Czytaj książkę: «Kullmann stolpert über eine Leiche»
Elke Schwab
Kullmann stolpert über eine Leiche
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Impressum neobooks
1. Kapitel
Titel
Kullmann
stolpert über eine Leiche
Elke Schwab
Originaltitel: Angstfalle
Es war schon dunkel, als Trixi mit ihrem Fahrrad nach Hause radelte. Im Friseursalon war viel los gewesen. Vom Tageslicht hatte sie nichts gesehen. In der Dunkelheit trat sie ihren Dienst an, in der Dunkelheit beendete sie ihn wieder. Es war Weihnachtszeit, eine Zeit, in der die Tage immer kürzer und die Nächte länger wurden, eine Zeit, in der Lichterketten und leuchtende Sterne die Fenster der Häuser zierten, sodass die Finsternis ein wenig erträglicher schien.
Die kalte Luft tat ihr gut. Während ihr Blick auf die hell erleuchteten Häuser fiel, nahm sie sich vor, an diesem Abend ebenfalls die festliche Dekoration herauszusuchen und ihr Haus weihnachtlich zu schmücken. Seit sie allein in dem großen Elternhaus lebte, fiel es ihr von Jahr zu Jahr schwerer, diesen Ritualen treu zu bleiben. Aber sie wollte sich dazu aufraffen. Es half nichts, alles schleifen zu lassen.
Den restlichen Weg zu dem großen Haus musste sie ihr Fahrrad schieben. Die Strecke war bergig und die Kondition, diesen Anstieg im Sattel zu bezwingen, hatte sie nicht.
Sie überquerte eine kleine Holzbrücke, die über den Grumbach führte. Zu dieser Jahreszeit rauschte der kleine Bach wie ein Wasserfall. Durch die starken Regenfälle der letzten Wochen hatte sich viel Wasser angesammelt. Ob das vorsintflutliche Gebilde ihr Gewicht noch lange aushalten konnte? Sie erinnerte sich nicht, dass die Brücke einmal gewartet worden wäre.
Die letzten Meter machten es ihr auch nicht leichter. Dort standen schon seit Jahren alte Autowracks und rosteten vor sich hin. Manchmal sah Trixi, dass sich jemand dorthin verirrte, als wolle er noch etwas Verwertbares finden.
Als sie sich der Haustür näherte, sah sie auf dem Boden ein rotes Päckchen liegen.
Sie stöhnte. Sollte das wieder ein Liebesbeweis ihres Lieferanten sein? Seit Monaten erhielt sie kleine Geschenke und Liebesbriefe. Kaum hatte Roland Berkes begonnen, für den Internationalen Paketdienst zu arbeiten, verfolgte er sie mit seinen Aufmerksamkeiten. Das musste ein Ende haben. Sie wollte nichts von diesem Mann und fühlte sich belästigt.
Sie nahm das Päckchen und warf es ungeöffnet in den Mülleimer. Wütend stapfte sie ins Haus. Der lange, schmale Flur lag im Halbdunkeln, obwohl sie die Deckenlampe eingeschaltet hatte. Sie sollte eine stärkere Glühbirne benutzen, was sie immer wieder zu besorgen vergaß. Als sie in die Küche gehen wollte, sah sie, dass die Tür zur Abstellkammer einen kleinen Spalt offenstand. Wie war das möglich, fragte sie sich erschrocken. Sie hatte doch einen Riegel anbringen lassen, weil das Türschloss alt und abgenutzt war. Damit wollte sie verhindern, dass die Tür von selbst aufging, denn sie erschrak jedes Mal, wenn sie sich mit einem leisen Quietschen öffnete. Hatte sie den Riegel vorgeschoben, als sie das Haus verlassen hatte? Sie wusste es nicht mehr.
Kaum hatte sie ihre Schuhe ausgezogen und neben der Garderobe abgestellt, klingelte das Telefon. Als sie abhob, erkannte sie Roland an seiner heiseren Stimme: »Hat es dir gefallen?«
Es war das erste Mal, dass er anrief. Also wurde er dreister.
»Ich will keine Geschenke von dir«, gab Trixi unfreundlich zurück. »Lass mich in Ruhe.«
»Aber, ich wollte dir nur eine Freude machen. Es ist doch bald Weihnachten, das Fest der Liebe. Du kannst mir nicht verbieten, dir etwas zu schenken!«
An diesen Worten erkannte Trixi, dass es schwierig würde, gegen seine Verliebtheit anzukämpfen. Er sah die Dinge einfach so, wie er sie sehen wollte.
