Czytaj książkę: «Dich hat der Esel im Galopp verloren»

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Impressum

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Die Abbildungen stammen aus Ellen Schwiers’ Privatarchiv.

Verlag Neues Leben –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-355-50065-4

ISBN Print 978-3-355-01883-8

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

unter Verwendung eines Fotos von Stuart Mentiply

www.eulenspiegel.com


Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Vorwort von Katerina Jacob

Kindheit

Meine Eltern

Dich hat der Esel im Galopp verloren

Krieg

Flucht

Nachkriegszeit

Hungerjahre

Schauspielerin wider Willen

Elevin

Der erste Kuss

Erste Liebe und Fuß fassen

Liebesleid

Heinz Hilpert – Göttingen

Mann und Karriere

Familie

Berufung

Intrigen

Schauspielhaus Zürich

Inshallah-Produktionen

»Black Seven«

Sommerfestspiele und Salzburg

Griechische Tragödie

»1900«

Es war nicht zu verhindern

Die Welt dreht sich weiter

Jagsthausen

Ida Ehre

Auf Tournee – »Das Ensemble«

Daniel

Letzter Vorhang

Filmografie

Bildteil

Über dieses Buch

Schon als Kind haben mich die Geschichten, die meine Tante Ellen aus der Film- und Theaterwelt erzählte, fasziniert und meine Phantasie angeregt. Ein Hauch von Glamour und großer weiter Welt war spürbar, wenn sie uns, von Dreh­arbeiten oder Theaterproben kommend besuchte.

Die Idee zu einer Biografie entstand zum Anlass ihres 85. Geburtstages und des damit verbundenen siebzigjährigen Bühnenjubiläums. Die Schauspielerin, Regisseurin, Intendantin und Theaterunternehmerin Ellen Schwiers hat eine bewegte Lebens- und Künstlergeschichte hinter sich und blickt auf ein langes, erfolgreiches Berufsleben auf der Bühne und beim Film zurück. Sie ist eine Zeitzeugin für die Entwicklung, die Film, Fernsehen und Theater nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem gesellschaftlichen und medialen Wandel in Deutschland genommen haben. Am eigenen Leib hat sie auch die Veränderung der Frauenrolle erfahren.

Ellen Schwiers’ Leben besteht neben künstlerischen Triumphen auch aus Enttäuschungen und schweren Schicksalsschlägen: ein kompliziertes Elternhaus, eine Kindheit im Krieg, Flucht, ein ihr auferzwungener Beruf, der später zur Leidenschaft wird. Eine bewegte Ehe, der Verlust ihres Sohnes Daniel, der auf dem Weg in eine vielversprechende Zukunft war. Die große Liebe, die ihr als reife Frau wie aus heiterem Himmel begegnete und in einer Katastrophe endete.

Über drei Jahre hinweg habe ich Ellen in Abständen, von Hamburg kommend, in ihrem Haus am Starnberger See besucht. Dabei habe ich auch ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte besser kennengelernt. Während unseres Zusammenseins gab es viele fröhliche Momente voller Witz, Lachen und Anekdoten, aber auch Momente voller schmerzhafter, trauriger Erinnerungen. Es passiert nicht oft, dass man einem Menschen so nahe kommt, auch wenn es die eigene Tante ist, und ich habe eine Frau voller Kraft, Präsenz und künstlerischer Leidenschaft erlebt: lebens­bejahend, kämpferisch, zielstrebig und unkonventionell. Mit einem unabhängigen Geist und einer großen Seele.

Für die große Offenheit und das mir geschenkte Vertrauen bin ich sehr dankbar; unser Austausch hat mein Leben bereichert.

In den letzten Jahren ihres Lebens litt Ellen Schwiers zunehmend unter großen Schmerzen. Auch Operationen und eine Schmerztherapie brachten keine Linderung. Die Schmerzen zermürbten sie und nahmen ihr den Lebenswillen.

