eltern lösten, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sie fanden eine Anstellung in dem Schlachthof eines Dorfes, in dem sie in der Nähe des Friedhofs ein kleines Haus mit Garten anmieteten. Meine Großeltern blieben in der Stadt, schlugen sich mit Haus- und Reparaturarbeiten durch und kamen alle paar Monate auf Besuch.

In meinen ersten Jahren war ich der Augenstern meiner Eltern, der ihnen den Weg wies, hinaus in ein besseres Leben. Ich aber, ich wusste von Anfang an, dass mir die Einsamkeit jener Teilchen vorbehalten war, die den gewohnten Lauf der Dinge verändern. Genau wie sie kreiste ich um mich selbst, auf der Suche nach Bindungen, nach Verbindungen, die ich eingehen konnte, um etwas Neues in Umlauf zu bringen. Ich wollte andere für mich einnehmen, nicht um ihnen zu gefallen oder Beifall zu ernten, nein, ich wollte mich in meiner ganzen Person angenommen fühlen, ein einnehmendes Wesen nicht nur haben, sondern auch sein.

Leider muss ich sagen, dass ich in den Augen der meisten Menschen überhaupt kein einnehmendes Wesen hatte, geschweige denn war. Immer war ich etwas zu klein und etwas zu dunkel, wobei sich diese Dunkelheit nicht an physischen Merkmalen festmachen ließ. Als ich klein war, blieben wildfremde Menschen stehen, um mir über meinen kastanienbraunen Kurzhaarschopf zu streicheln und meine grasgrünen Augen zu loben, die, so meinten sie, einen besonders wachen, einen besonders intelligenten Ausdruck hätten. Tatsächlich hatten sich meine Augen längst schon auf die Suche nach jenen Stellen begeben, an denen ich die lieben Onkel und die lieben Tanten, die mir im Vorübergehen ihre zärtliche Aufmerksamkeit schenkten, schmerzhaft treffen konnte. Meine Augen glitten an ihren Gestalten entlang wie über ein festes Gewebe, aus dem sich letzten Endes doch noch ein oder zwei Fäden ziehen ließen, auf dass es seine Form und seine Fassung verliere. Und an diesen Fäden zog ich. Einer der lieben Tanten, die sich zu mir hinunterbeugte und mir die Wangen tätschelte, zerriss ich die seidenen Strümpfe. Zuerst dachte sie, es sei ein Versehen gewesen und nahm mich meiner verärgerten Mutter gegenüber in Schutz. Das sei doch nicht schlimm, meinte sie, und das könne doch passieren. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, zerriss ich auch den zweiten Strumpf, und zwar mit einer derart offensichtlichen Vorsätzlichkeit, dass die Tante mit vor hilflosem Zorn verzerrtem Gesicht aufsprang und meine Mutter anschrie, was für ein entsetzliches, was für ein verdorbenes und unmögliches Kind ich doch sei. Einem der lieben Onkel wiederum, der sich vor mich hinkniete, um mir einen Karamelllutscher zu überreichen, riss ich den Hut samt Toupet vom Kopf. Eine Schrecksekunde lang bewegte sich niemand. Wie eines der bronzenen Figurenensembles, die in manchen Städten die Straßenzüge zieren, standen wir da: ein glatzköpfiger Mann mit einem Karamelllutscher in der Hand, der vor einem Mädchen kniete, das einen karierten Hut und eine schwarze Perücke in den Fäustchen hielt. Hinter dem Mädchen die Mutter, mit offenem Mund und in die Höhe gestreckten Armen. Wären wir länger so dagestanden, wären wir bestimmt in die Kameraaufmerksamkeit vorbeischlendernder Tagestouristen geraten, sie hätten vor unserem Ensemble posiert und sich vor uns im Hintergrund abgelichtet. So weit ist es aber nicht gekommen, denn der Onkel, seiner Haarpracht beraubt, sprang auf, riss mir Hut und Toupet aus den Händen und stapfte davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Nur den Karamelllutscher warf er mir wie einen Fehdehandschuh noch vor die Füße. Ich lachte, hob ihn auf und hätte ihn mit Genugtuung verzehrt, hätte ihn mir meine Mutter nicht aus der Hand gerissen. Meine Eltern haben sich oft gegrämt wegen meiner dunklen Seite, sie haben alle möglichen pädagogischen Maßnahmen gesetzt, von unnachgiebiger Strenge bis hin zu verständnisvoller Milde hat ihr Repertoire gereicht – und versagt. Ich bin einfach nicht gut angekommen.