»Ich will nichts von dir und du bekommst nichts von mir, basta.« Wütend knallte sie den Hörer auf die Gabel.
Auf dem Weg durch den Korridor ins Badezimmer, ließ sie nach und nach alle Kleidungsstücke auf den Boden fallen. Sie liebte es, chaotisch zu sein, ohne dass jemand sie zur Ordnung rief.
Ein heißes Bad täte ihr gut. Sie fror immer noch.
Als sie mit einem Buch in der Wanne lag und die Anspannung des Tages von ihr abfiel, hörte sie ein Poltern an der Haustür.
Erschrocken horchte sie auf. Sie wusste, dass die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Haus nicht die besten waren. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie nichts mehr instandsetzen lassen. Ihr fehlte das Geld dazu. Wieder polterte es im Flur. Nervös stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab und zog einen Morgenmantel an.
Im Flur lag zwischen Glasscherben das kleine Päckchen, das sie vor kurzer Zeit noch in den Mülleimer geworfen hatte. Das war doch die Höhe, fluchte Trixi vor sich hin. Wie kam der Schuft dazu, ihr nachzuspionieren?
Die Glasscherben stammten von einem der kleinen Fenster direkt neben der Haustür. Zum Glück war es so klein, dass niemand durchklettern konnte. Es war außerdem mit Gitterstäben gesichert. Diese Maßnahme hatte ihr Vater schon vor Jahren getroffen, wofür sie ihm jetzt dankbar war. Trotz allem musste sie es mit einem Brett zunageln, damit die Kälte nicht ins Haus dringen konnte.
Es ärgerte sie, sich am späten Abend noch mit solchen Unannehmlichkeiten herumärgern zu müssen. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich komplett im Erdgeschoss eingerichtet. Jedes der Zimmer im Obergeschoss steckte voller Erinnerungen an eine Zeit, die sie gerne vergessen würde. Ihr Entschluss sich unten einzurichten, war eine Flucht. Dessen war sie sich bewusst. Aber ein passendes Stück Holz würde sie hier nirgends finden. Also blieb ihr keine andere Wahl, sie musste nach oben gehen.
Im ehemaligen Elternschlafzimmer sah sie einen Schatten – da stand jemand.
Sie erschrak heftig, ihr Herz schlug wie wild, sie atmete stoßweise. Die Person gab keinen Mucks von sich. Sie wartete, bis ihr Puls sich wieder beruhigt hatte. Da erkannte sie, dass es sich um die alte, graue Schaufensterpuppe handelte, die ihre Mutter zum Lüften von Kleidern genutzt hatte. Schon als Kind war ihr das Monstrum unheimlich gewesen. Warum hatte sie es nicht schon längst weggeworfen?
Wütend stieß sie die gesichtslose Puppe um und schob sie unter das Bett.
Sie war heilfroh, als sie schon nach wenigen Minuten Teile eines alten Schrankes fand, die für ihr Vorhaben ausreichten. Fluchtartig eilte sie nach unten und machte sich daran, die Fensteröffnung zu vernageln. Hinterher betrachtete sie ihr Werk. Sie stellte fest, dass sie handwerkliches Geschick besaß.
