Czytaj książkę: «Die lange Nacht»

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Als Jugendlicher wurde Ernst Israel Bornstein von den deutschen Besatzern aus Familie, Schule und Leben herausgerissen und zur Zwangsarbeit verschleppt. Vier Jahre lang wurde er in sieben verschiedenen Arbeits- und Vernichtungslagern geschunden und gequält. Nur knapp überlebte er Hunger, Krankheit, die körperliche und seelische Folter. Seine Leidensstationen, über die er in seinen Erinnerungen berichtet, waren die Konzentrationslager Grünheide, Markstadt, Fünfteichen, Großrosen, Flossenbürg, Leonberg, Mühldorf.

Nach dem Krieg studierte und promovierte er in München zum Dr. med. dent. und anschließend zum Dr. med. und gründete eine Familie. Seine Erinnerungen aufzuzeichnen, fiel ihm außerordentlich schwer, da das bedeutete, von Angstträumen gepeinigt, die Erlebnisse der Lagerzeit immer wieder neu zu durchleiden. Sie erschienen erstmals 1967 in der Europäischen Verlagsanstalt und 2015 in englischer Übersetzung mit einem Geleitwort von David Cameron. Die Neuausgabe mit einem Vorwort von Charlotte Knobloch richtet sich gegen das Vergessen: »Fast ein Menschenleben nach dem Holocaust verblasst die Erinnerung immer mehr, und manch einer meint heute sorg- und verantwortungslos, seine Stimme an Nationalisten und Menschenfeinde verschwenden zu können.«

Ernst Israel Bornstein

Die lange Nacht
Ein Bericht aus sieben Lagern

Neuausgabe

mit einem Vorwort von

Charlotte Knobloch


© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Foto Umschlagseite: Ernst Israel Bornstein als Jugendlicher

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Covergestaltung: Susanne Schmidt, Leipzig

eISBN 978-3-86393-551-1

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-092-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im

Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort von Charlotte Knobloch

Einleitung zur Erstausgabe

Das Leben im Getto

Grünheide

Markstadt

Fünfteichen

Großrosen

Flossenbürg

Leonberg

Mühldorf

Anhang

Zum Andenken

an meinen Vater Usher Bornstein

der immer an das Gute im Menschen glaubte

meine Mutter Hella Bornstein

sowie meine Schwester Noemi Bornstein

und meinen Bruder Jehuda Bornstein

die 1943 von den nazistischen Barbaren

als Juden im Konzentrationslager Auschwitz

vergast worden sind

Charlotte Knobloch

Vorwort zur Neuauflage von »Die lange Nacht. Ein Bericht aus sieben Lagern« von Ernst Israel Bornstein

Wenn ein Buch über fünfzig Jahre nach der ersten Drucklegung erneut herausgegeben wird, dann ist dies meist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Botschaft des Werkes aus Sicht von Verleger und Publikum ungeachtet der vergangenen Zeit noch immer aktuell ist. Dies trifft ganz besonders auch auf die Neuauflage von »Die lange Nacht« zu, die Sie in Händen halten.

Die Aufzeichnungen von Ernst Israel Bornstein (1922-1978), der während der NS-Zeit jede denkbare Hölle durchlebte, die das nationalsozialistische Regime für jüdische Menschen ersonnen hatte, haben in der Zeit seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahr 1967 nichts an Bedeutung und Eindrücklichkeit verloren. Im Gegenteil: Wie viele andere Zeitzeugenberichte entfaltet auch Bornsteins Rückblick seine volle menschliche und historiographische Wucht erst mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Vorkommnissen von damals. Das mag paradox erscheinen – und ergibt doch gerade vor dem Hintergrund der heutigen Zeit Sinn.

