Frau Lanin hatte sich zur Ruhe begeben. Das Gesicht, von der großen weißen Schlafhaube umrahmt, verzog sich sorgenvoll, denn die rechte Stellung für jedes der mächtigen Glieder zu finden, kostete Frau Lanin allabendlich Mühe und Nachdenken.
Auch Fräulein Sally war schon im Nachtkleide, trug ein lichtblaues Kamisol, und ihre Locken vereinigten sich in zwei großen Knollen zu beiden Seiten der Stirn; sinnend stocherte sie mit ihrer Haarnadel an der Kerze herum und erzählte:
»Gut! Sie standen also dort an der Türe der Trödlerbude, mir gegenüber. Ich konnte sie gut beobachten, denn anfangs schob ich den Vorhang ein wenig zurück, später machte ich mit einer Stecknadel ein kleines Loch in den Vorhang.«
»Ein Loch in den Vorhang?« fuhr Frau Lanin auf.
»Mein Gott, ein ganz kleines Loch! Wer sieht das!« meinte Fräulein Sally ungeduldig. »In solchen Augenblicken können alte Vorhänge nicht verschont werden. Anfangs sprachen sie miteinander. Sie lachten recht widerwärtig; verstehst du, so widerwärtig frech – er kehrte mir den Rücken zu…«
»Mehr hast du nicht gesehen?« fragte Frau Lanin enttäuscht.
»So warte doch, wenn du dich beständig rührst, kann ich nicht erzählen.« Dann fuhr sie fort: »Sie lachten also widerwärtig frech und sprachen miteinander«, nahm Fräulein Sally ihren Bericht wieder auf und bohrte ihre Haarnadel tief in die Kerze.
»Konntest du etwas verstehen?«
»Gott sei Dank nicht! Ich sah, wie sie sich plötzlich in die Ecke drückten und – du verstehst? Sie natürlich machte den Anfang.«
»Was denn?«
»Nun – du verstehst –; ich mag es nicht sagen.«
»Großer Gott! Was denn? Sag es nur.«
»Verstehst du denn nicht? Sie, nun, sie…« Fräulein Sally küsste ihre eigene Hand: »Ja, das sah ich!«
»Sie küssten sich also?«
»Das ist es, da du es gesagt haben willst; sie küssten sich –« Ordentlich zischend stieß Fräulein Sally dieses Wort hervor.
»O Gott, o Gott!« jammerte Frau Lanin.
»Für Klagen ist es zu spät«, schalt Fräulein Sally. »Wer trägt die Schuld? Wer hat die Person immer eingeladen? Wenn der Papa und du es wollen, ich kann nicht nein sagen. Ich weiß ja, Gott sei Dank, von all diesen hässlichen Sachen nichts. Jetzt aber, da ich erkannt habe, mit welch einer Person ihr mich umgehen lasst, jetzt fühlt sich meine Mädchenwürde verletzt. Was ihn betrifft, so hättest du oder der Papa ihn wohl vor den Fallstricken dieser Person warnen können – den Fallstricken – ja«; Fräulein Sally fand Gefallen an diesem Wort und wiederholte es mehrere Male – denn Fallstricke waren es. Sie hatte diese Fallstricke dunkel geahnt; aber was wusste sie denn von Fallstricken!