Nun widmete sie sich ihren Pflanzen, eine Beschäftigung, die sie liebte und immer ablenkte. Sie füllte ihre Gießkanne mit Wasser und betrat das benachbarte Zimmer, das zur Vorderseite des Hauses zeigte. Früher wurde es als Esszimmer genutzt, was immer noch am Mobiliar zu erkennen war. Mit Intarsien verzierte Schränke, ein langer Tisch mit geschwungenen Beinen und gepolsterte Stühle schmückten einst dieses Zimmer, was ganz der persönlichen Note ihrer Mutter entsprach. Nichts in diesem Haus hatte jemals einen Hinweis darauf gegeben, dass eine Tochter existierte. Alles, der Stil der Möbel, die Art, wie es arrangiert wurde, die Gardinen, sogar die elektrischen Geräte, wie Musikanlage und Fernseher, musste nach den Vorstellungen ihrer Mutter platziert werden. Da war kein Platz für eigene Wünsche – ›Anpassen‹ lautete Trixis Lebensmotto, um nicht dem Zorn dieser Frau ausgesetzt zu sein. Sogar die Pflanzen hatten einen höheren Stellenwert als die Tochter. Die Mutter nahm sie nur bei ihren zahlreichen Vorträgen über Pflanzen wahr. Sie beherrschte ihre Umgebung und alles unterlag ihrer Kontrolle. Sie duldete keinen Widerspruch, war immer der Meinung, dass der Mensch sich nicht grundlos evolutionsgeschichtlich zum ›homo sapiens‹ entwickelt habe und dieses Privileg deshalb auch nutzen sollte. Während ihrer Pflanzenexkursionen durch das ganze Haus hatte Trixi die Pflicht, ihr aufmerksam zuzuhören und zu lernen. Ihre Mutter behauptete schon immer, dass der Mensch Einfluss auf die Natur nehmen sollte. Dabei meinte sie die Zucht der Pflanzen unabhängig von Jahreszeit und Umweltbedingungen. Trixi hatte diese Lehrstunden gehasst. Die Sprüche klangen ihr heute noch in den Ohren.
Obwohl ihre Mutter fest an die Unfehlbarkeit des Menschen geglaubt hatte, war es doch eine Überraschung, dass gerade sie so früh gestorben war.
Außerdem erstaunte es Trixi jedes Mal, wenn sie ihr botanisches Refugium betrat, wie sehr sie sich heute an dem Anblick erfreuen konnte – was ihr nie gelungen war, als ihre Mutter noch lebte. War es das umfangreiche Fachwissen, das zu immer gewagteren Experimenten antrieb? Oder war es die Genugtuung, jetzt genau die Dinge tun und lassen zu können, die ihr immer verboten worden waren?
Den großen Tisch, Mutters Augapfel benutzte sie heute als Blumenbeet. Auf den Kommoden standen nur Pflanzen, die sie selbst ausgewählt und arrangiert hatte. Sie waren nicht nur ihr Stolz, sondern auch immer wieder eine Herausforderung. Ein Ficus-Benjamini war zwischenzeitlich hochgewachsen und musste auf dem Boden stehen, damit seine Zweige nicht an die Decke stießen. Drachenbäume in verschiedenen Größen tummelten sich auf den Kommoden, auf Sideboards und auf alten Holzschemeln. Verschiedene Kakteen bildeten eine angenehme Abwechslung im Raum, eine Klivie, die nur einmal im Jahr leuchtend rot blühte, Orchideen, deren Farbenpracht eine Augenweide war. Außerdem experimentierte sie mit Samen und es gelang ihr nicht selten aus verschiedenen Arten Kreuzungen zu züchten. Sie brachte selbst exotische Pflanzen zu jeder Jahreszeit zum Blühen. Während sie jedes Gewächs begutachtete, strich sie liebevoll über einzelne Blätter. Ihre Laune hatte sich gebessert. Sie würde sich von Roland Berkes das Leben nicht schwer machen lassen, nahm sie sich vor, während ihr Blick fest an dem blühenden Maiglöckchen haftete, eine Pflanze, die schön aber auch giftig war. Sie verkörperte Eigenschaften, die Trixis Fantasie anregten.
Sie sammelte vertrocknete Blätter ein und löschte das Licht.
Nach diesem täglichen Ritual betrat sie ihr Schlafzimmer. Es war vollgestellt mit Schränken aus Kindertagen. Kommoden, Vitrinen, einem alten, breiten Bett, mehreren Nachttischschränkchen, Stehlampen und einem Ohrensessel, der einst ihrer Großmutter gehört hatte. Normalerweise empfand sie die Enge als gemütlich, aber heute spürte sie Beklemmung. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers sah sie direkt auf den Berg, an den das Haus angebaut worden war. Von dort drang nur wenig Licht herein, weil der bewaldete Hügel das Sonnenlicht schluckte.