Wir leben längst in einer Epoche, deren Haltung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus von einer seltsamen Zweideutigkeit bestimmt ist; die sie zugleich ernst nimmt und ignoriert, sie einerseits ins Zentrum des politischen Diskurses stellt und andererseits in der politischen Praxis oft genug völlig ausblendet. Vordergründig betrachtet scheint unsere Gesellschaft die Schrecken der Vergangenheit präsent zu halten: Eine Fülle von Spielfilmen und Dokumentationen, Büchern und Hörspielen für alle Altersstufen sollen die Erinnerung medial bewahren, es gibt Gedenktage und -wochen, dazu öffentliche Orte der Erinnerung wie das besonders prominente Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins und viele lokale Gedenkstätten, denen zu den entsprechenden Jahrestagen Spitzenpolitiker aller demokratischen Parteien ihre Aufwartung machen. Doch sagt all das mehr über die Sichtbarkeit des Gedenkens aus als über die Ernsthaftigkeit des Erinnerns. Kein Film kann aufrichtige Beschäftigung mit der Thematik ersetzen und kein Jugendbuch die ehrliche Ansprache durch Eltern oder Lehrer. Gedenkorte, die nach dem 9. November und 27. Januar voller Kränze liegen, sind den Rest des Jahres den meisten Menschen weder Besuch noch Beachtung wert. Insgesamt scheint unser Land, das seine demokratische Neugründung nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust moralisch und politisch vor allem durch die nötige Abgrenzung von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft legitimierte, der praktischen Verantwortung, die aus diesem abstrakten Bewusstsein erwächst, heute nicht immer gewachsen zu sein.

Das zeigen Untersuchungen, die erschreckende Wissenslücken zur NS-Zeit unter Schülern offengelegt haben, ebenso wie die Wahlergebnisse der jüngeren Zeit. Beide Entwicklungen lassen erahnen, wie groß der Bevölkerungsanteil womöglich doch sein könnte, den die bundesrepublikanische Erinnerungskultur in den Jahrzehnten seit 1949 nie erreicht hat (um die unter dem bequemen Schlagwort »Antifaschismus« firmierende Ignoranz der ehemaligen DDR auf diesem Gebiet samt ihren negativen Folgen gar nicht zu erwähnen).

Die Gefahr von Rückfällen war bereits Ende der Sechzigerjahre, zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung dieses Buches, latent vorhanden. Vor ihr zu warnen, entsprang damals durchaus keiner übertriebenen Angst, sondern war die logische Folge vieler Entwicklungen in der Frühphase der Bundesrepublik. Die personellen Kontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie, die ausgebliebene Strafverfolgung hochrangiger Nationalsozialisten nach 1945 und die Widerstände überall dort, wo dies wie im Falle des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer doch versucht wurde, machten eindrücklich klar, dass die Entnazifizierung ein langer und steiniger Weg war, der mit Gründung eines demokratischen Staates noch lange nicht abgeschlossen war.

Ich selbst erinnere mich aus jener Zeit noch gut an die große Skepsis, die die jüdische Gemeinschaft hier in München Ende der Vierziger- und zu Beginn der Fünfzigerjahre der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegenbrachte. Vorfälle wie die Auerbach-Affäre als Kulminationspunkte der nahezu täglichen Erfahrung, dass der Antisemitismus in Deutschland eben nicht im Mai 1945 verschwunden war, verstärkten bei vielen den Eindruck, im »Land der Mörder« könne es für jüdische Menschen keine Zukunft geben. Viele setzten diese Überzeugung auch in die Tat um und wanderten aus, sobald es ihnen rechtlich und praktisch möglich war. Zurück blieb eine kleine Gemeinschaft von wenigen Tausend, deren Verbleib zumeist mehr eine Folge äußerer Umstände als innerer Überzeugungen war.

Unter ihnen war auch Ernst Israel Bornstein, dessen Geschichte als in Polen Geborener und in Deutschland Hängengebliebener typisch war für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der frühen Bundesrepublik. Während der NS-Zeit überlebte Bornstein nicht weniger als sieben Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Nach seinem Studium der Zahnmedizin wurde er in München bald zu einem beliebten Arzt und einem angesehenen Mitglied der hiesigen Kultusgemeinde, in deren Vorstand er neben seinen zahlreichen anderen Verpflichtungen über Jahre tätig war. Die Akkuratesse und Genauigkeit, die die Beschreibungen in seinem Buch prägen, machten ihn auch als Person aus. Auch wenn ein uneingeweihter Beobachter ihm in jenen Jahren kaum etwas hätte anmerken können, vermochte er der gewaltigen Last des Erlebten doch nie zu entkommen. »Das KZ«, so schrieb er, »hält mich immer noch umklammert.«

Zur Zeit dieser Neuauflage seines Buches wirft bereits der 75. Jahrestag des Kriegsendes seine Schatten voraus. Die Zahl der Überlebenden sinkt mit jedem Tag, und viele der wichtigsten Stimmen der Erinnerung an die Gräuel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind inzwischen verstummt. Menschen, deren Worte in der öffentlichen Debatte Gewicht hatten, sind heute nicht mehr unter uns – und werden schmerzlich vermisst.

