Czytaj książkę: «Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke», strona 20
»Wilhelmine«, versetzte Herr Böhk und steckte ein sehr stolzes, hochmütiges Gesicht in das Ofenloch. Frau Böhk ärgerte das. »Ach was, Wilhelmine! Wenn du nur tun würdest, was man von dir will. Ich sage ja nicht mehr, du sollst ordentlich arbeiten; aber einheizen wirst du doch noch können; das ist doch nicht so schwer wie eine Uhr machen?«
»Wenn du nur die Uhr gesehen hättest, die ich gemacht habe!« Herr Böhk war nun auch beleidigt; vor dem Ofen kniend, stemmte er die Arme in die Seite und schob die Unterlippe vor; seine Frau aber lachte: »Ja – ja, wenn ich die gesehen hätte, würde ich vielleicht an sie glauben. Ach, geh mir mit deiner ewigen Uhr! Das wird auch so eine gewesen sein, die von zwölf bis Mittag geht. Gott, was dieser Mann mich mit seiner Uhr quält!« redete Frau Böhk die Zimmerdecke an. »Seit wir verheiratet sind, spricht er von dieser Uhr. Wer hat sie gesehn? Wo ist sie? Wie ein Gespenst ist dieses Ding. Wollte ich von einem Kinde sprechen, das keiner gesehn hat, von dem nichts im Kirchenbuch steht, da würden die Leute mich kurios ansehen. Der aber immer mit seiner Uhr!«
»Wilhelmine!« sagte Herr Böhk sanft, »das Fräulein wünschte Musik.«
»Was der nur immer mit seiner Wilhelmine hat!«
»Du heißt ja doch so.«
»Ja, ich heiße so; ich sage auch nichts. Du tätest besser, nachzusehen, ob die Mädchen die Kuh beschickt haben, statt uns deine Faxen vorzumachen.«
»Wilhelmine«, entgegnete Herr Böhk, »du bist heute giftig, Wilhelmine. Du hast unrecht, so zu sein, Wilhelmine.«
»Lass mich mit deiner Wilhelmine zufrieden!« schrie die Hebamme und wandte sich ab; sie mochte das Lachen, das sie übermannte, nicht zeigen; ihr Mann bemerkte es jedoch, blinzelte verschmitzt mit den Augen und entfernte sich, indem er triumphierend die Absätze aneinanderschlug.
»Gott, was ich mit dem Jungen für ein Kreuz habe!« rief Frau Böhk mit zuckenden Mundwinkeln.
»Mit seinem Spiel hat er mir wirklich Freude gemacht«, entschuldigte Rosa.
»Ja – ja, so unnützes Zeug versteht er«, meinte die Hebamme mit der verhaltnen Zufriedenheit einer Mutter, die ihren ungezogenen Buben nicht offen loben mag und sich dennoch der Anerkennung freut, die ihm andere zollen, »das Spielen hat er heraus; das ist auch das einzige.« Der Zorn hatte sich gelegt, sie lachte wieder ihr fettes, herzliches Lachen: »Was der tolle Junge nur heute mit der Wilhelmine hatte? Er glaubt, das ärgert mich.«
»Heißen Sie nicht so, Frau Böhk?« fragte Rosa.
»Doch! Ich bin auf den Namen Wilhelmine getauft. Gleichviel! Sonst sagt er: Frau Böhk, oder, wenn er ungezogen ist: Alte. Die Wilhelmine war nur, um vor Ihnen Staat zu machen und mich zu ärgern. So ein unnützer Schlingel! Haben Sie aber meinen Hans gesehen? – Nein? – Dacht ich mir’s doch! Der Vater ist zu frech; und der Sohn, wenn er weiß, dass ein Fremder im Hause ist, so sitzt er in seiner Kammer und ist nicht herauszubringen. Beim Mittagessen werden Sie ihn sehen. Ein hübsches, gutes Kind; nur sein Kopf ist etwas schwach.«
Zum Mittagmahl musste Hans von Martha und Grethe gewaltsam in das Zimmer gestoßen werden. Dort blieb er ungeschickt stehen und schielte angstvoll zu Rosa hinüber. Er hatte die schmächtige, biegsame Gestalt seines Vaters, das glatt an den Kopf gekämmte Haar, aber die rosige Gesichtsfarbe und die grauen Augen stammten aus der Familie der Mutter, nur dass Hans’ Züge nichts von dem tatkräftigen Lebensmut der Frau Böhk zeigten.