Sie zog die Rollläden herunter und legte sich ins Bett. Leider war sie so aufgewühlt, dass sie Stunden brauchte, bis sie endlich einschlafen konnte. Deshalb wirkte sie am nächsten Morgen übernächtigt und gereizt. Ihre Kollegin und Freundin Käthe meinte ironisch: »Die Nacht ist zum Schlafen da. Auch für dich.«
»Ich konnte nicht schlafen, weil ich Schreckliches erlebt habe!«
»Machst du Witze?«
»Seit Monaten werde ich von einem heimlichen Verehrer belästigt. Findest du das witzig?«
Käthe starrte ihre Freundin nachdenklich an, schaute in den Spiegel und meinte resigniert: »Ich würde es witzig finden, überhaupt mal einen Verehrer zu haben.«
Trixi stellte sich neben sie. Ihr blondes Haar legte sich in sanften Wellen um ihr ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den leicht schräg stehenden Augen. Ihre Figur war schlank, die Beine lang, ihre Taille schmal. Käthe dagegen wirkte blass mit vielen Pickeln. Ihre Haare waren trotz intensiver Pflege strähnig, die Figur durch die vielen Medikamente, die sie einnehmen musste, aufgeschwemmt. Den Kittel trug sie offen, weil sie ihn nicht mehr zuknöpfen konnte. Ihre Arme waren mit roten Pusteln bedeckt, eine Allergie gegen die Medikamente, auf die sie nicht verzichten konnte. Sie litt an Epilepsie, also hatte sie die Wahl zwischen Krämpfen oder äußerlichen Beeinträchtigungen.
Schlagartig tat es Trixi leid, dass sie so heftig reagiert hatte. Ihr war es noch nie schwergefallen, Männerbekanntschaften zu machen. Deshalb nahm sie sich auch das Recht heraus, einen Mann selbst auszusuchen und sich nicht aussuchen zu lassen. Aber dass es auch anders sein könnte, darüber hatte sie nicht nachgedacht.
Entschuldigend nahm sie die junge Frau in den Arm, drückte sie an sich und schlug vor: »Ich färbe deine Haare blond und frisiere dich. Du wirst sehen, dass das viel ausmacht und du sofort besser aussiehst.«
»Das muss ich mir noch überlegen.«
»Überlege nicht zu lang. Wir sind schon dreißig, unsere biologische Uhr tickt.«
Am Nachmittag traf Roland Berkes mit einer neuen Lieferung ein. Trixi fauchte ihn im Hinterzimmer böse an: »Ist es notwendig, mir mit deinen doofen Geschenken die Scheiben einzuwerfen?«
Verständnislos stammelte er: »Nein! Was soll diese Frage?«
»Dann hör auf mir nachzuspionieren! Ich lasse mich nicht unter Druck setzen.«
»Das verstehst du völlig falsch«, wehrte sich Roland. Sein rundes Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Ich will dir doch nur eine Freude machen. Wenn dir mein Geschenk nicht gefällt, tut es mir leid. Sag mir, was ich dir schenken kann.«
»Gar nichts! Nichts, nichts und wieder nichts.«
»Aber, wie soll ich dir denn zeigen, was ich für dich empfinde?«
»Ich will nicht, dass du überhaupt etwas für mich empfindest. Such dir eine andere Frau.«
Geknickt und sichtlich ratlos verließ Roland das Hinterzimmer und den Salon. Trixi schaute ihm nach. Wie ein begossener Pudel wirkte er. War sie zu gemein zu ihm gewesen? Nein, schüttelte sie energisch den Kopf. Sie hatte sich richtig verhalten.
Am Abend regnete es. Dazu wehte ein kalter Wind. Die Heimfahrt war eine Qual, weil der Regen ihr in die Augen geriet, sodass sie alles verschwommen sah. Außerdem fror sie entsetzlich. Durch das Zittern ihrer Beine fiel ihr das Strampeln noch schwerer.
Endlich erreichte sie die Brücke.
Plötzlich drang ein lautes Scheppern an ihr Ohr, das sogar das Rauschen des Regens und des Windes übertönte. Es hörte sich an, als seien mehrere Metallteile aufeinandergeschlagen. Sie zuckte zusammen.
Zitternd vor Angst und Kälte sperrte sie daheim angekommen hastig die Tür auf und schob ihr Fahrrad in den Flur, was sie sonst nie tat. Aber das Geräusch hatte sie so erschreckt, dass sie nicht den Mut aufbrachte, das Vehikel im dunklen Keller zu verstauen. Das Untergeschoss bestand aus Gewölben, in denen Trixi hinter jedem Pfeiler das Schlimmste vermutete. Schon als Kind hatte sie sich davor gefürchtet, was ihre Mutter allerdings nicht interessierte. Beharrlich hatte sie das verängstigte Kind in den Keller geschickt, um Vorräte zu holen. Schlotternd vor Angst hatte sich Trixi gefügt, eine lästige Pflichterfüllung, die ihre Horrorfantasien beflügelt hatte. Heute lebte sie mit einer tief verwurzelten Angst. Das neu installierte elektrische Licht machte es nicht besser, im Gegenteil: Die dicken Pfeiler warfen lange Schatten, hinter denen sich leicht jemand verstecken konnte. Zum Glück konnte sie heute selbst entscheiden, ob und wann sie dieses finstere Gewölbe betrat.