Als Folge dieser Entwicklung offenbart sich mir bei meinen zahlreichen Besuchen in Schulen etwas, das man das Paradoxon der Demokratie nennen kann: In einer Zeit, da nicht nur die heutigen Schüler, sondern auch ihre Eltern und oft sogar Großeltern nichts anderes kannten als den Frieden und Wohlstand einer liberalen und offenen Demokratie, wird es immer schwieriger – und damit auch dringender – den Beweis für deren Notwendigkeit zu führen.

Die Zeitzeugen, die aus eigener Anschauung davon berichten können, wie es ist, wenn vorgeblich unantastbare Menschenrechte plötzlich außer Kraft gesetzt werden und wenn das eigene Leben aufgrund der jüdischen Herkunft nichts mehr gilt, vermitteln ein Gefühl dafür, warum es sich lohnt, immer und überall gegen Antisemitismus und damit gegen Unfreiheit, Intoleranz und Hass einzutreten. Es ist auch kein Zufall, dass politische Kräfte, die wie bereits im 20. Jahrhundert an die niedrigsten und zerstörerischsten Instinkte im Menschen appellieren, just dieser Tage wieder Erfolge feiern: Fast ein Menschenleben nach dem Holocaust verblasst die Erinnerung immer mehr, und manch einer meint heute sorg- und verantwortungslos, seine Stimme an Nationalisten und Menschenfeinde verschwenden zu können.

Die lange Phase von Frieden in Freiheit ist eine epochale Errungenschaft und zugleich eine große Herausforderung, denn was der Mensch nicht selbst erlebt hat, das kann er sich auch nicht vorstellen. Um unsere Demokratien zu erhalten, stellt sich für uns mit umso größerer Dringlichkeit die Aufgabe, Erinnerung und Gedenken in neuer, dauerhafter Form weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass die Berichte der Überlebenden weiter gehört und gelesen werden. Die aktuelle Neuauflage ebenso wie die erst vor wenigen Jahren erstmals erfolgte Übersetzung ins Englische zeigen dabei deutlich die nochmals gewachsene Bedeutung der persönlichen Erinnerungen von Überlebenden. »Die lange Nacht« ist in ihrer schonungslosen Klarheit ein Dokument von besonderem Wert, dem jeder von uns nur eine möglichst große Verbreitung bei Jung und Alt wünschen kann. Ernst Israel Bornsteins Schilderungen haben gerade in der heutigen Zeit das Potenzial, von oberflächlichen Erinnerungsritualen zu einem Gedenken zu führen, das für jeden einzelnen mit einer tiefen, individuellen Einsicht und Bedeutung verbunden ist. Nur so können wir bewahren, was wir heute genießen und für dessen Erhalt auch Dr. Bornstein eintrat. Nur wer weiß, was geschehen ist, kann verhindern, dass es sich wiederholt; und wer dieses Buch liest, der kann nicht länger sagen, dass er nichts wisse.

Einleitung zur Erstausgabe

An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich sonnigen Dezember Tag des Jahres 1956 begegnete ich in der Münchner Universität meinem verehrten Lehrer Professor Mikorey. Bis jetzt hatte ich mich noch für keines der von ihm vorgeschlagenen Themen für meine Doktorarbeit entscheiden können, und ich nutzte die Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen. Als Student der Zahnheilkunde hörte ich die Abendvorlesungen Mikoreys in der Nervenklinik, und gleich vielen meiner Mitstudierenden war ich von seiner menschlichen Ausstrahlung tief beeindruckt. Das Wissen, dass ich hier gewann, half mir auch bei meinen weiteren Studien, und als ich später allgemeine Medizin studierte, begegnete ich Professor Mikorey wieder in seinen Vorlesungen.

