Ein ganz klarer Fall

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Z serii: Kullmann-Reihe #1
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Ein ganz klarer Fall
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Elke Schwab

Ein ganz klarer Fall

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Impressum neobooks

Prolog

Ein ganz klarer Fall

vonElke Schwab

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2017

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Elke Schwab

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Es war noch dunkel, als Johann sich aus dem warmen, verlockenden Bett heraus quälte. Was ihn veranlasste, zu dieser unchristlichen Zeit aufzustehen, war seine neben ihm leise schnarchende Frau.

Ahnungslos hatte sie ihn darauf gestoßen, wie unförmig er geworden war. Doch der Gedanke, sie könnte ihn durch seine völlig aus der Form geratene Figur verlassen und sich einem anderen Mann zuwenden, genügte, seine Energie anzuspornen und seinen inneren Schweinehund einfach zu ignorieren. Schwerfällig stieg er in seine Shorts, die ihn noch lächerlicher aussehen ließen, und in seine Joggingschuhe. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf seine hübsche, junge Frau verließ er das Schlafzimmer und das Haus.

Es war ein schwüler Morgen, der alle Lebensgeister drohte, wieder schwinden zu lassen. Aber er hatte ein Ziel vor Augen und das war das einzige, das ihn an seinem Entschluss festhielt. Sich selbst Tatenfreude vortäuschend lief er los, wobei er noch einen letzten Blick auf die Uhr warf. Es war in der Tat erst zehn vor fünf, der Tag begann erst zu erwachen.

Schwermütig lief er durch die noch völlig ruhige Straße. In einigen Stunden wird dort reger Verkehr herrschen und nichts mehr an diese Atmosphäre erinnern. Er bog ab in den Waldweg, der auf den Burbacher Weiher zuführte. Dort hatte er schon manche ruhige Stunde mit seiner Frau verbracht, bei gutem Essen und gutem Wein. Dieser Gedanke brachte seinen Entschluss tatsächlich ins Wanken und krampfhaft bemühte er sich, an andere Dinge zu denken. Aufmerksam richtete er seine Augen auf den noch in der Dunkelheit liegenden Weg, um zu vermeiden, über zu stolpern, als er plötzlich glaubte, etwas Rotes gesehen zu haben. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf und verwarf den Gedanken wieder. Im Wald gab es nichts, was rot leuchtete. Und trotzdem erkannte er es wieder: es war eindeutig rot und passte nicht hierher. Neugierig geworden kam er von seiner üblichen Route ab und steuerte das rote Etwas an. Als er immer näher kam, erkannte er, dass dort im Wald völlig verlassen ein rotes Auto stand, dessen Fahrertür und Beifahrertür weit geöffnet waren.

Erschrocken blieb er stehen und lauschte, aber er konnte keinen Mucks hören. Alles war still, bis auf wenige Vögel, die bereits erwacht waren und den neuen Tag mit ihrem Gezwitscher ankündigten.

Sein Herz begann zu schlagen, auch sein Atem wurde heftiger, obwohl er noch keinerlei Anstrengung hinter sich hatte. Was störte ihn so an dem Anblick dieses Autos?

Zögernd näherte er sich, wobei er feststellen musste, dass dieses Fahrzeug weit vom ursprünglichen Weg abgekommen war, so als habe der Fahrer die Abgeschiedenheit gesucht. Als er kurz davor stand, erkannte er endlich, warum die Türen offenstanden. Er glaubte fast, der Schlag müsste ihn treffen. So etwas hatte er nicht erwartet. Taumelnd vor Entsetzen wich er einige Schritte zurück und fiel plumpsend auf sein Hinterteil, das schlagartig durchnässt war. Ruckartig erhob er sich, wandte sich von diesem Anblick ab und rannte in Bestzeit den Weg zurück, den er gekommen war. Sein Atem ging heftig aber der Schrecken, den dieser Anblick in ihm verursacht hatte, ließ es einfach nicht zu, müde zu werden. In kürzester Zeit, die ihn bereits an die Olympiaklasse erinnerte, erreichte er sein Haus, sperrte unter Zittern die Haustür auf und eroberte das Telefon.