Die Hebamme lachte gerührt über ihren linkischen Sohn: »Bist du dumm! Setz dich; das Fräulein wird auch ohne dein Kompliment auskommen.«
Grethe trug die Suppe auf, und Frau Böhk schöpfte vor. »Ah, Zwiebelsuppe!« meinte Herr Böhk; »das habe ich schon heute morgen gewusst. Ich hab’s gerochen.«
»Freilich!« erklärte Martha, »der Onkel hat den ganzen Morgen über die Nase über den Suppentopf gehalten.«
»Martha«, ermahnte Herr Böhk sanft, »das ist nicht wahr. Du solltest über deinen Pflegevater nicht solche Lügen verbreiten.«
Als ein jeder seine Suppe hatte, ward es still. Nur ein wohliges Schlürfen und das Aufklappen der Löffel waren vernehmbar. Eine begeisterte Eßlust beseelte die Tischgenossen. Die Mädchen, wenn sie den vollen Löffel hoben, öffneten die breiten roten Lippen ganz weit und zuckten mit den Wimpern. Hans stützte sein Kinn auf den Tellerrand und warf die Suppe mit dem Löffel schnell und gierig in den Mund. – Nun waren die Teller leer – so leer, dass kein Tröpfchen zurückgeblieben war. Martha holte die Fleischspeise: geräuchertes Schaffleisch mit weißen Bohnen – und sie lächelte feierlich, als sie die Schüssel voll dunkelroter Fleischstücke ins Zimmer trug und mit beiden Armen emporhob.
»Für das Fräulein muss gebratenes Rindfleisch da sein«, verkündete Frau Böhk. »Rauchfleisch ist nichts für uns«, fügte sie sanft hinzu und strich Rosa mit der Hand über das Haar. »Wir müssen vernünftig sein.« Grethe blickte erschrocken und mitleidig auf Rosa, als fürchtete sie, Rosa würde weinen.
Ebenso andächtig wie die Suppe ward auch das Fleisch verzehrt. Frau Böhk und die Mädchen zerteilten mit liebkosender Langsamkeit das Fleisch und schoben es vorsichtig in den Mund. Unter den Herren jedoch entstand Lärm. »Mutter! Er nimmt mein Stück; ich hatte es mir ausgesucht!« klagte Hans.
»Was heißt ausgesucht«, protestierte Herr Böhk ernstlich böse; »was einer hat, das hat er.«
»Nein! Gerade dieses Stück wollte ich haben. Mutter, sag ihm, dass er’s mir gibt.«
Herr Böhk lachte verlegen. Er fürchtete, vor Rosa lächerlich zu erscheinen, und wollte doch sein Stück nicht fahrenlassen: »Nein, mein Sohn!« meinte er, »jetzt gerade nicht. Der Erziehung wegen – weißt du. Es ist ja unmoralisch.«
»Und nur weil ich es wollte, nimmt er’s!« wiederholte Hans. Ärgerlich blickte Frau Böhk von ihrem Teller auf: »Könnt ihr Jungen denn nicht Ruhe halten? Böhk, du bist der ältere, gib doch nach.«
»Der ältere! Natürlich bin ich der ältere!« Herr Böhk war tief verletzt: »Ich möchte wissen, wo der da wär, wenn ich nicht der ältere wäre! Sonst muss der Sohn den Vater ehren, aber hier – nein – da muss der Vater dem Sohn gehorchen. Bitte, lieber Hans, nimm das Stück; sei so gut und sage mir, bitte, ob du später noch eins nehmen wirst, damit ich dir nicht dein Stück fortnehme. Oder soll ich vielleicht gar nicht essen und warten, bis du fertig bist? Sag mir das, mein süßer Hans.«
»Gib mir das Stück.«
»Nimm es! Es ist ein Skandal.«
Frau Böhk hatte sich längst wieder ihrer Portion zugewandt, sie wollte sich von diesen dummen Geschichten nicht stören lassen.