Im Flur tropfte das Regenwasser vom Fahrrad und hinterließ eine hässliche, braune Pfütze. Trixi wollte die schmutzige Lache wegwischen, aber es tropfte immer wieder nach. Das Wasser hatte sich in den Schutzblechen über den Reifen gesammelt.
Enttäuscht machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer, als sie meinte ein Klopfen am Wohnzimmerfenster zu hören. Aber wie konnte jemand an ein Fenster klopfen, das sich in drei Metern Höhe befand?
Ängstlich betrat sie das große Zimmer, dessen Mobiliar zum größten Teil aus Antiquitäten bestand, ein Überbleibsel ihrer Eltern, die eine große Leidenschaft für alte Möbel hatten. Dazwischen standen ein elegant gestylter Sessel in gebrochenem Weiß und ein tiefes, bequemes Sofa mit Schonbezug, eine Errungenschaft, auf die sie sehr stolz war. Darunter lag ein teurer Perserteppich in einem kräftigen Blau, der ihre Schritte dämpfte. Ein Klappsekretär füllte die Ecke links vom Fenster aus, eine Vitrine, vollgestopft mit Porzellan und Kristallvasen die andere Ecke. Stehlampen in verschiedenen Stilrichtungen waren im ganzen Zimmer verteilt. Sie traute sich nicht eine dieser Lampen anzuschalten. Vorsichtig näherte sie sich dem Fenster, um das Rollo herunterzulassen.
Als sie sich ins Bett legte, hörte sie ein Geräusch am Schlafzimmerfenster. Der Rollladen war verschlossen, aber sie fühlte sich trotzdem nicht sicher. Nachts schreckte sie immer wieder hoch.
Unausgeschlafen verließ sie am nächsten Morgen das Haus. Vor der Tür wäre sie beinahe über einen bunten Blumenstrauß gestolpert. Sie konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen und betrachtete widerwillig das wunderschöne Arrangement leuchtend bunter Blumen. Eine Karte hing daran, es war eine Standardkarte aus dem Blumenladen. Die Grüße lauteten einfach nur: »In Liebe.«
Das reicht, dachte Trixi.
Auch wenn es ihr um die schönen Blumen leidtat; es war der Hintergedanke, der damit verbunden war, weshalb sie den Strauß entnervt zwischen die verrosteten Autowracks schleuderte. Durch dieses Ereignis war sie so aufgewühlt, dass sie nicht auf direktem Weg zu ihrer Arbeit im Saarbasar am Fuße des Eschbergs fuhr, sondern einen Umweg über die Polizeiinspektion in der Saarbrücker Straße machte.
Sie betrat ein kleines Büro und sah einen Polizeibeamten hinter einem Monitor sitzen.
»Ich möchte eine Anzeige erstatten«, begann sie.
»Gegen wen?«, fragte der Polizist und schaute sie prüfend an.
Trixis blondes Haar war zerzaust, ihr Gesicht fleckig, die Augen umschattet. Normalerweise schminkte sie sich erst im Friseursalon. Dieser Polizist musste einen tollen Eindruck von ihr haben.
»Gegen Roland Berkes.«
»Was tut er denn?«
»Er belästigt mich.«
»Wie?«
»Er schenkt mir Blumen, versucht immer wieder, mich zu einem Rendezvous zu überreden, legt mir Geschenke vor die Haustür, traktiert mich mit Anrufen.«
»Und darüber beschweren Sie sich?«
Trixi starrte den Beamten mit offenem Mund an. Hatte sie richtig gehört? Sie konnte es nicht glauben.
»Ich möchte den Kerl anzeigen«, wiederholte sie ihre Bitte.