Kapitel 1

Knapp eine halbe Stunde später schritt Kullmann im frühmorgendlichen Nebel auf dieser Lichtung auf und ab. Die Spurensicherung war gleichzeitig mit ihm eingetroffen und hinterließ den Eindruck von Ameisen, die unentwegt in Bewegung waren und wie mechanisch ihre Arbeit machten.

Den Blick hatte er schon lange vom Tatort abgewendet. Viel zu oft war er in seiner langen Dienstzeit mit den Grausamkeiten des Lebens konfrontiert worden. Bilder, die sich langsam in sein Gemüt schlichen, die ihn zermürbten, ihn nachts nicht mehr schlafen ließen. Anblicke, die ihm in Stunden, die er allein war, den Schweiß ins Gesicht trieben. Wie viele Jahre seines Lebens verbrachte er schon damit, grausame Taten aufzuklären, Menschen das Handwerk zu legen, junge Menschen hinter Gitter zu bringen und ihnen somit jeden Lebensweg zu versperren. Wie viele junge Menschen sah er vor sich liegen. Tot, verstümmelt, misshandelt. Menschen, deren Schicksal mit einem Schlag gewaltsam beendet worden war.

Was war nur in die Menschheit gefahren, dass so viele grausame Dinge geschahen? Ein Menschenleben galt heutzutage nichts mehr, denn die Zahl der Opfer wurde immer größer, die Zeiten wurden immer schlechter. Da schritt er nun auf und ab. Das Haar schon licht und grau, tiefe Falten im Gesicht, die seinen tiefen Schmerz verrieten und für seine 58 Jahre schon arg vom Leben gezeichnet.

Er wirkte einfach alt und ausgelaugt. In seinen 30 Dienstjahren hatte er zu viel Leid und Elend gesehen, wovon er immer ein Stückchen in seinem Innersten mitgetragen hatte. Diese Spuren waren nicht zu übersehen.

»Norbert«, hörte er seinen jungen Kollegen rufen, mit dem er bereits seit fünf Jahren zusammenarbeitete, und dessen Temperament ihn immer wieder verwunderte und verärgerte; ja ihn sogar wütend machte. Wütend darüber, dass er selbst so ohnmächtig war, es nicht zügeln zu können. Andreas Hübner war vor einiger Zeit zum Kommissar befördert worden, was er nur seinem besonderen Ehrgeiz verdankte. Ein Ehrgeiz, der jeden menschlichen Zug in den Schatten stellte. Oft schon hatte er versucht, ihm aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen klarzumachen, dass beruflicher Erfolg und nüchterne Ermittlungen nicht alles im Leben waren. Es waren immer noch Menschen, über die ermittelt, geurteilt und gerichtet wurde. Aber das übersah sein Kollege, was wohl auch seiner jugendlichen Unerfahrenheit und seinem Temperament zugeschrieben werden konnte. Aber er würde nie damit aufhören, ihn zu mäßigen und zu belehren. Es war das einzige, was er tun konnte.

Nur so konnte er guten Gewissens sein, alles getan zu haben, um vielleicht voreilige Handlungen zu vermeiden. Er wandte seinen Blick dem jungen Kollegen zu, der mit großen Schritten auf ihn zukam. Hübner war ein gutaussehender junger Mann, mit blondem Haar, braungebrannt und athletischem Körper, was Norbert Kullmann ihm zugestehen musste. Er war eher klein und gedrungen, sein Haar war bereits schon in jungen Jahren silbrig grau, wodurch er schon immer älter aussah. Verärgert musste er mit ansehen, wie Hübner auf die Frauen wirkte, wie die Frauen sich bemühten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In solchen Situationen war er niemals gewesen. Bisher hatte er sein Leben allein bestreiten müssen. Mit Frauen hatte er wenig Erfahrung. Ob es nun gut war oder nicht vermochte er nicht zu beurteilen, weil er es nicht anders kannte. Aber wenn er überlegte, mit welchen Schwierigkeiten und Eheproblemen seine Kollegen oftmals zu ihm kamen und ihm ihr Herz ausschütteten, war es vielleicht nicht der schlechteste Weg.

 

»Norbert, die Tatwaffe liegt noch im Wagen. Es ist eine 8 mm. Komm’ mit und schau dir das an«, drängte der junge Kollege voller Eifer, womit er ihn völlig aus den Gedanken riss.