Die Mahlzeit war endlich beendet. Erhitzt lehnten sich die Tischgenossen in ihren Stühlen zurück. Die Mädchen zögerten noch mit dem Abräumen und blieben sitzen, die Arme auf den Tisch gestützt. Frau Böhk trank Bier und sprach dabei zwischen jedem Zuge aus dem Glase einen kurzen Satz: Agnes war alt geworden – nicht wahr? Sie – Frau Böhk – musste sich doch gewiss mehr plagen, aber sie war kräftiger. Immer auf dem Posten sein, wie ein Soldat, das erhält. Herr Böhk knetete Enten aus Brot, und Hans schaute ihm gespannt zu. Eine behagliche Mattigkeit beschwerte sie alle, wie sie da saßen unter den Speiseresten und Geräten – im gelben Licht der Mittagssonne.
»Nun, Mädchen, werdet ihr nicht ans Abräumen gehen?« mahnte Frau Böhk. »Man wird wohl müssen«, erwiderte Grethe, streckte ihre beiden Arme empor und reckte sich.
Rosa war die erste, die den Tisch verließ. »Ja, ja«, sagte die Hebamme. »Gehen Sie nur, schlafen Sie ein wenig, liebes Kind.«
In ihrem Zimmer eilte Rosa zu dem kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch an der Wand hing. Sie verstand es selbst nicht, welch seltsame Neugierde sie antrieb, anhaltend und aufmerksam ihr eigenes Gesicht zu betrachten. Dieses Gesicht mit den übergroßen blauen Augen erschien ihr heute so vergänglich und überfeinert. Ja! Das war es, wonach sie sich sehnte, etwas, bei dem sie sich von dem derben Lebensmut dort unten erholen konnte, der sie plötzlich mit einem Gefühl der Übersättigung und des Widerwillens bedrückt hatte. Das schmale, vornehme Gesichtchen aber, das ihr aus dem Spiegel melancholisch und geheimnisvoll entgegenlächelte, gab ihr wieder ihre Mädchenträume zurück, und als sie sich auf ihr Bett legte, ward sie von schönen, unklaren Gedanken in Schlaf gewiegt.
Der Abend war schon hereingebrochen, als Rosa erwachte. Mondschein lag auf dem Fußboden. Der Rosenstock auf dem Fensterbrett warf einen großen gezackten Schatten über den Vorhang.
Aus einem tiefen, traumlosen Schlummer erwachend, zögerte Rosa noch, wieder an das Leben anzuknüpfen, und gab sich ganz dem süßen Gefühl körperlicher Ruhe hin. Langsam nur kehrte ihr das Bewusstsein ihrer Lage zurück: Dort unten lag Tiglau; dieses war das kleine Gemach bei Böhks, ganz recht! Die Böhks hatte sie im Wohnzimmer um den Mittagstisch versammelt zurückgelassen. Bei alldem war nichts Trauriges. Die gute Böhk, die hübschen Mädchen, Herr Böhk mit seiner Violine. Und dennoch! Etwas Betrübendes musste es doch geben, sie war ja doch unglücklich. Oh, da war es! Jetzt wusste sie es! Eine innere Unruhe trieb Rosa aufzuspringen. Sie ging ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. Unten lag Tiglau, hell beschienen, und über die Dächer hin schaute Rosa auf das Land hinaus, das sich dort – ganz weit – in ein bleiches, sanftes Flimmern verlor. »Das ist schön«, sagte sich Rosa. Sie fühlte wohl die Friedenspoesie dieses stillen Landes und wollte sie genießen. Trotz Kummer und Harm war die schöne, ruhevolle Welt doch da. Rosa stützte den Arm auf das Fensterbrett und schaute hinab.
Oft schon hatte sie es versucht, in gesammeltem Anschauen die Welt zu genießen. Daheim, wenn der Mondschein auf dem Dach des Pfarrhauses lag und die Kastanienwipfel voller Sterne hingen, hatte sie einen Stuhl an das Fenster gerückt und sich zum Betrachten niedergesetzt. Aber, weiß es Gott, lange hatte sie es nie ausgehalten. Die Mondnacht flößte ihr Unruhe ein, Lust mitzutun. Sie musste hinaus, musste mit Sally und Marianne durch die Straßen schreiten, an die Fensterscheiben des Fräulein Katter pochen, in den Häusernischen kichern.