»Was soll ich notieren?«, fragte der Polizist. »Anzeige wegen unerlaubten Schenkens von Blumensträußen?«
Wütend verließ Trixi das Polizeigebäude. Diese Abfuhr musste sie erst einmal verdauen. Während sie durch die Straßen zum Friseursalon radelte, überlegte sie, was sie falsch gemacht haben könnte. Die Reaktion des Bullen war ihr suspekt. Aber genau genommen hatte sie ihm auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Den Psychoterror, den Roland Berkes mit seinen Belästigungen anrichtete, hatte sie nicht erwähnt. Bestimmt hatte der Bulle sie falsch verstanden. Aber jetzt zurückkehren und alles nochmal versuchen, wollte sie auch nicht. Bei dem Mann war sie unten durch. Jetzt musste sie zuerst einmal abwarten, wie es weiterging, bevor sie einen neuen Versuch machte, sich Schutz bei der Polizei zu suchen.
Sie erreichten den Salon. Schon von weitem sah sie ich. Roland stand vor der Tür und erwartete sie. Das hatte gerade noch gefehlt. Am liebsten würde sie jetzt doch sofort umdrehen und zur Polizei zurückfahren. Aber damit könnte sie ihren Job riskieren, denn es warteten schon einige Kundinnen auf sie.
»Ich habe mich mit deiner Bestellung beeilt.« Roland begrüßte Trixi mit einem strahlenden Lächeln, als sei die Welt in Ordnung.
Im Tageslicht sah Trixi, dass er graue Augen hatte; die langweiligste Farbe, die sie kannte.
»Schön«, murrte sie. »Leg es auf den Tisch und verschwinde! Ich habe viel Arbeit.«
»Warum so unfreundlich? Ich möchte dich zum Essen einladen. Morgen kommt der Nikolaus und da wollte ich dir eine Freude machen.«
»Ich will nicht mit dir essen gehen, egal wer gerade an der Reihe ist, der Weihnachtsmann oder der Osterhase.«
»Aber warum denn nicht? Wir könnten uns aussprechen.«
»Das wäre reine Zeitverschwendung.«
»Schade! Vielleicht überlegst du es dir noch mal.« Roland zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ein Restaurant, da kann man wirklich gut essen. Es würde dir gefallen.«
Trixi stemmte energisch ihre Hände in die Hüften und wartete, bis er in seinen Kleinlaster eingestiegen und davongefahren war. Erst dann konnte sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren.
Käthe traf kurze Zeit später ein. Als sie Trixis Gesicht sah, zuckte sie zusammen.
»Wie siehst du denn aus?«
»Ich habe schlecht geschlafen, weil ich wieder einmal von dem geisteskranken Roland Berkes wachgehalten wurde.«
Käthe schüttelte den Kopf, zögerte eine Weile und erwiderte: »Lade ihn ein und rede mit ihm. Nur so kannst du Missverständnisse aus dem Weg räumen.«
»Ich dachte, du wärst meine Freundin.«
»Bin ich doch auch. Ich wollte dir nur einen Vorschlag machen, wie du diese unerträgliche Situation erträglich machen kannst.«
»Indem ich jemanden in mein Haus lasse, der mir gefährlich werden kann?«
»Roland Berkes ist gefährlich? Du verrennst dich in etwas.«
»Du glaubst mir nicht«, schlussfolgerte Trixi.
»Das stimmt nicht. Ich habe einfach nur das Gefühl, dass du die Situation nicht richtig beurteilst.«
Wieso sollte Käthe ihr glauben, dachte Trixi grimmig, wenn ihr sogar die Polizei nicht glaubte.
Aber Käthe war noch nicht fertig: »Trotzdem bin ich der Meinung, dass ihr miteinander reden müsst. Wie willst du ihm sonst klar machen, dass er sein Liebeswerben einstellen soll?«
»Das kann ich nicht, weil er das gar nicht hören will. Er hört nur das, was ihm in den Kram passt. Also würde ein Gespräch nichts bringen. Glaubst du, ich hätte das noch nicht versucht?«
»Erstaunlich, wie unbeholfen du dich anstellst. Ich erinnere mich, dass du schon geschickter warst.« Käthe schüttelte den Kopf.
»Sprichst du von Bruno Dold?«
Käthe nickte.