Als ich mich nun um eine Doktorarbeit bei ihm bemühte, kamen wir auch auf die Judenverfolgungen zu sprechen, und er regte mich an, meine eigenen Erlebnisse aus jener Zeit niederzuschreiben. Mit 19 Jahren hatte man mich ins KZ gesperrt und in vier Jahren und drei Monaten war ich durch zwölf verschiedene Lager gegangen. Ich sei geistig reif genug, so meinte Mikorey, mein Schicksal nun noch einmal zu durchleben und als Augenzeuge von dem Leidensweg meines Volkes zu berichten.

Zu jener Zeit war ich noch Mitarbeiter des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in New York und damit beschäftigt, die Erlebnisse junger Menschen, die die Jahre der Haft hinter sich hatten, zu sammeln. Meine Aufgabe bestand darin, diese Aufzeichnungen in der Sprache der Augenzeugen niederzulegen und sie von literarischen Zutaten freizuhalten. In dieser Art, so meinte Professor Mikorey, sollte ich auch meine Erlebnisse beschreiben, Begebenheiten einer Zeit, in der der Mensch seine humanen Grundeigenschaften soweit verlieren konnte, bis er sein menschliches Wesen ganz abgelegt hatte. In der Medizin weiß man von Versuchen, bei denen durch Hormongaben die menschliche Physis beeinflusst wird – unter dem nationalsozialistischen Terror aber wandelte sich die Psyche des Menschen total bis zur Auflösung oder Verkehrung der Persönlichkeit. Unter seinem Terror sank der Mensch von Stufe zu Stufe, der Mensch wurde zum Unmenschen. Die natürlichen Gefühle des Menschen wurden systematisch zerstört. So konnte z. B. eine Mutter ihr Kind weggeben, um sich selbst zu retten, ein bisher gutartiger Mensch wurde unter dem Einfluss von Angst und Hunger zum bösartigen Tier. Mancher verwandelte sich zum unterwürfigen Sklaven, der dem gleichen Herrn diente, der ihn später kaltblütig ermordete.

In diesem Bericht soll versucht werden, rückschauend das Erlebnis zu sehen und nur die Tatsachen sprechen zu lassen ohne Kommentar, ohne den Leser mit persönlichen Emotionen zu belasten. Dennoch wird es schwerfallen, meinen Worten immer Glauben zu schenken. Kann man heute nach so vielen Jahren Ereignisse, Gedanken und Empfindungen noch so schildern, wie man sie damals gesehen, gedacht, empfunden hat? Wohl kaum. Was z. B. fühlt ein Mensch, wenn er unterwegs merkt, dass ihn die Füße nicht mehr tragen, dass er nur noch wenige Schritte weitergehen kann und dabei sieht, wie sein Nachbar, der nicht mehr zu gehen vermag, beim Zurückbleiben erschossen wird? Freilich, zunächst versucht er weiterzugehen, er will leben, greift nach der Hand des Nachbarn, um sich an ihm festzuhalten. Doch der ist selber am Ende seiner Kräfte, er stößt die Hand weg und will den Zurückbleibenden nicht weiterschleppen. Der Schwache bleibt hinter den anderen zurück – aber das muss man selbst gesehen haben. Dies erlöschende Gesicht, die flackernden Augen eines Menschen, der meint, kurz vor dem Ziel zu sein. Da erreicht die Kugel seinen Nachbarn – gleich kann sie auch ihn treffen. Wer kann sagen, was solch ein Mensch erlebt, während er die letzten Schritte seines Lebens tut? Wer kann beschreiben, was er in diesen Sekunden fühlt, leidet.