1. KAPITEL

Wie Mira in Marseille Mülltonnen durchwühlte und

dabei zur berühmten Modeschöpferin avancierte

So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Rückschläge ich auch hingenommen haben mag, es sind immer wieder jene hellen Momente aufgetaucht, die mich aus einer misslichen Lage befreit, die eine unglückliche Situation plötzlich in einem anderen Licht haben erscheinen lassen. Viele haben gemeint, dass ich ein Glückspilz sei, ein Sonntagskind. Davon aber kann keine Rede sein, sondern vielmehr davon, dass mich das Unglück stets begleitet hat, so wie jener kompakte und undurchdringliche Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Nur hat sich mein Unglück in manchen Momenten derart verdichtet, dass es sich, solcherart zur Potenz genommen, in Glück verwandelt hat.

Während der ersten Stunden meines Aufenthaltes in meiner ersten Hafenstadt bin ich von Missgeschicken geradezu heimgesucht worden. Dabei ist das Ankommen in dieser Stadt am Rande des Mittelmeeres äußerst vielversprechend gewesen. Am Vorplatz des Bahnhofs bin ich gestanden, zu meinen Füßen hat sich eine Kaskade aus Steinstufen ergossen, eine prächtige Einladung, hinunter in die Stadt zu steigen. Die Steinlöwen, die die Treppe flankieren, strahlten majestätisch im honiggelben Abendlicht und sprachen mir Kraft und Mut zu. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, hinunter in die Stadt. Als ich beinahe am Ende der Steintreppe angelangt war, sprachen mich zwei Männer an. Trotz des goldenen Abendlichts waren ihre Gesichter fahl, wie zwei gehetzte Tiere huschten ihre Augen hin und her. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie etwas Geld benötigten, und ich, noch ganz bewegt von dem pompösen Empfang, den diese Stadt mir hier bereitet hatte, zog meine Geldtasche hervor. Noch bevor ich das Fach mit dem Kleingeld öffnen konnte, riss mir einer der Männer die Geldtasche aus der Hand. Dann rannten beide davon, und ich stand mit leeren Händen da. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich uniformierte Menschen, mit Maschinengewehren patrouillierten sie vor dem Eingang eines Geldinstituts. Ich ging hin und erklärte ihnen mit Händen und Füßen, durchsetzt von ein paar Brocken Englisch, dass ich gerade ausgeraubt worden sei. Gelangweilt sahen sie mich an, einer zeigte mit einer ausholenden Geste auf ein Gebäude fünfzig Meter weiter. »Police«, sagte er und sah über mich hinweg. Ich ging in die Polizeistation hinein und versuchte mich dort einem Beamten gegenüber verständlich zu machen. Er sah mich an, klopfte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Wange und fragte: »Black?« – »No, white«, sagte ich, und er wollte meinen Ausweis sehen. Sein Blick sprang von meinem Pass in mein Gesicht und wieder zurück. »Très jeune«, murmelte er, und »Marseille is une ville dangerous.« Ich hätte ihm gerne erklärt, dass das nicht stimme, dass das ein Vorurteil sei, das aus den zahlreichen Mafiafilmen stamme, die in und über diese Stadt gedreht worden sind, dass ich das aus zuverlässiger Quelle hätte, von Marie und Asra nämlich, mit denen ich von Mailand bis nach Aix en Provence gefahren war, die das wissen mussten, denn schließlich haben sie lange hier gelebt. All das hätte ich dem Beamten gerne erklärt, aber mir fehlten dazu die Gesten und die Wörter auf Englisch, von Französisch ganz zu schweigen. Ich nickte, wollte aufstehen und gehen, aber da nahm er mich am Arm und meinte: »Not eighteen, tu must stay ici.« »What?«, stieß ich hervor, und er sah mich ernst an: »Tu stay ici, I will appeler your parents.« »But … but I …«, versuchte ich zu protestieren, aber da hatte er mich schon in eine Zelle geschoben und hinter mir abgeschlossen.