Mit Schrecken erinnerte sie sich an den aufdringlichen Mann. Er war als Kunde in den Salon gekommen und hatte damit geprahlt, dass er alle handwerklichen Arbeiten verrichten könne. Daraufhin hatte Trixi ihn gebeten, eine Wasserleitung in ihrem Haus zu reparieren, was sich schnell als Fehler herausgestellt hatte. Immerzu hatte er versucht, sie anzufassen, dabei einen Blick aufgesetzt, der Liebe ausdrücken sollte, der Trixi aber nur noch mehr abschreckte. Seine kräftige Gestalt hatte ihr Angst eingejagt. Neben ihm hatte Trixi sich wie die weiße Frau in den Fängen des Riesenaffen King-Kong gefühlt.
Immer wieder hatte er ihr aufgelauert, obwohl sie kratzbürstig ohne Ende gewesen war. Aber Bruno hatte sich davon nicht beeindrucken lassen.
»Wie kannst du behaupten, dass ich bei Bruno Dold erfolgreicher war?«
Käthe schaute ihre Freundin eine Weile an, bevor sie mit einem Schulterzucken antwortete: »Fiel mir nur so ein.«
Sie mussten ihr Gespräch beenden, weil die ersten Kunden den Salon betraten.
Es wurde ein langer Arbeitstag, der Betrieb wollte nicht abreißen. In der Vorweihnachtszeit setzten die Kunden alles daran, nicht nur das Haus schön zu gestalten, sondern auch selbst vorteilhaft auszusehen. Alle sprachen von ihren Dekorationen, viele konnten von neuen Errungenschaften berichten, die ihre Häuserfronten zierten. Das hätte Trixi ablenken können, wäre da nicht dieser Artikel der Saarbrücker Zeitung gewesen, der auf der Titelseite stand – mit so großen Lettern, dass sie immer wieder darauf schauen musste: »Frau wurde Opfer ihres Verehrers«
In der Mittagspause nahm sie das Blatt und las den ganzen Artikel durch.
»Am Mittwoch wurde eine fünfundzwanzigjährige Tote in ihrer Wohnung in Saarbrücken, Preußenstraße, gefunden. Die Nachbarn wurden durch den bestialischen Geruch aufmerksam.
Im Verdacht steht ein junger Mann, der der jungen Frau ständig nachstellte – aber auf Ablehnung stieß. Nach Aussagen der Nachbarn ließ das Opfer den Besucher nicht in ihre Wohnung, sondern stritt sich mit ihm lautstark im Treppenhaus. Die Polizei schließt auf eine Tötung im Affekt.«
Der Bericht erschütterte Trixi. Das war ihre Geschichte. Das sollte doch für die Polizei eine Warnung sein, aufdringliche Besucher genauer unter die Lupe zu nehmen. Den Rest des Tages verbrachte sie wie in Trance. Sollte sie froh darüber sein, dass dieser Bericht in der Zeitung stand, weil sie dadurch vielleicht glaubwürdiger werden könnte? Oder sollte sie vorsichtiger sein, weil sie darin lesen konnte, wie weit die Verfolger gingen?
Den Kopf voller zermürbender Gedanken radelte sie in der Dunkelheit nach Hause. Sie musste sich unbedingt ablenken. Das würde ihr am besten gelingen, wenn sie Haus und Zimmer weihnachtlich schmückte.
In ihrem Haus brannte Licht.
Vergessen war der gute Vorsatz.
Erschrocken blieb sie vor der alten Brücke stehen und schaute auf das hell erleuchtete Fenster. Sie war ganz sicher, am Morgen alle Lichter ausgeschaltet zu haben. Was sollte sie tun? Wenn sie das Haus betrat, und Roland dort schon auf sie wartete, wäre sie ihm hilflos ausgeliefert.
Voller Angst drehte sie sich um und hetzte zielstrebig zur Polizeidienststelle in der Saarbrücker Straße.
Ein junger Polizeibeamter hatte Dienst. Als sie ihm außer Atem berichtete, in welchem Zustand sie ihr Haus vorgefunden hatte, zögerte er. Trixi schaute ihn eindringlich an, doch er erwiderte den Blick, ohne einen Kommentar abzugeben.
»Haben Sie heute schon die Saarbrücker Zeitung gelesen?«
»Nein. Warum?«
»Da gibt es einen Artikel über eine Frau, die von ihrem Verfolger getötet wurde. Das könnte mir auch passieren, wenn Sie nichts unternehmen.«
Daraufhin las er aufmerksam den besagten Bericht auf der Titelseite. Währenddessen schaute er sie immer wieder an.