Und was habe ich selbst an diesem Tage erlebt? Als »auserwählter« Häftling musste ich dem Kapo den Brotsack tragen und als Letzter in der Reihe neben ihm und dem SS-Mann marschieren. Der SS-Mann erschoss alle, die zurückblieben, und der Kapo musste die KZ-Nummer der Erschossenen notieren. Ich schaute in den Pistolenlauf, bevor die Kugel dem schwankenden Menschen vor mir ins Genick gejagt wurde, schaute auf den dünnen Strahl Blut, der noch langsam lief, als das Leben den Körper schon verlassen hatte. Ich beobachtete den SS-Mann, sah, wie er trotz seiner blutigen Arbeit mit gutem Appetit im Gehen die sorgfältig belegten Brote aß. Auf den nahen Feldern waren Bauern beim Säen, und in einem der Häuser am Straßenrand goss eine Frau Blumen am Fenster. In diesem Augenblick durchbohrte wieder eine Kugel den Kopf eines Zurückbleibenden, ein kleiner Blutstrahl lief die Schläfen hinab. Und all das geschah inmitten von bebauten Feldern und liebreich gepflegten Blumengärten! Leben wir noch in dieser Welt oder war das alles ein nie enden wollender böser Spuk? Wie war es möglich, dass Menschen fünfzig Meter weit von uns entfernt ruhig ihrer Arbeit nachgingen, während in ihrer unmittelbaren Nähe entkräftete, wehrlose Menschen erschossen wurden?

Eigentlich wollte ich den Plan, diese Erinnerungen zu schreiben, wieder aufgeben, denn nachdem ich damit begonnen hatte, war ich von Angstträumen gepeinigt worden, in denen ich die Erlebnisse der Lagerzeit immer von neuem durchleiden musste. Eines Tages jedoch kam eine junge Patientin zu mir. Sie fragte mich unter anderem, ob ich Jude sei und ob es wahr sei, dass es KZ-Lager gegeben habe, in denen man die Juden vergaste? Ob man tatsächlich auch Frauen und Kinder umbrachte? Ich erzählte ihr vom Schicksal meiner Eltern und Großeltern. Tief bewegt sagte sie darauf, dass Sie mir glaube. Bis dahin war sie der Meinung gewesen, Berichte dieser Art wären pure Propaganda und von der Besatzungsmacht ausgestreut, um das Ansehen der Deutschen herabzusetzen.

Das also ist die Meinung der demokratisch erzogenen Nachkriegsjugend, dachte ich. Wenn diese Jugend glaubt, dass die blutige Ära des Nationalsozialismus nur eine Erfindung der Propaganda ist, so will ich meinen Teil dazu beitragen, diese Meinung zu erschüttern. Ich bin meinen Eltern, die man in Auschwitz vergaste, die Wahrheit schuldig, bin sie meinem kleinen, lustigen, impulsiven Bruder und meiner zarten kleinen Schwester schuldig, die man in Auschwitz in der Gaskammer ermordete.

Heute, über 20 Jahre später, stellen junge Menschen häufig die Frage, wie es denn überhaupt möglich war, dass große Volksmassen, deren Zahl in die Millionen ging, der Vernichtung zugeführt werden konnten und dass diese Massen sich kampflos ihrem Schicksal ergaben. Und wirklich ist, von heute ausgesehen, dass damals Geschehene kaum verständlich; ich hoffe aber, mit dem vorliegenden Bericht diese Frage wenigstens zum Teil beantworten zu können. Nicht eine Sammlung der schlimmsten Erlebnisse der Juden, sondern eine Darstellung des jüdischen Alltags in den Jahren von 1939 bis 1945 soll es dem Leser ermöglichen, sich in die damalige Situation der Juden einzufühlen und ihr Verhalten zu begreifen. In keinem der Lager, durch die ich ging, gab es Gaskammern, in denen Frauen und Kinder vergast wurden. Doch selbst in unserem Lager, dass keine 100 km von dem Vernichtungslager Auschwitz entfernt war, wurde alles so verschleiert, dass wir länger als ein Jahr brauchten, ehe wir begriffen, dass nicht weit von uns täglich massenweise Männer und Frauen, Kinder und Alte vergast und verbrannt wurden. Die Verheimlichung des Vernichtungssystems war ein Teil der teuflischen Methode, durch die man nach und nach den Menschen zum Sklaven machte, und damit jede Möglichkeit eines allgemeinen Wiederstandes der Juden ausschaltete. Trotzdem leisteten in Hunderten von Fällen Einzelne und Gruppen mit dem Gewehr in der Hand oder mit bloßen Fäusten erbitterten Widerstand, der aber von vornherein aussichtslos war und zum Tode führte. Ich zeichne eine Chronik von Erlebnissen auf, die in einem Jahrhundert geschahen, da man zum Tierschutz aufrief und entsetzt protestierte, als Kaninchen zur Vivesektion benutzt wurden. Im gleichen Jahrhundert in der gleichen Gesellschaft wurde eine Mordmaschinerie betrieben, deren Räder anscheinend so lautlos mahlten, dass Sie selbst empfindliche Ohren nicht störte.