Rosa wollte es kaum glauben, aber so war es auch heute, sie vermochte nicht ruhig dazusitzen, es trieb sie wieder mitzutun. »Hinabgehen kann ich wenigstens«, sagte sie sich.
In dem engen Mauerraum, der die Wendeltreppe enthielt, befand sich ein rundes Fenster, durch das der Mond hereinschien. Auf den schmalen Treppenstufen lagen gelbe Lichtflecken, vom Schatten des groben Maßwerkes mit schwarzen Strichen verziert. Rosa blieb stehen. Hier war es hübsch, und gern hätte sie hier etwas erlebt. Kindheitserinnerungen stiegen in ihr auf. Zu Hause hatte die große Stiege im Mondlicht stets ein verändertes Wesen, ein abenteuerliches Aussehen angenommen, so dass es den Kindern in den Ecken voll bleichen Lichtes bang und süß ums Herz geworden war, als steckten sie mitten in einem Märchen. Rosa entsann sich dessen wohl.
Unten im Flur musste die Außentüre offengeblieben sein, denn ein kalter Luftzug strich bis zu Rosa hinauf; auch Flüstern und leises Lachen klangen herüber. »Das sind die Mädchen und ihre Liebsten«, sagte sich Rosa und lehnte sich an die Treppenrampe. Für sie war das vorüber. Dieser Gedanke schmerzte so, dass sie hätte weinen mögen. Sie wollte ins Wohnzimmer hinabgehen; wenn sie die Mädchen dadurch störte, um so schlimmer für jene! Fest auftretend stieg sie die Treppe hinab.
An der Hoftüre lehnte Martha. Vor ihr stand ein Bursche und hielt ihre Hände. Als Rosa an ihnen vorüberging, sagte Martha ruhig: »Es ist nur der Peter, Fräulein, drüben von der Schmiede.« Peter ließ Marthas Hände los und zog die Mütze ab. »Guten Abend«, sagte Rosa, blieb stehen und sah das Liebespaar mit klaren, erregten Augen an.
Wie sorglos die da Hand in Hand auf der hellbeschienenen Schwelle standen und ihre Liebesstunde begingen, wie etwas, das ihnen zukam!
»Sie werden Licht brauchen, Fräulein«, meinte Martha. »Die Tante ist fortgegangen.«
»Nein, ich danke.«
Rosa ging weiter. Durch die Küchentüre sah sie Grethe im Fenster liegen. Zwei große Hände wurden von außen ins Zimmer gesteckt und fassten den runden, braunen Kopf des Mädchens.
Im Wohnzimmer stützte Rosa die Stirn an die Fensterscheiben und war tief bekümmert. Sie begriff es wohl, ihre Liebesstunden waren vorüber, waren alle ausgegeben.
Ach, jetzt wollte es ihr fast scheinen, sie habe sie nie gehabt. Neben den friedlich lächelnden Liebesleuten dort im Flur nahm sich ihre eigne Liebesgeschichte wie ein wirrer, alberner Fiebertraum aus. Sie hätte es gern anders gemacht!
Drittes Kapitel
Im Böhkschen Haushalt ging ein jeder seinen eignen Weg, das sah Rosa schon am ersten Tage. Frau Böhk war wenig zu Hause. Sie war sehr beschäftigt. Bei Tag und bei Nacht verlangten die Leute nach ihr, und an der Haustüre hing eine Schiefertafel, auf welche Frau Böhk, wenn sie das Haus verließ, schrieb, wohin sie ging, damit ein jeder, der sie suchte, sie finden konnte. Aber riefen sie auch nicht gerade Amtsgeschäfte, es litt sie doch nicht lang zwischen ihren vier Wänden. Sie liebte es, mit Bekannten an den Straßenecken zu plaudern, sich durch die Küchenfenster einen Tropfen Kirschgeist, einen Löffel eingemachten Stachelbeeren herausreichen zu lassen und dafür ihre vernünftigen Grundsätze, ihre alleinseligmachenden Lehren auszustreuen. Wenn man einer ganzen Generation dazu verholfen hat, das Licht der Welt zu erblicken, dann hat man auch ein Recht zu erfahren, wie diese Generation lebt. Mein Gott, was es heutzutage für unverständige Mütter gibt. Wenn Frau Böhk mit ihren Ratschlägen nicht da wäre!