»Beste Sally«, wandte Frau Lanin ein, »ich habe selbst ja von alledem nichts gewusst.«
»Du hättest es aber wissen sollen«, rief das empörte Mädchen. »Konntest du ihm nicht Andeutungen machen, dass… nun, mein Gott! Du weißt es ja besser als ich. Ganz verdammen kann ich ihn nicht; er ist leichtsinnig, aber nicht schlecht. Weil ihr ihm gar keine Andeutungen gemacht habt, so hielt er seine… seine Achtung für mich für aussichtslos; denn Achtung hegt er wenigstens für mich. Ich bin anfangs natürlich zurückhaltend gegen ihn gewesen; zuweilen fast streng. Ja, aber das ist so mein keusches Wesen. Ich bin keusch durch und durch. Einmal griff er mit mir zugleich in den Brotkorb und streifte meinen Finger; du verstehst? Da schaute ich ihn vorwurfsvoll und ernst an. Vielleicht glaubte er, ich weise ihn ab, und geriet – in seiner Verzweiflung auf Abwege. Alles ist möglich. Er kann noch gerettet werden; nur darf er sie nicht wiedersehen.«
»Bestes Kind«, begann Frau Lanin, »warum bist du auch so abweisend gegen ihn gewesen? Du hättest doch freundlicher sein können. Ich sehe nichts darin, dass er deinen Finger berührt; daraus macht man einen Scherz. Du konntest zum Beispiel ihn neckend auf die Hand schlagen, das macht sich ganz gut, oder so etwas.«
»Nein, nein«, rief Fräulein Sally entschlossen. Sie hüllte sich in das blaue Kamisol wie in einen Vestalinnenschleier, und die Knollen auf ihrer Stirn bebten. »Nein, das kann ich nicht, das ist gegen mein Naturell. Ich bin ernst und sinnig angelegt. So etwas tue ich nicht.«
»Schön, liebes Kind«, meinte Frau Lanin gereizt. »Man darf nur nicht so ernst und sinnig sein, dass man sitzen bleibt.«
»Sitzen bleibt?« Fräulein Sally ward feuerrot. »Gut – du beleidigst mich? Ach, sehr mütterlich, sehr christlich! Du nimmst den Menschen ins Haus, damit ich mich an ihn gewöhne; du machst mir Andeutungen und Hoffnungen, und läuft er endlich irgendeiner Person nach, dann beleidigst du mich noch. Sehr gut, dass ich das weiß. Jetzt erst fühle ich es, dass ich ganz allein auf mich selbst angewiesen bin, wie eine Waise.«
Tragisch strich sie sich die Knollen aus der Stirn und wollte stolz das Zimmer verlassen, ihre Mutter hielt sie jedoch mit schmelzender Stimme zurück. »Warte, Kind, so schlimm war’s ja nicht gemeint. Morgen sprechen wir mehr hierüber. Wir belauschen sie, weißt du. Vor allem aber verbiete ich der Rosa das Haus.«
»Nenne sie nicht Rosa«, befahl Fräulein Sally.
»Sie heißt doch so.«
»Nein, für mich gibt es keine Rosa mehr, für mich ist sie nur noch eine – Person.«
»Ah so –«
»Ja. Gute Nacht – ich muss allein sein. Wahrscheinlich werde ich weinen.«
Fräulein Sally verließ das Zimmer.
Sehr wahrscheinlich ist es, dass Fräulein Sally noch in ihrem Zimmer geweint hat, denn sie war am folgenden Morgen nicht imstande auszugehen. Sie saß hinter geschlossenen Vorhängen und zankte mit dem kleinen Dienstmädchen, weil es die armen Nerven seiner Herrin mit seinem lauten Wesen auf die Folter spannte.
Zu Mittag erschien Fräulein Sally im blauen Kamisol und mit Haarknollen, und auf Ambrosius’ liebenswürdige Frage, was ihr fehle, erwiderte sie ein »Nichts«, das ebensogut bedeuten konnte: Ich habe die Pest.
Sofort nach dem Mittagessen eilte Fräulein Sally, den Zahnstocher noch zwischen den Lippen, in das Wohnzimmer, zog die Vorhänge zurecht, vergrößerte das gestern gemachte Loch, rückte zwei Sessel heran und wartete. An die Fensterbank gelehnt, biss sie an ihrem Zahnstocher herum, schüttelte die Haarknollen und schaute vor sich nieder. Die Aufregung, die sie bisher beseelt hatte, schwand in der heißen Stille dieses Gemaches. Die ehrwürdig solide Welt der Firma Lanin, über der jetzt eine Wolke von Sonnenstäubchen und der Duft der Mittagssuppe lag, machte Fräulein Sally traurig. An die Stelle der Verachtung für die freche Person, die sich am Trödlerhause von Ambrosius küssen ließ, trat der Neid. Gern hätte Fräulein Sally auch eine heimliche Liebe gehabt, um sie in einem sonnigen Winkel zu verbergen. Ihr Herz ward sehr schwer bei dem Gedanken an die belauschte Liebesszene. Es musste guttun, wenn er einen so umfasste, wenn er…
»Geht es schon an?« fragte Frau Lanin und schurrte herbei.