Dieser Fall, der die beiden am Samstagmorgen schon um 6.00 Uhr aus den Betten geworfen hatte, weckte ganz besonderes Interesse bei dem jungen Kollegen. So etwas ist in seinen Dienstjahren, die er mit Kullmann zusammenarbeitete, noch nicht dagewesen.

Dieses besondere Interesse konnte Kullmann jedoch nicht mit ihm teilen, da er, wenn er Bilanz zog, in seinen langen Dienstjahren bereits so viele schreckliche Ereignisse und Taten miterlebt hatte, dass es ihn nur noch depressiv stimmte. Was hatte er in all den Jahren eigentlich gemacht? Was hatte er verändert? Was erreicht?

Nichts. Als er anfing, war auch er voller Tatendrang und Ideen. Er glaubte, das zu schaffen, was anderen nicht gelungen war: das Gute siegen zu lassen und die Bösen zu bestrafen. Das Ergebnis hatte er jetzt. Er bewegte sich nur im Kreis. Hier ein Attentat aufgeklärt, dort den nächsten Fall auf dem Tisch. Die Bösen gingen niemals aus, niemals. Auch Hübner würde das nicht ändern können. Nur es ihm jetzt schon zu sagen, wäre einfach zu früh. Er würde es nicht glauben wollen. Genauso wie er damals. Hübner ließ ihn oft wieder daran, denken, wie er früher war und wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er haargenau so angefangen hatte wie sein Kollege heute.

Oft war ihm in letzter Zeit sein damaliger Vorgesetzter, Edgar Britz, ins Gedächtnis gekommen. Auch er war gezeichnet durch seine jahrelange Konfrontation mit Leiden und Sterben. Seine Versuche, den damals jungen Kullmann in seinem Ehrgeiz zu bremsen waren anfangs auch gescheitert. Wieder dieser Teufelskreislauf, stellte Kullmann wie so oft fest, alles endete wieder am Anfang. Auch erinnerte er sich in diesem Augenblick schmerzlich daran, dass nach kurzer Zeit Edgar Britz selbst das Opfer eines Attentats wurde. Erst dann, als es zu spät war, hatte Kullmann ihn verstanden. Dieses Ereignis veränderte sein ganzes Denken und Handeln. Edgar Britz war ein so wunderbarer, korrekter, aufrichtiger Mensch, mit einem so klaren und guten Charakter, wie man es heute wohl nicht mehr oft erleben konnte. Alle Fälle, die er bearbeitete, wurden mit einer Korrektheit ausgeführt, dass es an Perfektionismus grenzte. Edgar Britz sagte man nach, er arbeitete nicht nur für das Recht, er war es. Als es dann diesen Mann traf, waren alle, die mit ihm arbeiteten oder die ihn kannten zutiefst betroffen und erschüttert. Wer konnte diesem Menschen, der sich so vehement für das Gute einsetzte und das Böse bekämpfte, so etwas antun? Die Antwort war ganz einfach: die unbesiegbaren Bösen. Der Fall wurde niemals aufgeklärt, so sehr sich der ganze Polizeiapparat auch darum bemühte. Auch er selbst hatte lange Nachforschungen angestellt, aber nichts erreicht. Der Täter kam irgendwo aus dem Nichts und verschwand auch wieder dorthin.

Es gab keine Chance, ihn zu fassen. So wie es niemals eine Chance gab, das Böse zu fassen.

Edgar Britz war mit einem Auto mehrfach überrollt worden, bis er endlich starb. Es war die grausamste Tat, die Kullmann je erlebt hatte – auch in den nachfolgenden Dienstjahren.

Kopfschüttelnd wandte er sich wieder der Gegenwart zu. Es handelte sich um zwei Männer, die erschossen – einer vor dem Wagen und einer am Steuer des Wagens – von einem Jogger aufgefunden worden waren. Den Papieren konnte man entnehmen, dass sie 39 und 41 Jahre alt waren. Der erste Eindruck, den die Kollegen beim Anblick dieser Leichen hatten, war, dass sie friedlich schliefen. Sie hatten beide die Augen geschlossen, als habe man sie im Schlaf erwischt. Lediglich an dem ausgetretenen Blut, erkannte man, dass sie tot waren. Andreas Hübner versuchte voller Eifer seinem Kollegen alles, was er bisher entdecken konnte, zu erklären, doch Kullman winkte entnervt ab. Wieder vergrub der Alte seine Hände in den Jackentaschen und ging langsam auf den Dienstwagen zu, den er zusammen mit seinem jungen Kollegen in den Einsätzen fuhr.