Meine Geschichte verfolgt noch ein anderes Ziel. Sie soll eine Hilfe, ein Leitfaden sein für jene Wissenschaftler, die sich mit den Überlebenden dieser Katastrophe befassen, mit Menschen also, die eine eigenartige, beispiellose psychologische und soziologische Gruppe innerhalb der menschlichen Gesellschaft darstellen. Denn diese Überlebenden sind zumeist in ihrer Psyche gebrochen durch ein Trauma, dass nicht zum Restitutio ad Intergrum führen kann. Obwohl viele ehemalige KZ-Häftlinge wieder ganz im Leben zu stehen scheinen und Erfolge erlangen, sind sie psychisch kranke Menschen geblieben. Ihr gegenwärtiges Leben ist durch die Vergangenheit belastet, und kein Erfolg ist imstande, die erlebten Schrecken auszulöschen. Nicht selten hört man in intellektuellen Kreisen ehemaliger KZ-Häftlinge die fatalen Worte: »Eigentlich sind wir schon gestorben in den Jahren zwischen 1940 und 1945. Unser äußeres Leben haben wir zwar gewonnen, doch unser inneres ist tot.« Diesen Ausspruch hörte ich oft als ich die Lebensgeschichte junger KZ-ler für das Institut in New York aufnahm. Von der Last, die man als zur Vernichtung Verurteilter, als entmenschte Kreatur Jahre lang getragen hat, kann man sich nicht mehr befreien. Die Jahre der Angst und Unterdrückung hinterließen in der Psyche Schäden, die irreparabel sind wie Schäden in der grauen Substanz der Nervenzentren. Der ehemalige KZ-Häftling kann wohl mit den anderen lachen und fröhlich sein, aber sein Inneres schmerzt und blutet, da sich die alten Wunden nicht schließen wollen. Er hat zwar das räumlich begrenzte Konzentrationslager verlassen, aber die furchtbare Atmosphäre des Lagers umschließt ihn noch, es ist, als ob das KZ noch in ihm wäre. Das müssen besonders diejenigen in Betracht ziehen, die sich mit der Psyche der KZ-Häftlinge beschäftigen, diejenigen, die helfen und heilen und – urteilen sollen. Wie oft höre ich selbst, besonders an Abenden, wenn ich allein bin, meine Eltern und meine Schwester sprechen. Ich sehe ihre Gesichter, die oft ruhig und zufrieden erscheinen. Wenn aber mein kleiner Bruder kommt, entsteht ein gespenstischer Wirbel in meinem Gehirn. Ich sehe mich dann wieder, wie man mich mit Gewalt aus unserer Wohnung zerrt, ich höre das Schreien meiner Angehörigen – und ich glaube, so haben sie auch in den Gaskammern geschrien. Nur meinen Vater sehe ich als stillen, schweigenden Mann mit ernstem Blick, wie er zu der Mutter und den Kindern sagt: »Mit Ruhe soll man den Mördern begegnen, mit Stolz soll man aus dieser Welt gehen. Die Mörder werden schon ihre Strafe bekommen.« Das waren die Worte meines Vaters als sie in Auschwitz ankamen, so erzählte mir meine überlebende Schwester.

Ich werde weiterschreiben, denn in meinen Ohren klingt die Stimme meines kleinen Bruders. Schon dir zuliebe, weil man dich erstickt hat, dich mit deinem fröhlichen Herzen, mit deinen ernsten Kinderaugen, mit denen du mir beim Lesen über die Schulter sahst, dir zuliebe Bruder, mit deinen unschuldigen Augen, die man in Auschwitz barbarisch auslöschte. Du siehst mich in der Finsternis der Nacht, wenn ich schlaflos liege, und deine Augen mahnen mich: »Vergiss es nicht!« Für dich will ich schlaflose Nächte haben, mein kleiner Bruder, für dich will ich die Geschichte der langen blutigen Nacht erzählen.