Daher befürwortete sie eine assistierte Sterbehilfe, denn sie wünschte sich einen würdevollen, selbstbestimmten Tod. Ellen Schwiers wollte kein Pflegefall sein. So beschloss sie, mit Sterbefasten anzufangen. Konsequent stellte sie das Essen und nach und nach auch das Trinken ein. Zu Hause, in ihrer gewohnten Umgebung, mit Menschen, die sie liebten und die ihr nahe waren. Auch wurde sie palliativ betreut.

Sie wartete noch, bis ihre Enkelin Josephine aus Kanada angereist war, um sich von ihrer Großmutter zu verabschieden. Danach konnte sie das Leben loslassen. Wie sie es sich gewünscht hat, ist sie im Kreis ihrer Familie, in ihrem Haus am Starnberger See, friedlich eingeschlafen.

Ellen Schwiers verstarb am Morgen des 26. April 2019. Sie wurde 88 Jahre alt.

Marte von Have

Vorwort

von Katerina Jacob

Als man mich bat, das Vorwort für die Biografie meiner Mutter zu schreiben, bin ich lange in mich gegangen und habe unser gemeinsames Leben an meinem inneren Auge vorbeiziehen lassen. Sicherlich gab es bei uns, wie bei anderen Mutter-Tochter-Gespannen, von Zeit zu Zeit Spannungen, aber alles in allem habe ich, was die Person meiner Mutter betrifft, Glück gehabt. Man sagt ja, dass sich Kinder die Eltern aussuchen, zumindest in der Beziehung habe ich guten Geschmack bewiesen. Doch wie soll man eine Person beschreiben, die einen ein ganzes Leben begleitet hat, von der man achtzig Prozent Gene geerbt hat? Mein Vater war an meiner Entstehung zwar beteiligt, konnte sich aber gentechnisch nicht wirklich durchsetzen. Alle Frauen in unserer Familie sind starke Frauen, auch die angeheirateten, aber meine Mutter war immer unser Alphatier. Es war eher ein Zufall, dass ich in den gleichen Beruf gerutscht bin, und natürlich hat man an der Last zu tragen, dass da eine Mutter ist, die nicht nur eine hervorragende Schauspielerin ist, sondern auch noch bekannt, ein Star sozusagen. Sie, die Tragödin, der weibliche Bösewicht des deutschen Films, die Heroine. Ich habe sie in so vielen Rollen gesehen und war jedes Mal beeindruckt, also beschloss ich, konkurrenzlos von ihr in die komödian­tische Richtung zu gehen, denn auf dem Gebiet hat sie eher geschwächelt. Wir haben viel zusammen auf der Bühne gestanden, ich habe von ihr gelernt, wir waren gleichberechtigte Partner, nie hat sie mir das Gefühl gegeben, nicht auf Augenhöhe mit ihr zu sein. Das Theater war ihr Leben. Umso schlimmer war es für sie, nach siebzig Jahren Bühnenpräsenz eines Tages einsehen zu müssen, dass sie ihren geliebten Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben konnte. Die ganze Familie litt unter ihren Depressionen. Doch Gott sei Dank waren da ihre Hunde, ihr Garten und vor allem ihre wilden Füchse und Vögel, die sie mit Hingabe fütterte. Ihre Freundin Lilo, mit der sie Yahtzee bis zum Umfallen spielte, und Freunde, die sie täglich besuchten. Meine Mutter war voll von Geschichten, eine Zeitzeugin, Jung und Alt hingen an ihren Lippen, wenn sie aus ihrem ausgefüllten, spannenden Leben berichtete. Lustig, tragisch, interessant, lehrreich, dieses Leben musste auf Papier gebannt werden. Ich möchte meiner Cousine Marte danken, von der die Initialzündung zur Entstehung dieses Buches kam. Für mich war meine Mutter eine Schamanin, meine beste Freundin, meine Ratgeberin, ein Mensch mit einem großen Herzen. Ich danke ihr, dass ich ihre Tochter sein darf, dass sie mich zu der ­Person gemacht hat, die ich heute bin.

Du hast alles richtig gemacht. Ich liebe dich!