»Norbert?«, hörte der Hübner ihm völlig verwirrt nachrufen.

»Ich fahre ins Büro zurück. Erledige du hier alles und lass’ dich von einem anderen Kollegen zurückfahren.«

Hübner ging schnellen Schrittes auf den Dienstwagen zu und hinderte den Alten daran, die Wagentür zuzuschlagen.

»Was ist los mit dir? Wir arbeiten doch immer noch im Team, oder ist mir da was entgangen?« Auf Kullmanns Schweigen hin fügte er an: »Oder wird einfach nur dein Gemüt zu schwach?« Die leichte Ironie in seinem Ton war nicht zu überhören.

Kullmann schaute zu ihm hoch in sein vor Eifer errötetes Gesicht, das von blonden im Wind flatternden Locken eingerahmt war, und lächelte: »Mein Gemüt wird nicht zu schwach. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Job. Ich lasse mich besser zum Innendienst versetzen. Vielleicht kann ich als Schreibtischhengst noch einmal aufwiehern.«

Hübner war völlig sprachlos. Er sah zu, wie sein älterer Kollege die Tür zuschlug, den Wagen startete und davonfuhr. Verwirrt ging er wieder an den Tatort zurück, um weitere Spuren zu sichern.

Es hatte begonnen zu nieseln. Kullman musste die Scheibenwischer einschalten, um besser den zähfließenden Verkehr beobachten zu können. Sein Weg führte über die Hochstraße, die Breite Straße und weiter am Saarbrücker Hauptbahnhof vorbei, wo die Verkehrsdichte selbst am Samstagmorgen unerträglich war.

Wütend hupten und blinkten die Autofahrer auf, aber was nützte es? All die Ungeduld dieser Menschen – es wurde immer schlimmer statt besser, dachte Kullmann, wobei seine Gedanken wieder zu den beiden Toten schweiften. Wofür das alles, diese Hektik, diese Eile?

Die Zeit war der böse Geist unserer Gesellschaft, der sich in unsere Gemüter schlich, ohne dass wir es bemerkten. Für diese beiden Opfer hatte sie nun keine Bedeutung mehr. Am Ende hatte die Zeit für keinen Menschen mehr irgendeine Bedeutung und doch rannten sie ihr immer wieder hinterher.

Am Polizeigebäude stellte er den Dienstwagen in dem von hässlichen Mauern eingerahmten Hof ab und eilte in sein Büro, das in der ersten Etage lag. Auf seinem alten Schreibtisch prangte ihm eine neu angelegte Mappe entgegen, die Kullmann in Erstaunen versetzte. Wo kam diese Mappe her? Wer arbeitete schon so früh am Samstagmorgen in diesem Büro? Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und vermittelte ihm direkt ein heimisches, wohltuendes Gefühl, das ihn von seinem pessimistischen Gedanken ablenkte.

»Guten Morgen, Chef“, hörte er die fröhliche Stimme seiner jungen Kollegin Anke Deister, die erst seit einem halben Jahr im Polizeidienst angestellt war, sich aber in der Kürze der Zeit zu einer beliebten und begehrten Kollegin entpuppt hatte. Sie war stets guter Laune, trotz dieser psychisch belastenden Tätigkeit in der Mordkommission. Stets hatte sie ein freundliches Lächeln parat, womit sie sogar den schlecht gelaunten Kollegen Kullmann wieder besänftigen konnte. Ihre jugendliche Schönheit und ihre Lebendigkeit brachten jungen Wind in diese alten Gemäuer, wie Kullmann stets, wenn er sie ansah, begeistert feststellen musste. Sie war von einem gesunden Ehrgeiz eingenommen, der sie vergessen ließ, dass das Leben für junge Menschen auch noch andere Angebote bereithält. Diese Eigenschaft bewog sie auch dazu, am Samstagmorgen in aller Frühe im Büro zu sitzen und Aktenmaterial für den Doppelmordfall zusammenzustellen.