Beim Schreiner erkundigte sie sich nach dem kleinen skrofulösen Martin. Das arme Kind! Eine so schöne leichte Geburt, und solch ein Würmchen! Beim Gewürzkrämer riet Frau Böhk, dem Friedrich, dem ungezogenen Bengel, tüchtige Schläge zu geben, wenn er die Nacht über schrie. Die Apothekersfrau war zwar eine eingebildete Gans, die vornehm tat, aber zuweilen sprach die Hebamme auch dort vor, ließ sich ein Glas Soda mit Himbeeren reichen und erteilte Lehren, denn des Apothekers Elise war im gefährlichen Alter, und da muss man… Gott, was wäre aus der armen Elise geworden, wenn Frau Böhk nicht hinter dem gelbpolierten Ladentisch der Apothekerin Verhaltensmaßregeln gegeben hätte!
Außer den Mahlzeiten konnte sich Frau Böhk somit den Ihrigen nur auf Augenblicke zeigen.
Die Mädchen trieben unterdessen daheim ihr Wesen. Zuweilen kam ein Arbeitsfieber über sie, wenn die Tante zufällig einen Blick in die Küche und die Ställe geworfen hatte. Ein Sturm von Unzufriedenheit pflegte dann loszubrechen: »Wie in einem Schweinestall leben wir hier! Hab ich euch dazu ins Haus genommen, damit ihr die Hände in den Schoß legt oder damit ihr euch mit Schmiedegesellen herumtreibt?« So ging es fort, bis Frau Böhk wieder auf der Straße war. Nach solch einem Wetter strengten sich die Mädchen an. In allen Winkeln des Hauses klatschten nasse Tücher; im Hof wurden Polster und Betten gestäubt. Diese Aufregung dauerte jedoch nicht lange. Bald kam wieder tiefer Friede über das Haus. Martha und Grethe saßen auf den Fensterbänken umher, sangen vor sich hin, schauten hinaus, stießen sich, lachten – wenn sie nicht gerade etwas an ihren Kleidern auszubessern hatten oder Wäsche bügeln mussten. Martha hatte oft drüben beim Schmied etwas zu tun. Stundenlang konnte man sie vor der Werkstatt stehen sehen – an den rußigen Türpfosten gelehnt. Bis zum Schreiner, wo Grethchens Liebster Gesell war, war es zwar weiter, dafür erschien er pünktlich unter dem Küchenfenster.
Wie Herr Böhk seinen Tag verbrachte, konnte niemand genau angeben. Er ging – er kam – die Hände in den Hosentaschen, eine sanfte Melodie pfeifend. Er war immer heiter, hatte immer Zeit, half den Mädchen ihre Hüte bestecken – verschwand dann auf viele Stunden, saß plötzlich wieder im Wohnzimmer und baute an einer Maus mit einem Uhrwerk, wartete auf das Mittagessen, auf das Abendessen, guckte in den Kochtopf, ging wieder fort und kam oft sehr spät nach Hause. »Wohin gehst du?« fragte Hans seinen Vater.
»Was kümmert das dich, mein Junge?« erwiderte Herr Böhk heiter.
»Ich will mit.«
»Das geht nicht, mein einziges Kind.«
»Ja!«
»Nein!«
»Die Mutter erlaubt es nicht, dass du fortgehst.«
»Deshalb frage ich sie auch nicht.«
»Ich will aber mit.«
»Unmöglich! Ich nehme dich aber nicht mit, mein süßer Hans.«
Die geheimnisvollen Gänge seines Vaters waren das einzige, nach dem Hans sich mit einiger Leidenschaft sehnte. Sein Kopf war »zu schwach«, darum brauchte er nicht die Schule zu besuchen, so hatte er denn nichts auf der ganzen Welt zu tun, ging von einem Zimmer in das andere, neckte den Hahn im Hof, schlief in allen Ecken ein, hing sich an die Röcke der Mädchen; nur wenn der Vater eilig und schmunzelnd zur Tür hinausschlüpfte, ward Hans unruhig und wollte mit. Stundenlang bewachte er den Hut seines Vaters, so dass dieser gezwungen war, sich einen zweiten Hut anzuschaffen, um der Aufsicht seines Sohnes zu entgehen, und als Hans endlich dieses Manöver begriff, weinte er und trat den zurückgebliebenen Hut mit Füßen. Täglich klammerte sich dieses enge Gehirn an die Hoffnung, hinter des Vaters Schliche zu kommen.