Ehe sie begann, die Nacht, die fünf Jahre und acht Monate dauerte, waren wir eine glückliche Familie. Wir vier Kinder (ich war der Älteste von zwei Buben und zwei Mädchen) wurden umsorgt von guten Eltern und einem großen Verwandtenkreis. Mein Vater, der ein geachteter und verehrter Mittelpunkt der Familie war, wusste Rat in schwierigen Fragen und hatte das letzte Wort bei schwierigen Entschlüssen, wohl auch, weil er der Älteste von sieben Geschwistern war. Seine Haltung, die geistigen Interessen über die materiellen zu stellen, trugen ihm die Sympathie und Achtung unserer Mitbürger ein. Jahrelang bemühte er sich um die Erziehung der jüdischen Jugend und war ehrenamtlicher Vorstand des Elternrates der Jüdischen Schule in unserer Stadt. Seine Tätigkeit in der zionistischen Bewegung nahm einen Großteil seiner freien Zeit in Anspruch; ich erinnere mich gut, dass seine Abende mit Sitzungen und Vorträgen für diese Bewegung ausgefüllt waren. Er sah seine Lebensaufgabe darin, tatkräftig für sie zu wirken. In der Verwirklichung eines jüdischen Staates auf dem Gebiet des damaligen Palästina lag für ihn die Zukunft des Judentums begründet. Unsere Erziehung war stark von seinen Idealen getragen. Ich darf wohl sagen, dass sich unsere Eltern in ihren Bemühungen ergänzten, uns geistig auf die Zukunft vorzubereiten. Ihr harmonisches Familienleben war nur der äußere Rahmen zu diesem unablässigen Bestreben. Doch mit einem Schlag wurden wir aus der normalen Bahn eines bürgerlich dahin fließenden Lebens geworfen.

Im Herbst 1939 zeigten sich die ersten Auswirkungen der schon seit Jahrzehnten andauernden dunklen Hetze gegen die Juden. Verordnungen und Begrenzungen jagten einander. Noch konnten wir die ersten Maßnahmen, wie z. B. das Tragen einer weißen Armbinde mit gelbem Judenstern oder das Verbot, bestimmte Straßen und Plätze zu besuchen, nicht fassen, erfolgte bereits das Verbot, die Eisenbahn zu benutzen, die Ausweisung aus den Schulen, die Anordnung, nachts bei Strafe die Wohnung nicht zu verlassen. Aber das Leben ging weiter, auch wenn Wohnungen und Geschäfte enteignet wurden, auch wenn riesige Summen an Kontributionsgeldern aufgebracht und Gold, Schmuck, Pelze und Radioapparate abgeliefert werden mussten und die Juden allmählich in ein zunächst großes Ghetto eingeschlossen wurden. Es ging weiter, trotz des Zwanges, täglich bei Polizei und Wehrmacht schmutzige Arbeiten zu verrichten, von denen man oft zerschlagen und blutend nach Hause kam. Es ging weiter, bis schließlich die Verschleppung zur Zwangsarbeit kam und als letzte Etappe die »Endlösung« der Judenfrage, d. h. der Tod in den Gaskammern von Auschwitz. Im August 1943 wurden auch meine Eltern, Geschwister und Verwandten in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz getötet. Und mit ihnen waren die letzten Juden aus der Stadt verschleppt worden. Die nun folgende Aufstellung (s. S. 270/271) meiner Familienangehörigen väterlicher- und mütter-licherseits zeigt das Bild einer Familie, der das Schicksal unter den gegebenen Verhältnissen noch gnädig war, da sich wenigstens zwei junge Menschen aus der Massenvernichtung retten konnten. Von vielen Familien überlebte niemand, deren Spuren wurden verwischt und zerstreut wie die Asche aus den Krematorien von Auschwitz, Strutthof und Treblinka.

Ernst Bornstein, München, 1967