Da saß ich nun, in Polizeigewahrsam. Anstatt durch die Stadt zu spazieren, anstatt durch den Hafen zu streunen und das Kommen und Gehen zu beobachten, musste ich mich für die Nacht in dem kleinen kahlen Raum einrichten. Die prächtige Treppe, die sich wie eine Kaskade in die Stadt hinunterergoss, hatte mich schnurstracks ins Gefängnis geführt. Nein, auch hier war ich nicht gut angekommen, ebenso wenig wie in dem Dorf, in das meine Eltern gezogen waren auf ihrer Suche nach einem besseren Leben, die sie aber nur in den Schlachthof geführt hatte, wo sie ihre Tage mit Hilfs- und Putzarbeiten verbrachten, ihre langen Tage, die jetzt, nachdem ich abgereist war, wohl mit der bangen Hoffnung endeten, ich könnte plötzlich wieder nach Hause, ich könnte vielleicht doch wieder zurückkommen. Habe ich mich nicht auch auf den Weg gemacht, um wenn schon nicht ein besseres, so doch ein weiteres Leben zu finden? Und wo war ich gelandet, schon am Tag meiner Ankunft? In Gedanken so kratzig wie die Filzdecken auf den Zellenpritschen war ich verstrickt, als sich die Tür öffnete. Ich sprang auf in der Hoffnung, ich werde nun doch entlassen und könne hinaus, hinaus in die Stadt, hinaus in den Hafen. Die Tür aber hatte sich nicht für mich geöffnet, sondern für einen anderen Menschen, der in die Zelle trottete und auf der Pritsche mir gegenüber Platz nahm. Lang und verfilzt waren seine Haare, so wie die Haare der Leute von der Alten Mühle. Ein paar Wortfetzen stieß der Mensch zwischen den Zähnen hervor. An der Stimme erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Nach ein paar Augenblicken hob sie den Kopf, sagte »Bonsoir« und sah mich schief an. »What the fuck …«, zischte sie, nachdem ihre Augen ein, zwei Blicke lang auf meinem Gesicht geruht hatten. »T’es très jeune, qu’est tu fous ici?« – »No français«, stotterte ich, und sie fragte mich auf Englisch, was ich hier mache. Ich erzählte ihr von meinen Missgeschicken und fügte hinzu, dass die Polizei meine Eltern unter gar keinen Umständen anrufen dürfe, weil die nur darauf bestehen würden, dass ich zurückkehre in das Dorf, das tatsächlich eine uneinnehmbare Festung sei, mit seinen Wällen aus Gepflogenheiten und seinen Gräben des Misstrauens gegenüber allem, das sich nicht umstandslos den Anstands- und Alltagsmechanismen unterwerfe. »I will never go back, never«, rief ich, und die Frau legte ihre Hand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen. »You don’t have to go back, I have an idea«, sagte sie. »Tiens, here is a phone number, a French phone number from Marseille.« Ich solle einem anderen Polizeibeamten sagen, ich hätte Familie in Marseille, weshalb ich hier sei, das habe der andere Kollege leider nicht verstanden. Sollte der andere Polizist auch kein Englisch sprechen, könne sie ja für mich dolmetschen. Auf jeden Fall könne die Polizei bei der Nummer anrufen, das seien Freundinnen, die würden alles bestätigen. Aus eigener Erfahrung wisse sie, dass die Polizei hier immer froh sei darüber, keine Scherereien zu haben. »They will let you go as soon as they have the confirmation on the phone that you’ve got family here.« Ich war sprachlos vor Staunen und Dankbarkeit. Sie aber lachte nur und stellte sich vor. Stella, so heiße sie, wie Stella maris.

»Mira«, sagte ich und: »Why are you here?« Stella führte ihren Zeige- und ihren Mittelfinger an den Mund und schürzte die Lippen, als würde sie an einer Zigarette ziehen. Die Polizei habe sie auf dem Schirm, sie würde sie jedes Mal hopsnehmen, wenn sie mit ein paar Gramm unterwegs sei, dann müsse sie einige Wochen lang regelmäßig zur Kontrolle kommen. Wenn das vorbei sei, würde sie weitermachen, mit dem Rauchen und dem Verkaufen. Bis zum nächsten Mal.