»Was tun Sie hier um diese Zeit?«, konterte Kullmann, ohne den freundlichen Gruß zu erwidern. Es war ihm zweifelhaft, wie eine junge, hübsche Frau ihre freie Zeit auf diese Weise vergeuden konnte. Sie gehörte unter junge Menschen, die abends die Disco besuchten und morgens lange schliefen, und nicht hierher in diese grauen Mauern.

»Gut gelaunt, wie immer«, zwitscherte sie zu ihrem Chef und nahm ihm mit ihrer Heiterkeit den Wind aus den Segeln. »Sie wissen doch, dass meine Arbeit mich interessiert, und so ein Fall ganz besonders«, kam sie mit einer Tasse Kaffee aus dem kleinen Nebenzimmer und stellte sie Kullmann direkt vor die Nase, damit er gar nicht auf den Gedanken kam, weiter über das Thema zu diskutieren.

»Woher haben Sie schon so viel Aktenmaterial, es ist doch erst sieben Uhr?«, wunderte Kullmann sich und schaute sich die ersten Informationen kaffeetrinkend an. Es waren Zusammenstellungen über die beiden Toten, deren Familienangehörigen, und über die Firma, in der sie beschäftigt waren. Wie Anke Deister bereits in Erfahrung bringen konnte, hatten sich die beiden Opfer auf einer Betriebsfeier aufgehalten, von der sie nicht mehr nach Hause gekommen waren.

»Ich habe von Hübner herausbekommen, wer die beiden waren und bin darauf hin ins Büro gefahren, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Hier habe ich dann gleich eine Meldung gesehen, dass die Herren Klos und Wehnert von den Ehefrauen bereits als vermisst gemeldet wurden, weil sie von der Betriebsfeier nicht mehr zurückgekehrt sind. Diese Meldung wurde zwar noch nicht bearbeitet, weil es im Normalfall viel zu früh gewesen wäre, aber hier liegt der Fall wohl anders. Also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Viel habe ich ja noch nicht herausgefunden, ich wollte schließlich die beiden Frauen noch nicht über ihr Schicksal informieren. Das überlasse ich zuständigkeitshalber Ihnen.«

Den letzten Satz unterstrich sie mit einem frechen Grinsen, worüber Kullmann sich ärgerte. Sie wusste ganz genau, wie unangenehm es ihm immer wieder war, den Betroffenen die schlimme Botschaft zu übermitteln. Eilig verschwand sie wieder in ihrem Büro, damit er keine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Aber es war ihm auch gar nicht danach zumute. Als er in die Mappe schaute, las er, dass Herbert Klos 39 Jahre alt war, verheiratet war und 2 Kinder, Zwillinge, hatte, was ihm direkt einen Stich gab. Das zweite Opfer, Jürgen Wehnert, war 41 Jahre alt, ebenfalls verheiratet und hatte eine Tochter. Schlimmer hätte es für ihn nicht kommen können. Er konnte sich schon die Szenen vorstellen, die auf ihn zukommen würden. Wie oft hatte er das schon erlebt. Illusionen, die innerhalb von Sekunden zerstört waren, Schicksale, die mit einem Schlag besiegelt waren und Menschen, die am Verlust des Mitmenschen zerbrachen. Nicht selten wollten diese Menschen ihn für das, was er übermittelte, auch noch verantwortlich machen. Dabei litt er jedes Mal mit ihnen und wünschte sich selbst auf einen anderen Planeten. Auch diese unausgesprochenen Schuldzuweisungen dieser Opfer hinterließen deutliche Spuren in ihm. Bei jedem Verlust eines Menschen litt ein Stückchen in ihm mit.

Missmutig notierte er sich die Anschriften der beiden betroffenen Familien und machte sich auf den Weg. Je eher, desto besser, dachte er.

Mit langsamen Schritten ging er wieder hinunter zum Parkplatz auf seinen Dienstwagen zu, als gerade die übrigen Kollegen vom Tatort vorgefahren kamen. Hübner stieg aus und schritt auf Kullmann zu.

