Czytaj książkę: «DAS BUCH ANDRAS II»

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

TAG DREI

VII. Der Überfall auf die Station

VIII. Der Einbruch in die Kanzlei

Drittes Zwischenspiel: Verlorene Erinnerungen

IX. Der Weg ins Kloster

Viertes Zwischenspiel: Die Geschichte der Nonne

TAG VIER

X. Die Dämonenbeschwörung in der Klosterkapelle

Fünftes Zwischenspiel: Das Haus, in dem die Zeit stillsteht

Epilog

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

TAG DREI

Samstag, 20. Juni

VII. Der Überfall auf die Station

Kapitel 1

Der gellende Schrei hallte durch die dunklen Gänge, bevor er abrupt zum Verstummen gebracht wurde.

Noch immer von dem unwirklichen Gefühl erfüllt, in einen bodenlosen, finsteren Abgrund zu stürzen, erwachte ich aus dem Schlaf und riss die Augen auf. Erneut fand ich mich aufrecht in meinem Bett sitzend wieder, doch im fahlen Licht des sichelförmigen, zunehmenden Mondes, das durch das vergitterte Fenster in den Raum fiel, erkannte ich erleichtert, dass ich mich nicht in der kargen Zelle des Klosters aus meinem Traum, sondern in meinem Zimmer im Sanatorium befand.

Noch immer hatte ich wie eine düstere Resonanz die letzten Traumbilder so lebhaft und deutlich vor Augen, dass ich kaum glauben konnte, dass ich all das nur geträumt und nicht leibhaftig erlebt hatte. Alles war noch unglaublich präsent und wirkte gleichzeitig so lebensecht. Doch allmählich verblassten auch diese Bilder und verschwanden in den Tiefen meines verwirrten Verstandes, um dort abgelegt und bei Bedarf erneut in mein Bewusstsein zurückgeholt zu werden.

Denn was sollte es sonst gewesen sein, wenn nicht ein furchtbarer, nächtlicher Traum, enthielt er doch alle Zutaten, mit denen mein Gehirn in den letzten beiden Tagen gefüttert worden war: schreckliche Dämonenfratzen, der düstere Opferaltar inmitten des Drudenfußes und der Kerzen, mein Ebenbild auf dem Steinblock, das Messer in der Brust des Opfers. Und all das zweifellos als wesentliche Bestandteile eines finsteren Rituals. Das Kloster, die Nonnenkleidung meines Traum-Ichs und die ältere Nonne, die ich flüchtig im spiegelnden Glas des Fensters gesehen hatte, waren natürlich neue, mir bisher unbekannte Elemente, doch auch sie reichten meiner Meinung nach nicht aus, aus den Szenen mehr zu machen als einen bloßen Albtraum. Zum Beispiel eine versinnbildlichte Vorhersehung künftiger Ereignisse oder die Wahrnehmung tatsächlicher Geschehnisse durch die Augen einer anderen Person, um nur zwei der versponnenen Möglichkeiten zu nennen, die der weniger rationale Teil meines Verstandes mir anbot.

Ich schüttelte demonstrativ den Kopf über meine eigenen verdrehten Gedanken. Anscheinend hatten mich Direktor Engel und Karl Augstein mit ihrer Sicht der Welt bereits weitaus stärker infiziert, als ich wahrhaben wollte. Weshalb sollte ich sonst derartig unglaubwürdige Theorien überhaupt in Erwägung ziehen, wenn ich nicht durch all die Dinge, die ich in letzter Zeit erlebt und erfahren hatte, allmählich den Boden der Realität unter meinen Füßen verlor.

Immerhin hatte ich es geschafft, die Szenen meines Traumes erfolgreich aus meinem Verstand zu verbannen. Im Gegensatz zur letzten Nacht war ich dieses Mal auch nicht schweißgebadet erwacht. Ich hätte mich also einfach wieder hinlegen und – hoffentlich traumlos – weiterschlafen können.

Doch irgendetwas – ein winziges Detail, ein Gedanke vielleicht, eine Beobachtung, ein Geräusch oder was auch immer –, klopfte noch immer beharrlich an die Tür meines Verstandes und begehrte Einlass. Doch selbst dann, als ich mich darauf zu konzentrieren begann, konnte ich nicht deutlicher erkennen, was mich noch immer in leichte Unruhe versetzte.

War es tatsächlich nur das Ende meines Albtraumes gewesen, das zu meinem Erwachen geführt hatte, fragte ich mich plötzlich, oder war da nicht noch etwas anderes gewesen, das mich letztendlich geweckt hatte?