»Nein«, erwiderte Fräulein Sally kurz und wandte sich ab, denn sie fühlte, dass ihre Augen voller Tränen standen.
»So!« meinte Frau Lanin und gähnte.
Dieses Gähnen empörte Fräulein Sally; sie bezwang sich jedoch und sagte nur bitter: »Ja – so –«
Mutter und Tochter saßen nun einander gegenüber und schauten die Arabesken des Vorhanges an. Zuweilen erhob sich Fräulein Sally, spähte durch das Guckloch auf die Straße hinaus und meldete: »Nichts.«
»Wo bleiben sie nur?« seufzte Frau Lanin schläfrig.
Endlich, als Fräulein Sally wieder ihr Auge an das Löchlein brachte, blieb sie daran kleben.
»Was gibt es?« forschte Frau Lanin. Ihre Tochter schwieg. »Siehst du etwas?« Fräulein Sally antwortete nicht. »Geh, sag, sind sie da?« rief Frau Lanin und erhob sich. Sie preßte ihre schlaffe, weiche Wange an die heiße Wange ihrer Tochter, um zu dem Guckloch zu gelangen; die heiße Wange hielt jedoch stand, und die beiden fest aneinandergedrückten Gesichter verzogen sich seltsam, ein jedes aus Ärger über das andere. »Sag, sind sie da oder nicht?« befahl Frau Lanin jetzt streng.
»Ja doch!« erwiderte Fräulein Sally ungeduldig.
»So lass es mich sehen!«
»Warte.«
»Du hast lange genug hinausgeschaut.«
Vergebens! Unentschlossen und unglücklich blickte Frau Lanin um sich. Was sollte sie tun? Wie sollte sie den Starrsinn ihrer Tochter brechen? Die Zeit verstrich, während sich draußen die interessantesten Dinge abspielten. »Sallychen«, begann sie wieder – im ernsten Ton der Ermahnung, »verlass das Fenster, ich wünsche es. Du siehst Dinge mit an, die sich für ein junges Mädchen nicht schicken. Bisher habe ich dich sorgsam behütet, habe alles Böse von dir ferne gehalten. Ich habe es sogar verboten, dass du dich mit Hühnerzucht abgibst, du weißt, der Papa war auch dagegen. Und nun so was! Sally – Kind – höre.« Das Kind rührte sich nicht. »Sally«, fuhr Frau Lanin in inbrünstigem Gebetston fort, »gehorche deiner Mutter. Ich muss für deine Seele dort oben verantworten. Sally! Bedenke, dass ein höherer Richter auf dich herabsieht. Denke daran, was Raser vorigen Sonntag in der Kirche sagte.«
Fräulein Sally wurde unruhig und drückte ihren Kopf fester gegen den Vorhang.
»So sage wenigstens, was du siehst«, flüsterte Frau Lanin weinerlich.
»Still! Sie küssen sich«, berichtete Sally.
»Wo?«
»Er nimmt ihre Hand.«
»Was noch?«
»Vorläufig nur die Hand.«
»So geht es nicht«, murmelte Frau Lanin, trat einige Schritte zurück und rannte mit der ganzen Wucht ihres Körpers gegen ihre Tochter an. Diese fiel auf einen Sessel. »Es ist empörend«, rief sie mit bleichen Lippen und fügte höhnisch hinzu, das sehe der höhere Richter auch. Frau Lanin legte ihr Gesicht in viele dicke Falten, schaute auf die Straße hinaus und hörte nicht auf ihr zorniges Töchterchen. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf Frau Lanins Rücken, eine zweite schob sie sachte beiseite, und eine würdige leise Stimme fragte: »Was gibt es?« Herr Lanin war auf weichen Hausschuhen herangeschlichen und nahm ruhig von dem Guckloch Besitz. Er ließ ein knurrendes »Oh!« hören, dann schwieg er, stand mit gekrümmtem Rücken da, die Hände auf die Fensterbank gestützt, und spähte hinaus. Mit Antipathie schauten Mutter und Tochter auf den breiten Rücken des Hausherrn. »Der geht gewiss nicht fort!« meinte Frau Lanin.