Nun – und Rosa ging auch ihren eigenen Weg; aber sie fühlte es wohl, ihr Weg war der wenigst heitere. In ihrer Kammer saß sie am Fenster, nähte Kinderhemdchen und schaute auf die Straße hinab. Sie interessierte sich für die Vorgänge in der Schmiede, für das regelmäßige Aufflackern des Schmiedfeuers, für das helle Pingping des Hammers, und wenn Martha in die Türe der Werkstatt trat, legte Rosa ihre Arbeit beiseite und drückte die Stirn an die Fensterscheiben. Marthas Geliebter sah zwar ein wenig seltsam aus mit seinem übergroßen Kopf voll struppiger brauner Haare, mit dem berußten Gesicht und den kurzen, ein wenig krummen Beinen; aber – immerhin!… Auf der sonnigen Straße, an den schwarzen Türpfosten standen die Liebesleute beieinander, stießen sich mit ihren kräftigen Fäusten und lachten so laut, dass Rosa es oben hören konnte… War Martha fort, war die Straße leer – dann beugte sich Rosa seufzend auf ihr Kinderhemd nieder. Unten im Wohnzimmer sang Grethe mit halber Stimme eine Melodie in ihre Arbeit hinein, ein schläfrig-träges Geträller. Vor dem Fenster zirpten aufgeblasene Spatzen.
In der Einsamkeit dieser Stunden musste Rosa nachdenken, und wenn man so grübelt und grübelt, werden die Gedanken wunderlich farbenvoll; sie nehmen die Körperlichkeit von Träumen, von Visionen an, dass man sich fast vor ihnen fürchten muss und mit einem Schauer über den ganzen Körper zur Wirklichkeit erwacht. Dazu kam noch eine große Ernüchterung in Rosas Anschauungen. Sie verstand es jetzt, dass im bunten Durcheinander menschlicher Schicksale für sie nur ein kleiner Winkel reserviert war. Ihr Winkel lag sehr abseits und war, fürchtete sie, nicht allzu hell. »Ich hab’s eben verdorben«, sagte sie sich und strich mit dem Nagel ihres Daumens über den Saum, an dem sie nähte. Ein friedevolles Verzichten kam über sie. Mit ihrem Kinde wollte sie hier, in einem abgelegenen Häuschen, wohnen, hierbei konnte ihre Phantasie wieder verweilen; ein kleines Haus mit einem Vorgarten, helle Zimmer – jeden Morgen ging Rosa auf den Markt, Einkäufe zu machen – und dann das Kind…
Frau Böhk hatte Rosa Bewegung in freier Luft verordnet. »Kraft kann man sich nur draußen holen«, meinte sie, »und vor allem haben wir Kraft nötig.« So wanderten Martha und Rosa jeden Nachmittag um die Stunde, da die Sonne rötlich auf den Schnee schien und die Schulkinder auf der Gasse lärmten, hinaus ins Freie. Wenn Rosa aus ihrer stillen Kammer trat, wunderte sie sich über den fröhlichen Tumult draußen, über die vielen Menschen, die vor den Türen standen und plauderten. Alle nickten ihr und Martha zu, riefen ein lautes »Guten Abend« herüber. Es war die Feierstunde von ganz Tiglau, das sich auf der einen langen Gasse des letzten Sonnenstrahls freute, um sich mit der Dunkelheit wieder in die engen Häuser einzuschließen.