»Was ist mit dir los? Hast du kein Interesse mehr daran, mit mir im Team zu arbeiten, oder was? Was habe ich dir getan?« Vorwurfsvoll schaute er seinen älteren Kollegen an und erwartete eine Antwort.

Kullmann schüttelte den Kopf und meinte nur: »Du hast mir gar nichts getan. Nimm es bitte nicht persönlich. Aber jetzt muss ich zu den betroffenen Familien fahren, und glaube mir, das hebt meine Stimmung nicht gerade an.«

Mit seinen müden Augen schaute er zu Hübner hinauf und hoffte, der junge Mann würde sich damit zufrieden geben, doch da hatte er sich getäuscht. »Ich fahre mit dir. Schließlich ist es genauso meine Aufgabe, mit diesen Leuten zu sprechen«, bestimmte er und stieg bereits auf der Fahrerseite in den Dienstwagen ein. Kullmann widersprach ihm nicht. Eigentlich war es ihm sogar ganz recht, dass er nicht alleine dieses Trauerspiel miterleben musste. Hübner konnte in solchen Augenblicken ungewöhnlich viel Taktgefühl und Feingefühl an den Tag legen, was Kullmann diese unangenehme Aufgabe erleichtern konnte. Resigniert setzte er sich auf den Beifahrersitz, nannte die Anschriften der beiden und bat Hübner loszufahren.

Zuerst hielten sie an dem Haus der Familie Klos. Es lag außerhalb der Stadt zwischen Riegelsberg und Rußhütte, ein Ort direkt am Waldrand, wo sich außerdem nur noch fünf andere Häuser befanden. Sie stellten den Wagen direkt vor dem Haus ab und stiegen aus. Frische Waldluft strömte ihnen entgegen, die intensiv nach Regen roch. Man spürte noch den jungen Tag in der Luft. Ein Tag, der für die meisten Menschen erst begann, der aber für zwei Menschen schon zu Ende war. Schwermütig bewegte Kullmann sich hinter Hübner her auf die Haustür zu, als diese bereits aufgerissen wurde. Eine kleine, schmale Frau, mit blassem Gesicht und ungekämmten Haaren erschien im Türrahmen und schaute erwartungsvoll den beiden entgegen. In ihren Augen war großer Kummer zu sehen, der hässliche Schatten unter die Augen abzeichnete. Das zarte, ebenmäßige Gesicht wirkte völlig entstellt. Deutlich erkannte man darin die Sorgen der letzten Nacht.

 

»Wer sind Sie? Ich dachte, mein Mann käme endlich nach

Hause“, sprudelte sie los. Verwirrung und Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit.

Kullmann stellte seinen Kollegen und sich selbst vor. Dabei wusste er, wie die Existenz der Polizei auf Menschen in solchen Situationen wirkte. Die Einleitung ersparte ihm fast die Mühe, die ganze Wahrheit zu sagen, da die Betroffenen es bereits ahnten.

»Ist meinem Mann was zugestoßen?«, fragte sie entsetzt und verlor nun vollends das bisschen Farbe, das noch in ihrem Gesicht war. Ihre Augen wurden größer und weiter und ihr Mund blieb halboffen, als ob sie noch etwas sagen wollte.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Hübner.

»Sicher“, besann sie sich rasch und ließ die beiden eintreten.

»Die Kinder sind aber zuhause, ich möchte nicht, dass sie etwas mitbekommen. Gehen wir am besten ins Wohnzimmer.« bestimmte sie und zeigte den beiden den Weg zum besagten Zimmer.

Es war ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, mit einem Panoramafenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Der Ausblick ging direkt auf einen kleinen Garten mit Teich, an den der Wald angrenzte. Eine Tür, die auf eine an den Garten angrenzende Terrasse führte, stand offen und ließ den frischen Duft der regennassen Bäume herein.

»Oh, ich hatte wohl vergessen, die Tür abzuschließen“, stellte die Frau zerstreut fest und holte es hastig nach.

In der Mitte des Zimmers stand eine Ledercouchgarnitur in Antikbraun, die mit ihrer ganzen Wuchtigkeit einen kleinen Marmortisch mit Glasplatte einrahmte. Dort bot die Frau den beiden Herren Platz an und setzte sich selbst ihnen gegenüber.