»Es ist deine Schuld, du warst zu laut«, erwiderte Fräulein Sally kühl und lachte bitter, doch, schnell gefasst, beschloss sie, im anderen Vorhang ein Loch für sich – für sich ganz allein zu machen.
»Das kann ich auch tun«, sagte Frau Lanin, und beide eilten an das andere Fenster.
Ein jeder hatte jetzt sein Guckloch, und es herrschte Frieden in der Familie Lanin. Regungslos klebten die drei Profile an den Vorhängen, und ein jedes hatte ein fest zugedrücktes Auge und einen schief verzogenen Mund.
»Das ist zu stark!« stöhnte Fräulein Sally plötzlich auf und eilte zur Türe. Vater und Mutter blickten verwundert auf.
»Was will sie? Sie ist toll«, meinte Herr Lanin.
Aber Fräulein Sally wusste wohl, was sie wollte. Sie riss die Haustüre auf, steckte ihren Kopf hinaus, sandte ein schrilles, hohes Lachen auf die Straße hinab und verschwand wieder. Das erleichterte ein wenig ihr bedrücktes Jungfrauenherz.
Fräulein Sallys Gelächter schreckte die Liebenden aus einer engen Umarmung auf. »War das nicht Sally?« fragte Rosa. »Jawohl, sie war es«, bestätigte Ambrosius. Sie schauten sich an und begannen zu lachen: »Sally! Mein Gott! Sally!« Das Lachen wollte kein Ende nehmen. Rosa musste sich an Ambrosius lehnen, weil das unbändige Gelächter sie aller Kraft beraubte. »Dort hinter dem Vorhang hat sie gesessen. Gott, wie mag sie geschielt haben.« Endlich drängte sich jedoch die Frage auf, was sollte geschehen? Rosa ward besorgt; Ambrosius aber machte sich aus alledem nichts. »Wir gehen ins Haus. Die tolle Sally soll uns nicht stören; die gewiss nicht!« Er war entschlossen, sich diese Liebesstunde nicht nehmen zu lassen, das wusste er!
Sie gingen durch den Hof in die Trödlerwohnung hinein, Ida saß auf der Fensterbank und sah die Eintretenden so ruhig an, als hätte sie sie erwartet. »Ida, wir kommen dich besuchen«, rief Ambrosius gutgelaunt.
»Müssen die Vorhänge vorgezogen werden?« fragte Ida in gleichgültigem Geschäftston.
»Gewiss«, erwiderte Ambrosius. »Es ist Gefahr im Anzuge.«
Das Zimmer war äußerst klein und finster. In einer Ecke stand ein geräumiges Bett, halb von einer gelben Gardine verhüllt; daneben ein Kasten, an dessen Ecken welke Unterröcke hingen. Auf einem dünnbeinigen Tischchen am Fenster war allerhand Gerät zur Schau gestellt, silberne Kannen, zerbrochene Teller, golddurchwirkte Fetzen. Davor auf einem abgeriebenen roten Samtsessel saß die alte Jüdin und schlummerte – eine große, farblose Masse. Wo die schmutzigen Fetzen ihrer Kleidung aufhörten und wo der Körper begann, war nicht zu unterscheiden; alles schien gleich schlaff und von gleich gelbgrauer Farbe. Nur zuweilen blitzten unter dem Tuch düstere Funken auf – das waren dann die Augen. Frau Wulf nahm von ihren Gästen keine Notiz, sondern schlummerte weiter. Ida stäubte mit ihrem Kleide zwei Stühle ab, stellte sie mürrisch vor Ambrosius hin, zog die Vorhänge vor das Fenster und setzte sich schweigend auf das Bett.
»Hm – sehr romantisch«, sagte Ambrosius. Dennoch saßen sie ein wenig befangen mitten im Zimmer. Die fröhliche Laune war fort, und in beiden regte sich die Sorge. »Ich sollte vielleicht heimgehen«, bemerkte Rosa kleinlaut.