Die Nacht im Gefängnis ist lang gewesen und kühl. Ich habe mich nicht überwinden können, die kratzige Filzdecke zu verwenden, also bin ich fröstelnd auf der Pritsche gelegen und habe im Halbschlaf den vorangegangenen Tagen, meiner Abreise und meinem Ankommen nach gedacht. Die Bahnfahrt nach Italien habe ich Revue passieren lassen, ich habe mich zusammengekauert im Abteil sitzen sehen, voll Angst, von jemandem angesprochen, von jemandem erkannt zu werden, voll Freude, endlich davongekommen zu sein. Vor den Fenstern ist die Landschaft vorbeigezogen und hat sich zu falten begonnen. Die leuchtenden Berggipfel und die dunklen Täler haben mich träumen lassen von den Höhen und Tiefen, die ich durchwandern, von all dem Licht, in dem ich stehen würde, und von den großen Schatten, die auf jene fielen, die versuchten, mich aufzuhalten. Ich habe an Mailand gedacht, an mein zielloses Gehen durch die Stadt, die zu groß, zu laut für mich war, an das kleine Café, in dem ich Espresso getrunken und Asra kennengelernt habe. Asra mit den dunklen Augen und der roten Jacke, die mich auf Englisch angesprochen und mir schließlich vorgeschlagen hat, mit ihr und ihrer Freundin nach Frankreich zu fahren, nicht direkt ans Meer, aber in die Nähe davon. Mit Marie und Asra im Auto, ein blauer Peugeot, die laute Musik, das Singen und Lachen, die Zigaretten und die Sandwiches, schließlich die Einladung, mit ihnen in das Dorf zu fahren, in dem sie lebten. Meine Panik davor, wieder in eine Umlaufbahn hineinkatapultiert zu werden, die ich nur kraft der fremden Saite, die in meine Existenz hinein- und hinausschwingt, verlassen kann, so wie das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Meine zögerliche Ablehnung, Maries Verständnis, Asras Unverständnis, ihre Diskussionen darüber, ob ein Leben am Land oder ein Leben in der Stadt freier und selbstbestimmter sei, alles auf Englisch, damit ich ihnen zuhören konnte, ich aber schweigend, neugierig, mit gespitzten Ohren und ängstlich. Die Erleichterung, als Marie und Asra mich in Aix en Provence am Bahnhof aussteigen ließen, Marie, die mit mir zum Schalter ging, das Ticket kaufte und mich in den Zug nach Marseille setzte. Die Aufregung, als ich Richtung Marseille abfuhr, das Kribbeln in den Armen, den Beinen, jeden Augenblick der Fahrt festhalten, jeder Lichtfleck auf den Fassaden, den Hügeln und Bäumen schien mir aus Sternenstaub. Die steinernen Kaskaden im Abendlicht, die fahlen Gesichter und gehetzten Augen, die grelle Wachstube, all das hat sich in dieser Nacht verdichtet und mich kreisen, taumeln und torkeln lassen. Irgendwann, als die ersten Morgengeräusche schon dumpf in die Zelle gedrungen sind, habe ich meine Eltern gesehen, ein verschwommenes Bild hat sich auf meine Augenlider gelegt, wie sie mit blutverschmierten Kleidern und Händen dastehen. Ihre Gesichter sind ruhig, folgsam, beinahe andächtig. Verachtung ist in mir hochgestiegen, ein bitterer Klumpen, der in meiner Brust pulsierte und seine galligen Strahlen den Rachen hinaufschickte. Gerne hätte ich die traurigen Ikonen meiner Eltern durch ein anderes Bild ersetzt, eines, auf dem sie zu sehen waren, wie sie mit Freunden im Garten saßen, wie sie Kuchen und Schnaps kredenzten, in ihren alten und neuen Sprachen Sprüche klopften. Aber es ist mir nicht gelungen, das Bild zu verändern.