Wie als Reaktion auf meine eigenen Überlegungen hörte ich plötzlich einen gedämpften Schrei, der allerdings unverzüglich wieder erstickt wurde.

Da erinnerte ich mich endlich, dass ich beim Übergang vom Schlaf zum Wachzustand ebenfalls einen Schrei gehört hatte. Allerdings war ich in den ersten verwirrenden Augenblicken, nachdem ich vollends erwacht war, aber noch mit den Nachbildern meines Traumes zu kämpfen hatte, davon ausgegangen, dass ich selbst geschrien hatte, weil ich geglaubt hatte, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Doch nun war ich mir darüber gar nicht mehr so sicher.

Ich lauschte konzentriert, hörte jedoch vorerst nichts mehr.

Im Grunde war es ja auch nichts Ungewöhnliches, an diesem Ort nachts gelegentlich Laute wie Schreien, Stöhnen oder Jammern zu hören. Selbst wenn man für einen Moment außer Acht ließ, welche Art von Menschen hier untergebracht war – ich betrachtete mich selbst dabei natürlich als Ausnahme von der Regel –, brachte es jede derartige Ansammlung von Leuten auf so engen Raum von Haus aus mit sich, dass es selbst in der Nacht nie völlig still war. Und wenn man dann noch berücksichtigte, unter welchen psychischen Erkrankungen die Insassen dieser Abteilung teilweise zu leiden hatten, konnte man sich lebhaft vorstellen, dass der eine oder andere oft auch nachts von seinen eigenen inneren Dämonen geplagt wurde – die aber nichts mit den Dämonen der Herren Engel und Augstein gemein hatten – und solcherart gepeinigt laut schrie oder jammerte.

Obwohl ich noch nicht lange hier war, hatte ich mich überraschend schnell an diese nächtlichen Geräusche gewöhnt. Sie störten mich also kaum noch, wenn ich einschlafen wollte oder während ich schlief. Vielleicht war ich bislang aber auch nur jedes Mal zu erschöpft gewesen, als ich zu Bett gegangen war, sodass ich sogar eingeschlafen wäre, wenn direkt neben meinem Bett eine Blaskapelle den bayerischen Defiliermarsch gespielt hätte.

Doch gerade weil ich mich an die Schreie, die gelegentlich durch die Abteilung gellten, mittlerweile gewöhnt hatte und sie kaum noch bewusst zur Kenntnis nahm, beunruhigte mich dieser Schrei, den ich soeben gehört hatte, denn er unterschied sich in meiner Wahrnehmung deutlich von den gewöhnlichen Schreien.

Auch wenn ich während meines kurzen Aufenthalts an diesem Ort bereits deutlich mehr Leute hatte schreien hören als in einem drittklassigen Horrorfilm, hätte ich die verschiedenen Schreie dennoch nicht den jeweiligen Insassen zuordnen können. Ich wusste lediglich, dass die alte Dame im Zimmer neben mir im Schlaf ab und zu rief: »Mein Geld kriegst du nie!«, und fragte mich, ob sie damit wohl den jungen Mann meinte, der sie heute Abend besucht hatte. Aber abgesehen davon wusste ich in der Regel nicht, wer nun den gellenden Schrei, das laute Schluchzen oder das weinerliche Gejammer ausgestoßen hatte, wenn ich es hörte.

Obwohl ich also grundsätzlich weder die Urheber identifizieren noch die Laute individuellen Personen zuordnen konnte, beunruhigten mich diese jedoch meist nicht, da sie für mich unterbewusst vermutlich dennoch vertraut klangen. Doch bei dem Schrei, den ich soeben gehört hatte, war das absolute Gegenteil der Fall. Er klang nach meinem Empfinden nicht wie einer der üblichen Laute. Denn die Schreie, die sonst auf dieser Station in der Nacht zu hören waren, wurden weder gedämpft noch abgewürgt, sondern erfolgten in voller Lautstärke und Länge, weil diejenigen, die sie ausstießen, sich selbst aufgrund ihrer Erkrankungen keinerlei Beschränkungen auferlegten und ihren Gefühlen quasi freien Lauf ließen.