»Heimgehen? Jetzt?« rief Ambrosius entrüstet aus. Rosas niedergeschlagener Ton, ihr melancholisch mutloses Gesicht verdarben vollends seine Laune, und nichts verzieh er schwerer, als wenn man ihn verstimmte und in seinem Herzen den Weltschmerz weckte, das heißt den Gedanken an gewöhnliche Werktage, an seinen Onkel, an seine Pflicht im Geschäft. Gut! Rosa sollte gehen; die Überzeugung aber konnte sie mitnehmen, dass sie seinen Plänen und Anschauungen nicht gewachsen war. Hätte er gewusst, dass Rosa sich von einer so albernen Person wie Sally einschüchtern ließ, er wäre ihr aus dem Wege gegangen. – Er erhob sich, machte mit den Armen weite Bewegungen; seine Stimme nahm einen angenehmen Baritonklang an, und seine Ausdrücke waren gewählt und volltönend. Er wollte sich über seine Missstimmung hinwegreden.
»Nein! Ich hätte dein ruhiges – ich möchte sagen – friedlich-unschuldiges Leben nicht gestört, hätte ich gewusst, du seist nicht besser als die anderen. Ich kenne meinen unglücklichen Charakter. Ich weiß, auf der großen Heerstraße vermag ich nicht einherzugehen. Ich kann das eben nicht. Es liegt nicht in meinem Naturell! Ganz glücklich werde ich nie sein; und die – die ich liebe – wird es auch nicht sein. Das ist, möchte ich sagen, der Fluch, der auf uns, quasi abnormen Geistern, ruht, dass wir jedem, den wir lieben, unser Verhängnis mitteilen.« – Das Bewusstsein, ein abnormer Geist zu sein, ein Verhängnis und einen Fluch zu haben, gab Ambrosius wieder seine gute Laune zurück. Er war stets der erste, den seine Reden überzeugten. Während des Sprechens wandte er sich öfters an Ida, und als er die Hand auf das Herz legte, blickte er die alte schlummernde Jüdin an. »Darum eben suche ich ein tapferes Herz, das willig meinen – hm – Fluch teilt. Bist du dieses Herz? Sage! Bist du es?«
Rosa neigte den Kopf. Was sie hörte, gefiel ihr sehr gut, aber antworten! Ähnliches hatte sie schon in Romanen gelesen, es war ihr jedoch nie eingefallen, dass man auf so etwas eine Antwort geben konnte. Da jedoch Ambrosius schwieg, sagte sie leise: »O ja!« mit dem deutlichen Bewusstsein, dass ein nacktes »O ja« auf eine so hübsche Frage eine lächerliche Antwort sei. Ambrosius genügte es. Gut, war Rosa dieses Herz, dann durfte sie sich nicht vor Sally oder sonst jemandem in diesem dummen Neste fürchten.
Der Nachmittag war weit vorgerückt. Über die Wände zogen blassrote Lichter, und draußen auf dem Pflaster klapperten die Schritte der Abendspaziergänger.
Ambrosius seufzte und ergriff Rosas Hand. »Nein, das darfst du nicht, mich verlassen darfst du nicht.«
Rosa drängte sich an ihn heran. Sie fürchtete sich vor der Welt, die draußen zu lärmen begann und den Ton bekannter Stimmen, eiliger Schritte hereinsandte. Es tat wohl, traulich beieinander zu sitzen und sich langsam von der Dämmerung überdecken zu lassen.
Ambrosius sprach jetzt mit gedämpfter Stimme, dicht auf die wirren blonden Haare des Mädchens niedergebeugt. Er wollte sie schützen. Er liebte sie nur zu sehr. Fort, in eine große Stadt wollten sie flüchten. Dort, im Gedränge und Lärm, würde sich das Band zwischen ihnen enger noch und fester knüpfen. Journalist, Schriftsteller wollte er werden, das war, er fühlte es wohl, sein Beruf.
So ging es mit halblauter Leidenschaft fort. Rosa hielt die Augen geschlossen, und jedes Wort, das sie hörte, nahm die Anschaulichkeit eines Traumes an – endlose Straßen voller Sonnenschein, Paläste, Menschengetümmel – und überall ein gefeiertes, geliebtes blondes Mädchen. Als es ganz dunkel war, schwieg Ambrosius; nur noch das Schnarchen der Jüdin war im Gemache vernehmbar.
Plötzlich verlautete eine schläfrige Stimme: »Ida, bring die Lampe.«
Rosa fuhr auf. Ja, sie war noch immer im Hinterstübchen des Trödlers. »Es muss spät sein«, sagte sie beklommen. Eine große Angst bemächtigte sich ihrer. Sie musste fort – und draußen harrte etwas Böses, Feindliches ihrer.