Am nächsten Morgen wurden Stella und ich gemeinsam entlassen. Stella hatte sich schriftlich dazu verpflichtet, dass sie dreimal die Woche zur Polizeistation kommen, sich melden und ihre Urinproben abgeben würde, und ich, ich hatte einem Beamten die Telefonnummer von Stellas Freundinnen gegeben, er hatte angerufen und von den Freundinnen die Bestätigung erhalten, dass ich ihre Nichte sei, auf die sie schon sehnsüchtig warteten. Von der Polizeistation traten wir in den warmen Vormittag hinaus, auf die breite Straße, auf der so viele unterschiedliche Menschen unterwegs waren, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Menschen in zerschlissener, vor Schmutz steifer Kleidung gingen neben Menschen in silbrig schimmernden Anzügen, kräftige Rot-, Grün- und Blautöne leuchteten auf schwarzer Haut, weiße, braune und rote Köpfe bahnten sich ihre Wege, schoben sich über das Pflaster und drängten in die Busse. Ich konnte meinen Blick nicht lösen von dem Treiben, von dem farbenprächtigen Wogen und blieb wie angewurzelt vor dem Eingang der Polizeistation stehen. Stella berührte mich schließlich am Arm und fragte, wo ich denn eigentlich wohnen wolle, hier in Marseille. Ich zuckte mit den Schultern. Einen Moment lang zögerte sie und meinte dann, dass ich mit ihr kommen solle, sie wisse einen Platz, wo ich bis auf Weiteres unterkommen könne. »In the port?«, fragte ich ganz aufgeregt. »Mais non, that’s not a hotel, that’s La Reine.« Also gingen wir nicht in den Hafen, sondern die breite Straße noch ein Stück hinauf, an der Stufenkaskade vorbei, die sich vom Bahnhofsvorplatz in die Stadt hineinergoss, und bogen in eine dunkle Seitengasse ein. Auf den Treppen vor den Hauseingängen saßen Frauen in engen Kleidern und mit grellen Farben im Gesicht, mit rubinroten Lippen und türkisblauen Augenlidern. Sie rauchten und blickten gelangweilt auf die Straße. Eine von ihnen erhob sich, schritt auf uns zu, die hohen Absätze ihrer schwarzen Lackstiefel bohrten sich in den Asphalt.

»Stella, ma chérie, tu m’as apporté quelque chose?«

Die Stimme der Frau klang wie die in die Höhe geschraubte Stimme eines Mannes. Stella schüttelte den Kopf und wechselte mit der Frau ein paar Worte auf Französisch, ich verstand nur »police« und »désolée«. Die Frau stand mit zusammengepressten Lippen da und machte immer wieder eine Handbewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen.

Zum Abschied küsste sie Stella und umarmte sie. Als wir unseren Weg die dunkle Straße hinauf fortsetzten, erzählte mir Stella, dass Hervé einer ihrer Kunden sei, dass er immer bei ihr das Gras kaufe.

»He?«, fragte ich erstaunt. Sie lachte und meinte: »T’es vraiment très jeune, yes, Hervé is a man, he just works in women clothes.« An diesem Tag habe ich nicht verstanden, dass die Männer und Frauen in den engen Kleidern und mit den grellen Farben im Gesicht auf Freier, manchmal auch auf Freierinnen warteten, ich habe das wenig später selbst herausgefunden. Stella aber wollte ich an jenem Vormittag nicht mehr fragen, zu sehr habe ich ihr »t’es très jeune« gefürchtet, von dem ich damals nur erahnen konnte, dass es etwas mit mir, mit einem Mangel an mir zu tun hatte.

Am Ende der dunklen Straße überquerten wir einen Platz, bogen danach in ein paar weitere Gassen ein und standen schließlich vor einem Haus, auf das ein großes Bild von einem Mädchen mit langen roten Haaren gemalt war. Wie ein langes, aufgeblähtes Segel standen die Haare seitlich vom Kopf weg, ein Kopf-, ein Haarsegel, das sich über der Hauswand ausgebreitet hat. Neben die Eingangstür, auf der zentimeterdick Plakate und Aufkleber geschichtet worden waren, war ein N mit Pfeil gesprayt, feuerrot wie das Haarsegel. »Nous voilà«, sagte Stella und klopfte an die Tür. Mit den zwei Frauen, die die Türe öffneten, wechselte sie ein paar Worte, und gemeinsam gingen wir in das Haus hinein, stiegen die Treppen hoch in den fünften Stock. Eine Tür zu einer kleinen Kammer öffnete sich, ein Stahlbett, ein schwarz lackierter Tisch und ein wackeliges Regal, zusammengezimmert aus unterschiedlichen Holzplatten, standen darin.