Martha, ohne Hut, ein rotes Tuch über die Brust gebunden, ging sittig neben Rosa einher und versuchte es, kleine Schritte zu machen; wenn aber ein gerade unbenützter Schneeball vor ihren Füßen lag, hob sie ihn auf und warf ihn einem der Buben an den Kopf. Dort, hinter der schwarzen, zerfallenen Hütte der Frau Leb, der Kräuterfrau, hörte Tiglau auf, und wenn die Mädchen durch den Lärm der engen Gasse hindurchgegangen waren, erschien ihnen das offene Land erschütternd weit und schweigsam. Der Wind zauste an ihren Kleidern, und die Sonne blitzte so hell auf der Schneedecke, dass es den Augen wehtat. Arm in Arm gingen die Mädchen mit festen, eiligen Schritten vorwärts. »So ist’s lustig, nicht, Fräulein?« sagte Martha und schüttelte die Schultern. Ja, Rosa fand es auch lustig. »Es ist, als ob man schwimmt«, meinte sie. »Wie?« fragte Martha, doch dann nickte sie: »Ja – so kühl.« Es war nicht ganz das, was Rosa meinte. Das Sprühen und Rennen der roten und weißen Lichter auf der Fläche, der zitternde Glanz allerorten, den man nur mit zuckenden Wimpern anschauen konnte, gaben Rosa die Empfindung, als woge und fließe alles um sie her. Ein munteres Jugendgefühl beseelte sie wieder. Sie drückte ihre Schulter fester an Marthas Arm und sagte: »Wie war doch das Lied, das Sie gestern sangen, von dem Liebchen, von dem man nichts hat?«
»Ah das!« Und Martha begann zu singen, schrie die Töne so laut sie konnte in die Weite hinaus. Rosa sang mit, und beide hoben die Köpfe, blinzelten lächelnd in das letzte Aufflackern des Tages hinein.
Plötzlich war die Sonne fort. Einen Augenblick stand das Birkenwäldchen in Flammen, und der Horizont strahlte wie dunkelrotes Glas; dann fing das Erlöschen an. Das Gold der langgezogenen Wolken wurde bleicher, durchsichtiger und setzte einen grauen Rand an, wie von seiner Asche.
Bedauernd schauten die Mädchen auf dieses Erlöschen.
»Wir müssen heim«, sagte Martha endlich.
»Können wir nicht noch bis an die Birken gehen?« bat Rosa.
Aber Martha schüttelte verlegen mit dem Kopf.
»Die Tante wird böse sein, wenn wir lange fortbleiben.«
So kehrten sie denn um. Die Lichter auf dem Schnee waren fort, mattgraue Schatten krochen über die Fläche hin.
»Aber wissen Sie, Fräulein«, sagte Martha beschwichtigend, als rede sie einem Kinde zu. »Wenn es Frühling ist, dann gehen wir ins Birkenwäldchen.«
»Ja, dort muss es schön sein.«
»Freilich! Ein Bach geht an den Birken vorüber, dort fangen wir Krebse, unter den Birken ist das Moos so dicht, dass man auf den Baumwurzeln wie auf Kissen sitzt. Oh, es ist schön dort! Dabei duften die Birken so stark, dass man davon wie betrunken wird. Gewiss! Wenn wir bei Nacht dort saßen, bekamen wir Kopfweh davon.«
»Wer?«
»Ich und der Peter«, antwortete Martha ruhig.
Es dunkelte immer mehr. Durch die Luft flogen winzige harte Schneeflocken, die wie Nadeln stachen. Die Mädchen mussten die Köpfe niederbeugen, um sich zu schützen.