Ida brachte die Lampe, und das harte gelbe Licht verbreitete furchtbare Traurigkeit um sich. Idas forschende Augen, das verschlafene Gesicht der alten Jüdin, das Zimmer mit seinen schäbigen Sachen – alles war niederdrückend, und doch hätte das bange Mädchen viel darum gegeben, nicht aus dieser garstigen Stube hinaus zu müssen. Aber es musste ja doch sein. »Ich gehe«, sagte sie hastig und bot ihre sorgenvolle Stirn Ambrosius zum Kusse dar, dann war sie fort.
Ambrosius saß noch da. Ihm war unbehaglich genug ums Herz; hielte ihn nicht die Scham ab, er hätte, wie ein Kind, aus übler Laune geweint. Hinaus sollte er? Lanins entgegentreten? Das war zu fatal. Er ging nicht, er blieb sitzen.
Herrn Klappekahls Apotheke war ein äußerst freundlicher Aufenthalt. Geräumig, weiße Spitzenvorhänge an den Fenstern, ein Mosaikfußboden, der auf blaugrauem Grunde weiße Sterne zeigte, allenthalben eine Verschwendung an Mahagoni, die Türe, die Schränke, die Fensterbänke, die Stühle – alles von Mahagoni und spiegelblank. Auf der grauen Marmorplatte des Ladentisches standen in musterhafter Ordnung Waagen, Mörser, Gewichte von jeder Größe. Die Schränke waren voll schneeweißer Büchsen und klarer Flaschen, und alles das von goldenem Morgensonnenschein überflutet, von einem scharfen Geruch von Medikamenten umweht, zu dem ein Rosenstrauß auf dem Fensterbrett seinen zarten Duft gesellte. Vor diesem Rosenstrauß stand Herr Klappekahl, frisch gekämmt, rosig, in seinem leinenen Sommeranzug, so rein und blank wie seine Büchsen oben in den Fächern. Er suchte sich gerade eine Rose aus, um sie in sein Knopfloch zu stecken. In dem Blick, den er auf den kleinen Platz vor dem Hause warf, lag eine Welt von Güte und Frieden. Jetzt war der Entschluss gefasst, jetzt wusste er es, jetzt war ihm die gute Tat eingefallen, mit der er diesen schönen Sommermorgen beginnen wollte. Er ging zur Türe, öffnete sie und rief sanft: »Zapper!«
Zapper kam; ein schmaler, bleicher Junge mit hervortretenden blauen Augen und einem stark entwickelten Kehlkopf, auf dem sich ein Ansatz von Bart befand. Das blonde Haar hing ungeordnet um den Kopf und war voller Federn. Auf seinen Anzug hatte Zapper gar keine Sorgfalt verwandt. Der Rock war nicht gebürstet, die Hosenträger fehlten ganz. Beinkleid und Weste schieden sich und ließen einen weißen Streif sehen, der Zapper Ähnlichkeit mit jenen Puppen gab, die eine grausame Kinderhand mitten durchgebrochen hat und die nun hilflos ihr Inneres von weißer Watte sehen lassen. Zapper gefiel seinem Prinzipal auch nicht. »Zapper«, sagte Klappekahl und zog die Nase kraus. »Wie haben Sie vorige Nacht wieder gelebt?« Zapper schwieg und zog seine Beinkleider mit beiden Händen empor. »Junger Mann«, fuhr Herr Klappekahl fort, »sehen Sie sich vor. Ich sage Ihnen nur dieses. Sie kennen meinen Grundsatz: Ein jedes zu seiner Zeit. Der Mensch muss in alles Harmonie zu bringen wissen. Hier, in mein Haus, passt die Unsolidität nicht hinein. Solange Sie bei mir sind, müssen Sie sich dem Ton des Hauses fügen. Dieser Ton, Sie wissen es ja, ist strenge Moralität. Dafür gestehe ich Ihnen das Recht zu, wenn Sie einmal selbständig sind und in eine größere Stadt kommen, sich das Leben von der anderen Seite anzusehen. Harmonie – das ist’s, hat schon ein – ein großer Denker gesagt.«
Zapper empfand es wohl, wie wenig er in Harmonie stand mit der reinlichen Apotheke und mit seinem schneeweißen Herrn; reumütig schlug er die Augen nieder. »Frisieren Sie sich vor allem«, versetzte der Apotheker väterlich. »Dann gehen Sie ins Freie; das wird Sie ermuntern.«
»Ja – Herr Prinzipal.«
»Gehen Sie nur; merken Sie sich meine Worte. Der Mensch muss sich erst eine moralische Basis erwerben, ehe er darangeht, die Tiefen des Lebens kennenzulernen. Übrigens können Sie beim Trödler Wulf anspringen. Die alte Frau soll krank sein. Sie hat ihren Husten, sagte mir der Jude. Ich habe hier einen Rest Brustpastillen; den kann sie haben, wenn die Ida ihn holt. So, Sie können gehen. – Die Ida soll gleich kommen«, rief er noch dem hinausschlüpfenden Zapper nach.