»Wo ist mein Mann?«, fragte sie nun bedachter. Sie legte ihre Hände auf den Schoß und bereitete sich auf das vor, was die beiden ihr zu sagen hatten.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihr Mann ist tot“, erklärte Kullmann nun endlich den Grund seines Besuches.

Stille beherrschte den Raum.

Frau Klos saß regungslos da und starrte auf ihre Hände, als hätte sie noch nie solche Hände gesehen. Nach einer Weile hob sie den Kopf, richtete ihren Blick auf Kullmann und fragte: »Was ist passiert?« Kullmann antwortete nicht sofort, sondern prüfte ihren Blick. Ihre Augen waren nervös und glitzerten von den Tränen, die sich langsam zu bilden begannen.

»Er wurde erschossen in seinem Wagen aufgefunden.«

Wieder folgte Stille. Regungslos saß sie da und starrte unbeirrt auf ihre Hände. Ihr Gesicht war kalkweiß. Tränen tropften hinunter auf ihre Beine.

»Warum?«, fragte sie hauchend.

»Das wissen wir noch nicht“, antwortete Kullmann wahrheitsgetreu, obwohl eine Antwort nicht nötig gewesen wäre. Diese Frau befand sich bereits in einem tranceähnlichen Zustand. »Warum?«, fragte sie wieder. »Warum gerade Herbert?«

Sie bewegte sich wie in Zeitlupe und die Sekunden, die verstrichen, kamen den beiden Polizisten in dieser beklemmenden Situation wie endlose Stunden vor. Mit tränennassen Augen sah sie zu den beiden Beamten auf und meinte nur: »Danke, dass Sie gekommen sind, aber kann ich jetzt bitte allein sein?«

Kullmann und Hübner nickten und schlichen sich wie Diebe aus dem Haus.

»Das war ja nicht so schlimm wie erwartet«, stellte Hübner fest, als sie ins Auto einstiegen.

»Stimmt«, nickte Kullmann bedächtig. »Sie hat es zumindest vermieden, uns die Schuld daran zu geben.«

»Fahren wir nun zu Frau Wehnert?«, fragte Hübner. Seine Stimme klang belegt. Er hatte bisher noch nicht viel Erfahrung darin gesammelt, den Angehörigen von Mordopfern solche Botschaften zu überbringen. Die psychische Belastung, die damit verbunden war, bekam er ebenfalls deutlich zu spüren.

»Ja, bringen wir auch das hinter uns. Jetzt bist du an der Reihe«, bemerkte Kullmann.

Familie Wehnert lebte in dem Stadtteil Malstatt, das den ältesten Teil Saarbrücken darstellte. Durch die schlechte Situation in der Stahlindustrie war aus dem Stadtteil, das einst zu den angesehensten Orten der Großstadt Saarbrücken gehörte, eine unsichere Gegend geworden, deren Bewohner durch Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit aus ihrem Missmut keinen Hehl machten. Die Lebensbedingungen dieses Stadtteils hatten sich im Laufe der Jahre deutlich sichtbar verschlechtert. Gepflasterte Straßen zogen sich durch die grauen Mauern der Reihenhäuser, die zum Teil ungepflegt waren oder gar unbewohnt. Eingeschlagene Fenster und bemalte Häuserwände unterstrichen diese ganze deprimierende Atmosphäre.

Das Haus der Wehnerts lag inmitten dieser Reihenhäuser und unterschied sich nur dadurch, dass die Fenster ganz, geputzt und sogar Gardinen aufgehängt waren. Hübner betätigte die alte, kleine Klingel, musste aber schnell feststellen, dass sie nicht funktionierte.

Also klopfte er, um gehört zu werden. Es dauerte nicht lange bis geöffnet wurde. Vor den beiden stand eine gutaussehende große Frau mit langen blonden Haaren und braungebrannter Haut. Sie war jugendlich gekleidet mit Jeans und Holzfällerhemd und trug ausgetretene Jesuslatschen. Lediglich an den kleinen Fältchen um die Augen herum konnte man erkennen, dass sie kein Teenager mehr war.