Martha hatte einen Augenblick geschwiegen, nun nahm sie das Gespräch mit gedämpfter Stimme wieder auf: »Ja, wissen Sie, Fräulein, ich durfte den Peter zu Hause nicht mehr sehen, die Tante hatte es verboten, drum gingen wir ins Wäldchen hinab. Ach, die Tante war dem Peter so böse – so böse.«
»Warum denn?«
Martha lachte: »Der Peter ist auch zuweilen ein zu dummer Junge! Er wollte mich erschrecken. Sie wissen doch? Vom Speicherdach kann man in unsere Fenster hineinlangen. Nun, in einer Nacht stieg der Peter da hinauf, um an unser Fenster zu klopfen. Einen Spaß wollte er machen. Wir haben gelacht und dann ein wenig geplaudert, er stand auf dem Speicherdach, ich im Zimmer. Wie er da wieder herunter will, kommt die Tante gerade von der Krämerin zurück, die damals in den Wochen lag. Es war heller Mondesschein, so erkannte die Tante den Peter. Du liebe Zeit, das gab einen Lärm! So erbost hatte ich die Tante noch nie gesehen. Der Peter durfte sich bei uns nicht mehr zeigen; in die Schmiede hinüberzugehen traute ich mir auch nicht. Was sollten wir da tun? Sehn musste ich den Peter, dachte ich. Ich geh doch mit ihm. Und ist er zu mir herauf über das Dach gekommen, so kann ich auch über das Dach zu ihm hinabkommen. So bin ich denn bei Nacht hinabgestiegen, und wir trafen uns bei den Birken. Was sollten wir anderes tun, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Rosa leise. Es war ihr selbst wunderlich, wie vernünftig und natürlich sie alles fand, und über das bleiche, dämmerige Schneefeld kam es wie der weiche Hauch der Frühlingsnächte, der berauschende Birkendüfte mitbringt. »Und jetzt?« fragte sie, um Martha zum Weitererzählen zu veranlassen. »Jetzt«, sagte Martha, »sind diese alten Geschichten vergessen. Die Tante kann den Peter zwar immer noch nicht leiden, aber – mein Gott!« Sie beendete den Satz mit einem Zucken ihrer breiten Schultern, als fühlte sie sich wohl imstande, mit einem Stoß dieser Schultern alles beiseitezuschieben, was sich zwischen sie und den Peter stellen wollte.
»Sie lieben den Peter sehr?« forschte Rosa weiter.
»Ach Gott! Fräulein! Wie kann ich sagen, dass ich den Peter liebe! Und doch, es wird wohl so etwas sein. Natürlich haben wir uns gern. Wir gehen schon drei Jahre miteinander; da gewöhnt sich eins ans andere. Die Tante sagt wohl, der Peter ist arm; das ist aber nicht wahr. Der Mutterbruder des Peter ist nach Amerika gegangen. Dort soll man reich werden können, und wenn dieser Mutterbruder nicht heiratet oder keine Kinder hat, dann erbt Peter alles. Ja – und dann, ich hab nun einmal den Peter genommen, da muss ich zu ihm halten. Ich kann nicht, wie des Krämers Minna, jedes Jahr einen anderen Geliebten nehmen. Das wäre der Tante auch nicht recht. Es ist ja auch kein anderer da.«
Sie schlugen einen kürzeren Weg nach Hause ein. Die Straße vermeidend, gingen sie an der Rückseite der Häuser einen engen Pfad entlang. Küchengerüche und eine warme, dumpfe Luft wehten hier. Hie und da flatterte das unsichere Licht eines Herdfeuers oder der Glaskugel eines Schusters über den finstern Weg.
»So! Jetzt sind wir daheim«, sagte Martha, als sie im Flur des Böhkschen Hauses standen. Rosa stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinan, sie ward aber zurückgehalten. Martha hatte Rosas Hand ergriffen und ihre Lippen fest daraufgedrückt. »Mit Ihnen, Fräulein, plaudert’s sich so gut«, meinte sie. An der Hoftüre aber lehnte schon Peters breite Gestalt; er streckte die Arme aus und griff nach den kühlen, von Schneeflocken feuchten Wangen seines Mädchens.
Während Rosa die Treppe hinanstieg, fühlte sie sich angenehm erregt. Die Schönheit der abendlichen Welt, alles, was sie gehört und gesehen, endlich Marthas warme Zärtlichkeit ließen Rosas gereiztes, gequältes Herz schneller pochen. Oben jedoch, in der schweigsamen Dunkelheit ihrer Kammer, kam der Rückschlag. Ein peinvolles Verlangen nach Lust und Glück schrie in Rosa auf. Sie wollte auch über die mondbeglänzten Dächer in grüne Birkenwäldchen eilen, um dort einen Geliebten zu finden, der sie warm – warm in die Arme schloss – – das Blut kochte in ihr, gab ihr schwüle, widrige Gedanken, die wie Fieber in ihr brannten und ihr Fleisch beben ließen.
Als Rosa zum Nachtmahl hinabging, war sie so bleich, dass alle sie verwundert anschauten; nur Frau Böhk klopfte sie auf die Schulter und meinte: »Das sind die Kindsmucken; das kennen wir.«