»Here you can stay for a while.« Ich sah Stella an und ging langsam in die Kammer. »So, have a good stay here, see you.«

Ob sie denn nicht hier wohne, wollte ich wissen. Sie meinte, dass sie hier einmal gewohnt, jetzt aber eine kleine Wohnung in der Nähe gemietet habe, »avec ma petite amie«, fügte sie hinzu und lächelte. Wir verabschiedeten uns und ich blieb in der kleinen Kammer zurück, in meiner ersten Wohnung auf einer Reise, die mich jener seltsamen Bewegung näherbringen sollte, die Menschen über Meere trägt, die den Fluchtpunkt einer wogenden Sehnsucht bildet, von dem wir ausgehen, dem wir folgen auf Pfaden, die manchmal farbenprächtig und verheißungsvoll, ein anderes Mal in ein dämmriges Blau gehüllt sind.

Ich habe es kaum erwarten können, in den Alten Hafen zu gehen, um dort die Menschen zu beobachten, wie sie ankommen, wie sie abreisen, wie sich ihre Wege kreuzen und tangieren, wie sie ihre flüchtigen Spuren hinterlassen, bevor das Meer sie wieder fortträgt. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, durch die Stadt bin ich geschlendert, habe mich in die Gesichter der Menschen vertieft, wollte in ihnen die zurückgelegten Wege lesen wie auf Karten, in denen alle möglichen Passagen verzeichnet sind. Die Gesichter aber sind verschlossen gewesen, hier und da hat sich ein schmales Lächeln auf die Lippen gelegt, sacht und leise, die Augen hingegen haben mir keinen Einlass gewährt. Grüne, blaue und braune Blicke haben mich gestreift, gleichgültig und unbeteiligt sind sie meinen stummen Fragen nach ihrem Woher und Wohin begegnet: die alten Männer, die auf den Straßen gestanden und auf den Terrassen der Kaffeehäuser gesessen sind, vertieft in eine Schale Tee oder Kaffee, als könnten sie daraus die Zukunft, eine bessere Zukunft lesen; die jungen Männer, die an den Straßenecken Sprüche geklopft haben; die Frauen in langen, weiten Kleidern, die mit vollen Körben und Taschen ihrer Wege gegangen sind; die jeunes filles, die im schwindelerregenden Redetempo Neuigkeiten ausgetauscht haben; die Damen und Herren, die schnellen Schrittes dahingeeilt sind und ihr pardon! jedem entgegengeschleudert haben, der ihnen in die Quere gekommen ist, der ihnen hat ausweichen müssen auf den schmalen Gehsteigen. Sie alle haben mir nichts von ihrem Ankommen hier, in dieser Hafenstadt am Rande Europas zeigen wollen.

Im Hafen selbst wird es wohl anders sein, habe ich mir gedacht und meine Schritte beschleunigt, um so schnell wie möglich hinunterzukommen. Als ich jedoch am Ende des Boulevards stand, an der Kreuzung, die ich überqueren musste, um in den Alten Hafen zu gelangen, sah ich weder die großen Schiffe noch die Menge der An- und Abreisenden, mit denen ich gerechnet hatte, sondern nur Kutter und kleine Segelboote, die im Hafenbecken vor Anker lagen. Die Menschen, die sich auf der Hafenpromenade tummelten, sahen auch nicht aus wie Seeleute oder Abenteurerinnen, sondern eher wie die Tagestouristen, die mit ihren karierten Blusen und wadenlangen Hosen in das Dorf gekommen waren. Die einzigen Schiffe, die immer wieder an- und ablegten, waren Ausflugsschiffe, die auf die nahe gelegenen Inseln fuhren. Mir wurde ganz schlecht vor Enttäuschung – das also sollte der Hafen sein, an dem all die Menschen ankamen, die ich auf den Straßen gesehen hatte, all die Menschen mit ihren braunen und grünen Augen, ihrem schimmernden Teint, ihrer farbenprächtigen Kleidung und ihren Kopfsegeln? Hier gab es kein Ankommen zu studieren, nur satte Bequemlichkeit und stupide Selbstgefälligkeit, die sich auf den Terrassen der Bars und Restaurants an den Hafenkais breitmachten, sich in die tiefen Clubsessel fläzten. Die Übelkeit, die mir dieses Szenario bereitete, trieb mich aus dem Alten Hafen fort, den breiten Boulevard hinauf und zurück in das Haus mit dem feuerroten Haarsegel, in dem ich die kleine Kammer bezogen hatte.