Katerina

Kindheit

Ich sehe mich auf einer Blumenwiese sitzen. Ich bin vier Jahre alt. Um mich herum sind unzählige Schmetterlinge, Grashüpfer und Grillen, die es in Hülle und Fülle gab. Ich höre ihr Zirpen, spüre die Weite der Wiese, die Weite des Himmels. Es war eine wunderschöne Welt, eine reiche Natur, die ich liebte und in der ich mich geborgen fühlte, glücklich, frei und unbeschwert. Für mich war die Welt in Ordnung. Ich habe sehr gerne gelebt und in mir war ein Gefühl von großer Dankbarkeit und Glück. Dieses Gefühl von Dankbarkeit hat sich bis heute erhalten. Ich habe mein Leben lang nie daran gezweifelt, dass es aufregend schön und ein großes Geschenk ist, auf der Welt zu sein, trotz des Schmerzes und Elends, die ich auch erlebt habe.

Schon als Kind war das Leben ein großes Abenteuer für mich. So habe ich mein Dasein empfunden: als großes Abenteuer. Dieses Abenteuer galt es zu bestehen. Das ist die Aufgabe – das Leben ist eine Aufgabe.

Lange wollte ich Naturforscherin oder Archäologin werden, denn in meiner Kindheit gab es noch weiße Flecken auf der Welt. Das hat mich fasziniert und meine Phantasie beflügelt. Natur und Tiere haben mich be­­geistert.

Ich habe mir so sehr einen Hund gewünscht, doch das war mit unserem unsteten Leben und den beengten Verhältnissen nicht vereinbar. Also habe ich mir ersatzweise Mäuse und Hamster auf dem Feld gefangen, und mein Vater baute aus Zigarrenschachteln ein Gehege für sie. Die Schachteln wurden so miteinander verbunden, dass für die Tiere Gänge entstanden. Obendrauf legte mein Vater eine Glasplatte, damit ich die Tiere beobachten konnte. Doch am nächsten Morgen hatten sie sich durch die Holzschachteln genagt. Meine Mutter bekam einen Anfall. Denn es war klar, dass die Viecher nun irgendwo in unserer Wohnung herumspazierten. Auf allen vieren krochen wir durch die Wohnung, um jeden Spalt und jede Ritze zu untersuchen. Schließlich konnten wir sie einfangen, und mein Vater schlug die Holzschachteln in einem zweiten Versuch nun mit Blech aus.

Ich hatte immer irgendwelche Tiere. Auch eine Kröte hatte ich als Haustier. Hänschen, so nannte ich sie, lebte im Keller. Und wenn ich sie rief, kam sie angesprungen. Hänschen war einen Sommer lang mein ganzes Glück, bis böse Buben kamen und Hänschen in die Lahn schmissen. Ich war untröstlich.

Tiere sind bis heute ein Konstante meines Lebens. Sie bedeuten mir viel und sind wichtige Partner meines Daseins.

Mein Großvater mütterlicherseits war Landwirt und hatte eine große Liebe zur Natur, die ich mit ihm teilte. Er liebte alles, was wuchs und gedieh, und ich liebte diesen Großvater. Oft nahm er mich mit auf seine langen Spaziergänge durch den nahe gelegenen Stettiner Wald. Jede Frucht, jeden Baum, jede Pflanze erklärte er mir und erzählte dabei wunderbare Geschichten. Er brachte mir bei, die Wetterseite der Bäume zu erkennen und spielte mit mir »Bäume erraten«, wobei ich die Bäume nicht an ihren Blättern oder der Borke erkennen, sondern allein von der Krone her benennen sollte.

Ich habe auch leidenschaftlich gerne Blumensträuße gepflückt. Die Wiesen waren damals noch voller Blumen, Blüten und Insekten. Die große Artenvielfalt meiner Kindertage gibt es nicht mehr. Es macht mich wehmütig, dass ein Drittel der heimischen Tier- und Pflanzenarten inzwischen vom Aussterben bedroht ist. Ein bedrückender Zustand, denn wir sind es, die Menschen, die die Lebensräume zerstören, die Umwelt verschmutzen, die Monokulturen anbauen, die Pestizide einsetzen. Diese Liste ließe sich endlos weiterführen. Heutzutage würde ich keinen Strauß mehr pflücken wollen. Mir tun die paar armseligen Blumen, die noch auf den Wiesen ­stehen, leid.