»Sie glauben also, dass Sie ein Stalking-Opfer sind?«
»Genau das«, antwortete Trixi aufgeregt. Der Polizeibeamte sprach genau das aus, was sie empfand.
Sie fuhren mit einem Dienstfahrzeug in den Grumbachtalweg. An der alten Brücke musste er das Auto abstellen. Zu Fuß legten sie das letzte Stück zurück.
Das Haus lag in völliger Dunkelheit.
»Eben hat noch Licht gebrannt.« Trixi war verzweifelt.
Der Polizist ging mit ihr hinein. Alles war dunkel und still. Er durchsuchte jedes Zimmer, um sich davon zu überzeugen, dass dort niemand lauerte. Vor der Tür, die zum Treppenhaus führte, blieb er erstaunt stehen und schaute Trixi fragend an.
»Wo führt diese Tür hin?«
»Zur Treppe nach oben.«
»Haben Sie dort immer abgeschlossen?«
»Ja!«
»Warum?«
»Ich benutze die oberen Etagen nicht mehr, seit meine Eltern tot sind.«
»Ich möchte mir gern die oberen Zimmer ansehen. Wenn sich wirklich jemand unbemerkt im Haus aufhält, hätte er ein leichtes Spiel.«
Sie eilte in die Küche, zog mehrere Schubladen auf, bis sie den passenden Schlüssel fand. Als sie sich umdrehte, stand der Polizist dicht hinter ihr. Aber ihr erster Eindruck, dass er sich ihr nähern wollte, wurde mit seiner nächsten Frage zunichte gemacht: »War der Schlüssel schon immer in dieser Schublade?«
Trixi war unsicher. Sie hatte den Schlüssel in einer der oberen Schubladen vermutet, könnte sich aber auch irren. Sie las den Namen auf der Uniform des Polizisten:
H. Hollmann, Polizeihauptmeister.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie dann.
»Dann kommen wir nicht umhin, die obere Etage zu überprüfen.«
Er sperrte die Tür auf und schaltete das Licht an. Langsam stieg er nach oben, gefolgt von Trixi, die sich immer unbehaglicher fühlte. Der Polizist durchsuchte jedes Zimmer – ohne Ergebnis. Wieder im Erdgeschoss wollte er auch den Keller sehen. Trixi nickte mutlos, weil sie inzwischen die Hoffnung aufgegeben hatte, dass es irgendwo im Haus eine Spur des Eindringlings geben würde. Dieser Kerl war einfach zu geschickt.
Die Kellerräume waren feucht und dunkel. Die Glühbirne an der Decke spendete nur wenig Licht. Hollmann schaltete zusätzlich seine Taschenlampe an, um etwas erkennen zu können. Die Rückseite des Hauses war direkt an den Berg angebaut. Dadurch zog Feuchtigkeit in die Wände. Hässliche Ränder zeichneten sich vom grauen Putz ab.
Spuren eines Einbrechers fand er nicht.
Wieder im Hausflur standen sie sich schweigend gegenüber, bis sein Blick auf die Tür zur Abstellkammer fiel.
»Was befindet sich dort?«
»Meine Abstellkammer. Ziemlich überfüllt.«
Trotzdem warf er einen Blick hinein, wobei er das bestätigt fand, was Trixi geschildert hatte.
Für den Polizisten gab es nichts mehr zu tun. Es fiel Trixi schwer, ihn gehen zu lassen. Seine Anwesenheit gab ihr das Gefühl von Sicherheit, genau das, was sie brauchte. Aber sein Blick verriet Zweifel an ihrer Geschichte.
Wie ein Hüne stand er vor ihr, seine grünen Augen schauten auf sie hinab, sein rötlichblondes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt. Er war ein attraktiver Mann.
»Haben Sie einen Computer?« Mit dieser Frage holte er sie in die Gegenwart zurück.
»Ja, im Wohnzimmer.«
»Dann haben Sie sicherlich auch eine E-Mail-Adresse?«
»Ja, aber ich benutze den Rechner selten.«
»Sollte es sich wirklich um einen Verfolger handeln, der es auf Sie abgesehen hat – so wie Sie die Sachlage schildern – besteht die Möglichkeit, dass er auch diese Technologie nutzt, um mit Ihnen in Kontakt zu treten. Oftmals geschieht das durch beleidigende E-Mails. Schauen Sie bitte nach, ob in letzter Zeit eine Nachricht bei Ihnen eingegangen ist?«