»Wer sind Sie?«, fragte sie, als keiner von den beiden was zur Begrüßung sagte. Sogar Hübner war von dem Anblick so erstaunt, dass es ihm einen kurzen Augenblick lang die Sprache verschlug.

»Wir kommen von der Polizei. Es geht um Ihren Mann Jürgen Wehnert«, antwortete er.

Das Gesicht der Frau versteinerte sich. Unruhig schaute sie sich um und meinte dann: »Kommen Sie bitte herein.«

Die beiden Männer folgten ihr in ein kleines, gemütliches Wohnzimmer, das im Gegensatz zu der Einrichtung der Familie Klos ganz einfach eingerichtet war. Die Möbel sahen schon abgewohnt aus, als hätten sie schon einige Jahre miterleben müssen.

»Was ist mit meinem Mann passiert? Hatte er einen Unfall?«, fragte sie, sobald sie Platz genommen hatten.

Hübner schüttelte den Kopf. »Nein. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Mann tot ist. Er wurde erschossen.«

Kurzes Schweigen folgte. Frau Wehnert wirkte gefasst.

»Wer hat das getan?«, fragte sie.

»Das wissen wir noch nicht. Wir ermitteln in dem Fall.«

»Wann ist es passiert? Gestern Abend, auf dem Betriebsfest?«, bohrte sie weiter.

»Die genaue Zeit wissen wir auch noch nicht, er wurde heute in den frühen Morgenstunden gefunden.«

»War Jürgen denn alleine, er ist doch nie allein, sein Kollege Herbert ist doch immer bei ihm?«, sprudelte sie los. Allmählich spürte man, wie Verzweiflung in ihre Stimme geriet.

»Herbert Klos ist auch erschossen aufgefunden worden. Sie waren beide in dem Wagen von Herrn Klos«, berichtete Hübner sachlich, während Kullmann nur schweigend daneben saß.

Sie stammelte etwas, was beide nicht verstehen konnte, dann drehte sie sich von den beiden weg und begann herzzerreißend zu schluchzen. Es dauerte eine Weile, bis Hübner und Kullmann den Eindruck bekamen, dass sie nichts mehr ausrichten konnten.

Unauffällig erhoben sie sich und verließen das Haus, um sie alleine zu lassen. Mit betretenen Mienen fuhren sie zum Büro zurück.

Dort stand immer noch die Tasse Kaffee, die Kollegin Deister ihm am frühen Morgen gebracht hatte. Inzwischen war der Kaffee kalt. Gerade hatte er sich damit abgefunden, den Rest des Vormittages, ohne dieses Zeug auszukommen, als Anke Deister ihm mit einer vollen Kanne entgegenkam. »Ich habe hier frischen, wenn Sie möchten.« lächelte sie ihn an. Erstaunt schaute Kullmann in ihr hübsches Gesicht. Das zufriedene Grinsen konnte er nicht definieren. „Ich habe sogar herzschonenden Kaffee gekocht – extra nur für Sie.« fügte sie noch munter an. Nun wusste er, was dieses Grinsen zu bedeuten hatte. Trotzdem ließ er sich einschenken.

»Liebe Frau Deister, ohne Sie hätte ich schon längst meinen Dienst quittiert, das können Sie mir glauben“, schmeichelte er.

»Danke für die Blumen«, lachte sie, »aber das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind doch mit Leib und Seele Polizist.«

»Sie meinen, ich kann nichts anderes“, verbesserte er sie, ohne sie dabei anzuschauen.

»Sie sind wirklich unverbesserlich. Immer etwas Negatives auf den Lippen.«

»Deshalb freue ich mich ja immer so auf Sie. Sie sind die einzige, die hier meine Stimmung heben kann.« Diesmal klang er ehrlich.

Die Konversation wurde sogleich von Hübner unterbrochen, der mit einigen Papieren das Büro betrat.

»Hier haben wir erste Ergebnisse: der Tod trat etwa zwischen 0.00 Uhr und 3.00 Uhr ein. Die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgegeben, allerdings trat der Tod nicht sofort ein. Geschossen wurde aus dieser 8 mm, die wir im Auto gefunden haben. Fingerabdrücke wurden aber keine gefunden. Es macht den Eindruck, als seien sie sorgfältig weggewischt worden.«