Mein Großvater war ein feinfühliger, taktvoller und sensibler Mann, ein echter Herr und eine imposante Erscheinung. Groß und stattlich, ein schöner Kopf mit riesigen Augen und einem Schnurrbart wie Kaiser Wilhelm.

Meine Großmutter wiederum war von enormer Durchsetzungsfähigkeit, eine tüchtige, energische Frau, vor der ich gewaltigen Respekt hatte. Sie hat mir oft Märchen vorgelesen, und ihr verdanke ich auch ein großes Repertoire an Liedern.

Großmutter war eine »Hatscherte«. Das heißt, sie hatte einen Buckel. Sie war mit einer Hüftdeformation auf die Welt gekommen. Laut Volksmund brachte das Anfassen eines Buckels Glück. Heute sieht man kaum noch bucklige Leute, weil die betroffenen Babys bereits früh versorgt werden. Doch meiner Großmutter ist ihr Buckel »vergoldet« worden. Sie brachte hunderttausend Goldmark als Mitgift mit in die Ehe, als sie ihren Cousin zweiten Grades heiratete.

Mein Großvater ist über Umwege Landwirt geworden. Obwohl er für diesen Beruf wie geschaffen war, musste er als der zweitgeborene Sohn zunächst Soldat werden. Landwirt zu werden war allein dem Erstgeborenen vorbehalten. So wollte es die Tradition. Sofern es einen dritten Sohn gab, konnte der nur noch Pfarrer werden.

Großvater besuchte die Kadettenschule zeitgleich mit einem entfernten Verwandten, dem Freiherrn Rüdiger von der Goltz. Eine glückliche Fügung, wie sich herausstellte, da es zwischen den beiden zu einer Vereinbarung kam. Von der Goltz bat meinen Großvater, seine drei Rittergüter in Hinterpommern als Güterdirektor zu verwalten. Dafür wollte er ihm ein Studium auf der Landwirtschaftlichen Hochschule in Halle an der Saale finanzieren, und mein Großvater konnte schließlich doch noch seiner Berufung nachgehen. Das Ganze war ein geheimnisvoller Deal, und niemand aus der Familie ist je dahintergekommen, was der eigentliche Grund für diese Abmachung war. Es kursierte das Gerücht, dass Vetter von der Goltz ein Mädchen schwängerte und mein Großvater ihm geholfen habe, dies zu vertuschen.

So wurde mein Großvater Gutsdirektor, und meine Großeltern zogen auf das hinterpommersche Rittergut Zietlow. Im Ersten Weltkrieg musste mein Großvater dann die Verantwortung für insgesamt fünf Güter übernehmen.

Vier Kinder gebar meine Großmutter: Zwei Töchter, meine Mutter Liselotte und meine Tante Jutta, genannt Jette, und zwei Söhne. Der ältere, Kurt, wurde der Tradition folgend Landwirt und der zweite, Harry, Offizier.

Meinen Onkel Kurt habe ich nie kennengelernt. Er hatte als Praktikant auf einem Gut in Schlesien die Tochter des Gutsbesitzers kennen und lieben gelernt. Die beiden wollten heiraten, doch als es so weit war und die Familie sich zur Hochzeit aufmachte, traf sie zu seiner Beerdigung ein. Kurt war ein paar Tage zuvor von einem Stier auf die Hörner genommen worden. Weil er die Hochzeit nicht gefährden wollte, hatte er niemandem etwas davon gesagt und war innerlich verblutet.

Mein Onkel Harry wurde gleich am Anfang des Zweiten Weltkrieges in einem Sonnenblumenfeld in der Ukraine erschossen. Noch immer habe ich den Schrei meiner Großmutter im Ohr, als sie das Telegramm mit der Todesnachricht erhielt. Noch heute denke ich oft an sie und frage mich angesichts meines eigenen Schicksals, ob sie den Tod ihrer beiden Söhne jemals verkraftete.