Herr Klappekahl war wieder allein in seiner schönen Apotheke. Mit kleinen Schritten ging er auf und ab, fuhr zuweilen mit der Hand über die Marmorplatte des Ladentisches, ergriff diesen oder jenen Gegenstand und ließ ihn in der Sonne funkeln, strich mit dem Fuß den grünen Laufteppich glatt – bedächtig und zart, jede Bewegung eine Liebkosung.
Plötzlich ward die Türe aufgestoßen, und Fräulein Ernestine steckte einen Kopf mit sehr hoher Frisur ins Zimmer. »Vater –«
»Nun« – Herr Klappekahl schaute nicht auf, sondern rieb ein Gewicht an seinem Ärmel blank.
»Der junge Mensch ist um zwei Uhr morgens nach Hause gekommen; ich hab ihn gehört.«
»Ich weiß es, ich habe darüber mit ihm gesprochen.«
»Es ist ein Skandal! In seinem Zimmer habe ich soeben ein zerbrochenes Glas gefunden.«
»Setze es ihm auf die Rechnung.«
»Es ist schon das dritte.«
»Seine Sache.«
»Vater! Was hast du über die Rosa Neues erfahren?«
»Nichts.«
»Ach so! Ich dachte mir’s.«
Bums – Fräulein Ernestine warf die Türe ins Schloss und verschwand. Der Apotheker rückte einen Stuhl in den Sonnenschein, setzte sich und gab sich dem stillen Vergnügen hin, die Sonnenstrahlen bald auf dem rechten, bald auf dem linken Stiefel spielen zu lassen. Endlich gab die Türglocke einen hellen Ton von sich, und Ida Wulf erschien.
»Du bist’s, Ida? Komm näher, mein Kind«, sagte Herr Klappekahl und lächelte ermutigend.
»Der Herr Zapper«, berichtete Ida mit lauter Stimme, »schickt mich her. Der Herr Apotheker, sagt er, wollen etwas für die Mutter geben.«
»Ja, mein Kind! Hier nimm«, Herr Klappekahl hielt dem Mädchen eine kleine blaue Papiertüte hin, »gegen den Husten ist das.«
»Ich danke schön, Herr Apotheker«, versetzte Ida und wog die Tüte in der flachen Hand. »Ich werd’s der Mutter sagen.«
»Tu das, mein Kind.« Herr Klappekahl setzte sich wieder bequem zurecht und fuhr fort, seine Stiefel zu sonnen. »Nichts Neues, Ida?« Das Mädchen stand breitbeinig da und versuchte die Namen auf den Büchsen zu entziffern.
»Bei uns? Nein, nichts Neues, Herr Apotheker.«
»So – so! Sonst alles gut? Kommt der junge Herr von Tellerat noch oft zu euch?«
»Der, ja, zum Vater.«
»Er schenkt dir wohl zuweilen etwas?«
Heiter blinzelte Klappekahl zum Judenmädchen hinüber. Ida aber blieb ernst. »Mir?« sagte sie. »Nein! Fußtritte gibt er mir.«
»Warum das?«
»Weiß ich’s?«
Herr Klappekahl ward unruhig. »Fußtritte also – hm –« wiederholte er; dann rief er plötzlich: »Da fällt mir etwas ein! Was war denn gestern bei euch los? – Die Rosa Herz… nicht?« Ida nickte. »Was wollte sie denn bei euch?«
»Ja, sie war da«, bestätigte Ida.