Der Eindruck meines ersten, entsetzlich enttäuschenden Hafenspazierganges hat so tief gesessen, dass ich die darauffolgenden Wochen das Haus nicht mehr verlassen habe. So habe ich immerhin die bunte Gesellschaft, die in dem Haus gewohnt hat, besser kennengelernt. Die meisten sind den ganzen Tag über beschäftigt gewesen, haben Lebensmittel aufgetrieben, Veranstaltungen geplant, Kampagnen organisiert und jenen Menschen geholfen, die sich ohne Papiere in der Stadt aufhielten. Die Gruppe rund um Berthe und Louise ist mit Fahrrädern durch die Stadt gefahren, hat Supermärkte abgeklappert und Mülltonnen durchsucht, um die Hausgemeinschaft mit Essen zu versorgen. Marie und André haben sich um die Partys gekümmert, Konzerte, Lesungen und Cocktailbars haben sie veranstaltet, meistens um Geld zu sammeln. Brigitte, Claire und Aaron haben in der kleinen Werkstatt Plakate und Flugzettel gedruckt, während Renée, Pascale, Georges und Martine die Aktionen für die sans papiers koordiniert haben, sie haben Rechtsberatung angeboten und spontane Demonstrationen bei Polizeirazzien und Deportationen organisiert. Sie sind es auch gewesen, deren Telefonnummer mir Stella auf der Polizeistation gegeben hat und die sich, ohne mich zu kennen oder auch nur den Anflug einer Ahnung von meiner Geschichte zu haben, den Polizeibeamten gegenüber als meine Verwandten in Marseille ausgegeben haben. Neben diesem aktiven Kreis der Bewohnerinnen und Bewohner hat es auch einige gegeben, die sich, wie sie es zumeist nannten, auf ihre eigene Arbeit konzentrieren wollten, unter ihnen Céline, die an einem großen Roman schrieb, der den Titel »Zeitlose Untergänge« tragen sollte; Robert, der unentwegt winzige, bis ins kleinste Detail penibel ausgestaltete Comicszenen ent- und wieder verwarf; und schließlich Stan, mein Zimmernachbar, der seine kurzen Tage und langen Nächte mit dem Lesen und Verfassen philosophischer Schriften verbrachte. Er war es auch, der mir anbot, mir mit der französischen Sprache auf die Sprünge zu helfen. Jeden Tag sollte ich eine Stunde lang zu ihm ins Zimmer kommen, um Französisch zu lernen. Vor meinem ersten Besuch dachte ich, er würde mir zunächst die einfachsten Alltagswendungen beibringen, bonne journée, au revoir, s’il vous plaît etcetera. Aber ich habe mich getäuscht.

Als ich sein Zimmer betrat, das dunkel, verraucht und von oben bis unten mit alten, zerfledderten Büchern vollgestopft war, forderte er mich auf, ein Buch auszuwählen. »We will read this book together – en français bien sûr«, meinte er. Auf meine schüchterne Anmerkung hin, dass ich noch kein einziges Wort Französisch sprechen, geschweige denn lesen könne, schüttelte er nur den Kopf. »Take one book and – choose well«, sagte er, und ich wühlte mich auf der Suche nach einem Titel, der mir irgendetwas sagte, durch die Papierberge. Schließlich zog ich ein Buch mit einem schlichten, beigefarbenen Cover hervor. La Peste stand in großen roten Lettern drauf. Ich dachte mir, dass La Peste wohl so etwas wie Die Pest bedeutete und dass ich da wenigstens so halbwegs wüsste, worum es geht, nämlich um die schreckliche Krankheit, die es nicht mehr gab, die es aber im Mittelalter gegeben und einigen Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Als ich dieses Buch aus einem der Stapel zog, leuchteten Stans Augen, »Bravoooo«, rief er, »that is indeed a very good choice«. Und wir begannen gemeinsam La Peste zu lesen.

Während dieser Wochen, in denen ich mich enttäuscht von der Stadt mit dem langweiligen Alten Hafen abgewandt habe, haben mich von den ganzen Aktivitäten im Haus vor allem die Feste interessiert. Sie sind nicht so schön und stimmungsvoll gewesen wie in der Alten Mühle, wo Pete, Agnès und die anderen mit ihrer Musik flüchtige Unendlichkeiten in die Ohren, die Herzen und Köpfe der Dorfbewohner gelegt hatten. An sie erinnere ich mich gerne.

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