Nach Ende des 1. Weltkrieges beschloss von der Goltz, alle seine Güter selbst verwalten. Mein Großvater musste von heute auf morgen seine Tätigkeit beenden und mit seiner Familie aus Zietlow fortziehen. Sie gingen nach Stettin. Durch die Hyperinflation von 1923, einer Spätfolge der enormen Kapitalvernichtung des Ersten Weltkrieges, wurde auch noch ihr ganzes Geld, das sie für den Kauf eines eigenen Gutsbetriebes angespart hatten, von heute auf morgen wertlos. Weil mein Großvater nun auch nicht mehr in Lohn und Brot stand, waren sie plötzlich bettelarm. Um zu überleben, mussten sie nach und nach ihre Antiquitäten verkaufen. Meine Mutter und ihre Schwester Jette hatten in dieser Situation natürlich keine Aussichten mehr auf eine »gute Partie« und mussten einen Beruf ergreifen. Tante Jette wurde Krankenschwester, meine Mutter ging als Gouvernante nach Berlin.

Die unternehmungslustige Jette nahm meine Mutter eines Tages mit zu den Abschlussaufführungen der Schauspielschule, ein Vergnügen, das sie sich leisten konnten, denn sie hatte herausgefunden, dass es keinen Eintritt kostete. Dort lernte meine Mutter einen jungen Schauspieler namens Ludwig Schwiers, meinen Vater, kennen.

Jette, die die Durchsetzungskraft und Zähigkeit meiner Großmutter geerbt hatte, wollte die Situation ihrer Eltern nicht länger hinnehmen und schrieb Reichspräsident Hindenburg einen Brief, in dem sie ihm die Lage meiner Großeltern schilderte. Und sie hatte Erfolg. Ihr Schreiben bewirkte immerhin, dass die Familie von der Goltz meinem Großvater von da an eine Rente zahlen musste.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind meine Großeltern von Stettin nach Greifswald geflohen. Dort ist mein Großvater, der inzwischen dement war, verhungert. Meine Großmutter ging nach seinem Tod in ein Altenheim und starb bald darauf.

Das Verhältnis zu meinen Großeltern väterlicherseits war nie sehr eng, und wir besuchten sie nur selten. Es gab kaum Kontakt, obwohl sie, wie die Eltern meiner Mutter, ebenfalls in Stettin wohnten. Das lag vor allem an meiner Mutter, der die Familie meines Vaters nicht lag, weil sie in ihren Augen »neureich« war.

Mein Urgroßvater besaß zwei Maschinenfabriken in Bremen, und besagter Großvater, der zum Ingenieur ausgebildet worden war, übernahm sie gemeinsam mit seinem Bruder. Die Einführung der Goldwährung nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und das schnelle europäische Wirtschaftswachstum samt Fortschritts­euphorie hatten eine lang anhaltende Deflation zur Folge. Die Banken kündigten Kredite, und durch die eintretende Wirtschaftskrise verlor die Familie die Fabriken. Mein Großvater ließ sich als Ingenieur anstellen und wurde schließlich Prokurist und Leiter der technischen Abteilung der »Feldmühle«, einer großen Papierfabrik. Später gründete er in Stettin eine eigene Papierfabrik.