»Gut, erzähle!«
Ida dachte nach. »Der Schusterbub Peter«, begann sie langsam, »hat sich die Hand zerschnitten. Ich wollte den Herrn Apotheker um ein Stück von dem guten Pflaster für den Peter bitten.«
»Gewiss, gewiss.« Herr Klappekahl lächelte, aber nicht mehr so heiter wie vorhin. Während er das Pflaster zurechtschnitt, berichtete Ida mit eintöniger Stimme und wiegte sich auf ihren schiefgetretenen Absätzen hin und her.
»Was sie getan hat? Der junge Herr hat vor der Tür auf sie gewartet – sie ist gekommen – dann hat er sie um die Mitte genommen, und sie haben miteinander gesprochen. Später sind sie zu uns ins Zimmer gekommen.« Herr Klappekahl hielt im Schneiden inne und hörte zu. »Die Vorhänge habe ich zugezogen. Die Mutter und ich blieben im Zimmer.« Herr Klappekahl schnitt weiter. »Gesprochen haben sie, aber ganz leise. Jetzt ist das Pflaster groß genug, Herr Apotheker.«
»Gut, gut, Ida! Hier hast du es. Sei recht brav. Behüte dich Gott!«
»Danke, Herr Apotheker.« Mit diesen Worten schob sich Ida zur Tür hinaus.
Nun ward Herr Klappekahl ungeduldig, und als Zapper ins Zimmer trat, rief er ihm ärgerlich entgegen: »Wo bleiben Sie? Sie wissen doch, dass ich in den Magistrat muss. Ich kann die Stadtangelegenheiten nicht versäumen, weil Sie ihren Katzenjammer spazierenführen wollen.« Geläufig fortscheltend suchte er seinen Spazierstock aus der Ecke hervor, nahm seinen Strohhut vom Nagel, stellte sich vor den Spiegel, er begriff wirklich nicht, wie ein junger Mensch so wenig Moralität haben konnte! Den Strohhut rückte er keck auf die linke Seite, schlug mit dem Stock auf den Ladentisch, er hoffte, Zapper würde in seiner Abwesenheit nicht einschlafen. Dann warf er noch einen Blick in den Spiegel und verließ das Gemach.
Bei Gott, dieser liederliche Zapper war schuld daran, dass Herr Klappekahl die Sitzung versäumte. Es war schon zwölf Uhr vorbei, und als der Apotheker auf den Marktplatz gelangte, standen die Herren vom Magistrate schon alle auf der Rathaustreppe, im Begriff heimzugehen. Vordem sie sich trennten, unterhielten sie sich noch einen Augenblick. Der kleine Kaufmann Paltow mit dem schlauen, glattrasierten Gesicht und der mächtigen Nase zündete sich gerade eine Zigarre an, wiegte sich auf seinen krummen Beinen hin und her und hörte eine Geschichte an, die der Sekretär, Herr von Feiergroschen, erzählte – ein sehr adretter junger Mann mit einem rotgoldenen Backenbart, einem goldenen Kneifer auf der Nase und Lackstiefeln an den Füßen. Da war ja auch Lanin! Er verabschiedete sich gerade von dem dicken Bäckermeister Vogt und dem Advokaten Grupe.
»Die Ehre, Lanin!« rief Klappekahl. »Die Ehre – die Ehre«, erwiderte Lanin und lüftete seinen Hut. Klappekahl fand es natürlich, dass er nicht stehenblieb, um zu plaudern. Wenn man solche Geschichten im Hause hat!
Auf der Rathaustreppe ward der Apotheker mit lauten Rufen empfangen. »Da kommt unser pünktlicher Stadtvater!« meinte Herr von Feiergroschen, und Paltow fand, dass Klappekahl heute zu lange Toilette gemacht habe.
»Es ist nicht meine Schuld«, entschuldigte sich Klappekahl. »Dieser unglückliche Zapper macht mir viel Sorge. Wenn man solch einen jungen Menschen im Geschäft hat, geht nichts vorwärts.« Dann nahm er den Sekretär beiseite. »Wie sah denn Lanin heute aus?«