Mein Großvater galt als Eigenbrötler, und er war, was man einen »Spökenkieker« nennt. Die Gabe des Hell­sehens erbte er wohl von seinen Vorfahren. 1717 hatte eine Gesine Schwiers in Bremen die große Sturmflut vorausgesagt und dadurch vielen Menschen das Leben gerettet. Mein Großvater konnte eintretende Todesfälle vorhersehen. Einige Tage zuvor überfiel ihn dann stets ein starkes Grausen, ihm war, als sträubten sich ihm die Haare, und er hätte am liebsten losgeschrien. Zum Glück konnte er nicht prophezeien, wen das Todeslos traf, zumindest sprach er nie darüber. Aber es war immer ein Freund oder naher Verwandter, und es belastete ihn sehr. Weil er fürchtete, das »zweite Gesicht« könne ihn jederzeit überfallen, fuhr er nie selber Auto. Lieber nahm er den Güterzug zur Fabrik, der dort Material anlieferte und abholte. Dieser Zug hielt an einer breiten Schneise, an deren Ende die Fabrik lag. Eines Tages kam ihm sein Prokurist ent­gegen, als mein Großvater schrie: »Die Fa­brik brennt, seh’n Sie das nicht!« Die Fabrik brannte nicht, aber der Prokurist beschwor ihn daraufhin, die Versicherungssumme zu erhöhen. Schließlich war die Gabe meines Großvaters bekannt. Wie immer versuchte er auch dieses Mal strikt, sein »zweites Gesicht« zu ignorieren und weigerte sich, dem Drängen des Mitarbeiters nachzu­geben. Kurz darauf brannte die Fabrik tatsächlich ab, es blieben nur einige riesige Papierballen übrig. Mit diesem nicht verkohlten Rest gründete mein Großvater kurzerhand seine eigene Firma, die NORPA, die Norddeutsche Papiergroßhandlung.

Ich wusste lange nicht, dass ich mit der gleichen Gabe, dem zweiten Gesicht, geschlagen war, allerdings bei Weitem nicht so stark wie mein Großvater. Vor allem als Kind und junges Mädchen habe ich manchmal Ereignisse vorhergesehen. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit meiner Mutter in der Küche stand und ihr sagte, dass meinem Bruder Gösta etwas zustoßen würde. Tatsächlich hatte er zur selben Zeit einen Unfall mit der Straßenbahn. Die meisten meiner Vorahnungen haben meine Eltern allerdings als kindliche Phantasie abgetan, die ich reichlich hatte, und sie gingen meinen Vorhersagen auch nicht weiter nach. So bekam ich in den meisten Fällen keine Rückmeldung darüber, ob sie sich bewahrheiteten, und konnte sie auch nicht einordnen. Mit dem Älterwerden hat sich diese Gabe verloren. Auch die Schwester meines Vaters, meine Tante Agnes, hatte das zweite Gesicht.

Ich bin in Stettin, in der Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits, zur Welt gekommen. Es muss eine komplizierte Hausgeburt gewesen sein. Ich wollte offenbar partout nicht das Licht der Welt erblicken, sondern rutschte immer wieder zurück in den Mutterleib. Die Nabelschnur war mehrfach um meinen Hals gewickelt. Endlich entschloss sich der Arzt zu einem erlösenden großen Schnitt, und ich kam nahezu erstickt und blau auf die Welt. Meine Mutter hatte viel Blut verloren, weshalb man sich zunächst um sie kümmerte, während man mich zwischen ihren Beinen ablegte, wo ich im Blut und Fruchtwasser fast ertrunken wäre. Noch Wochen später, so wurde mir erzählt, hätte ich immer wieder niesen müssen.

Mein Großvater väterlicherseits war enttäuscht, dass es ein Mädchen war. Er zeigte wenig Interesse an mir und beachtete mich kaum. Meine Großmutter stand völlig unter seinem Pantoffel. Ende 1945 sind diese Großeltern vor den Russen von Stettin nach Lübeck geflohen. Dort lebte ihre Tochter, die ihnen in ihrem Haus ein Zimmer zur Verfügung stellte.

Bereits ein Vierteljahr nach meiner Geburt begann mein unstetes Leben, das von Anfang an vom Beruf meines Vaters und seinen häufigen Theaterwechseln bestimmt war. Er hatte ein Engagement nach Mainz bekommen. Es war eine lange Reise von Stettin bis an den Rhein. Meine Eltern mieteten ein Zimmer bei einer Frau, die mich sofort ins Herz schloss und »adoptierte«. Sie liebte mich, ihr »Kindsche«, vom ersten Augenblick an. »Dat Kindsche hat mich anjestraalt, dat schreit ja überhaupt nisch!« Trotz meiner schwierigen Geburt war ich offensichtlich von Anfang an ein glückliches und zufriedenes Kind.