Eine innere Stimme sagte mir daher sehr deutlich und bestimmt, dass mit diesem Schrei etwas nicht stimmen konnte, und brachte mich so zu dem spontanen Entschluss, aufzustehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Selbst wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich mich spätestens ab diesem Moment nicht mehr einfach zurücklegen und weiterschlafen können. Zu unruhig und aufgewühlt war ich mittlerweile, sodass an Schlaf vorerst ohnehin nicht zu denken war. Ich konnte die Sache jetzt nicht einfach auf sich beruhen lassen und so tun, als wäre nichts gewesen, denn in den letzten beiden Tagen war bereits zu viel Ungewöhnliches in meiner unmittelbaren Umgebung geschehen. Manches, was zunächst wie ein zufälliges Ereignis erschienen war, hatte sich im Nachhinein als Mosaikstein einer erheblich größeren und bedeutenderen Wahrheit herausgestellt, von der ich bislang noch immer zu wenig Teile vorliegen hatte – die zudem nicht einmal richtig zusammenzupassen schienen –, als dass ich das ganze Bild zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise erkennen konnte.

Ich machte Licht und sah auf den Wecker auf dem Nachttisch, der ebenfalls zum sanatoriumeigenen Inventar gehörte. Es war ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Ich hatte also, grob gerechnet, gerade mal eine Stunde geschlafen, nachdem Direktor Engel mich nach der Besprechung in der geheimen Bibliothek auf mein Zimmer zurückgebracht hatte und ich zu Bett gegangen war. Ich fühlte mich zwar immer noch müde, aber wenigstens nicht mehr so erschöpft wie zuvor. Die Stunde Schlaf hatte mir trotz des Albtraums gutgetan. Auch meine diversen Wehwehchen, die mir vor dem Zu-Bett-Gehen noch zu schaffen gemacht hatten, schmerzten mittlerweile kaum noch. Die blauen Flecken und Schürfwunden an meinen Beinen sahen schon erheblich besser aus, stellte ich nach einer kurzen Sichtprüfung fest, und die Einschnürungen an meinen Handgelenken waren nahezu spurlos verschwunden. Anscheinend verfügte ich über gutes Heilfleisch. Zumindest ein tröstlicher Gedanke angesichts der vielfältigen, immer neuen Probleme, mit denen ich seit meinem Erwachen vorgestern beständig konfrontiert wurde.

Ich stieg aus dem Bett und streckte mich, um meine steifen Muskeln und Gelenke zu lockern. Es knackte und knirschte dabei zwar an allen möglichen Ecken und Enden, doch selbst meine durch die wilde Motorradfahrt stark beanspruchten Rückenwirbel hatten sich anscheinend ausreichend erholt und gaben Ruhe.

Ich zog das Nachthemd über den Kopf und legte es aufs Bett. Dann zog ich der Einfachheit halber die Sachen an, die ich schon bei der Besprechung getragen hatte. Ich hatte zwar nicht vor, weit zu gehen – lediglich hinaus auf den Flur und zum Schwesternzimmer –, es widerstrebte mir aber, nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Gegend zu marschieren. Und ein Morgenmantel, den ich mir rasch hätte überziehen können, stand mir leider nicht zur Verfügung. Ich verzichtete lediglich darauf, die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zu binden, und steckte die offenen Enden in die Schuhe, damit ich nicht versehentlich darüber stolperte.

Die Tür zu meinem Zimmer ließ sich zum Glück auch von innen öffnen. Auf dieser Station waren schließlich nur die leichteren und harmloseren Fälle untergebracht, daher war es nicht notwendig und im Notfall eher hinderlich, die Türen nachts zu verschließen. Ich trat auf den Gang, der von den in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebrachten Nachtlichtern nur schwach erhellt wurde. Die Beleuchtung war jedoch ausreichend genug, damit man ohne Schwierigkeiten alles erkennen und seinen Weg finden konnte.

Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer leise hinter mir und ging über den Gang gemächlich zum Schwesternzimmer. Wie mir der Direktor erst gestern erzählt hatte, hielt sich dort nachts stets eine Schwester oder ein Pfleger auf und tat Dienst, um auf Notfälle oder andere plötzlich auftretende Schwierigkeiten reagieren zu können. Außerdem musste einigen Insassen auch in der Nacht in regelmäßigen zeitlichen Abständen Medizin, vor allem Beruhigungsmittel, verabreicht werden.

Bevor ich die große Glasscheibe erreichte, durch die man vom Gang ins Schwesternzimmer hineinsehen und bei der ein Schiebefenster geöffnet werden konnte, musste ich gähnen. Ich hielt es inzwischen für eine Schnapsidee, überhaupt aufgestanden zu sein, und bereute meinen Entschluss. Aber da ich jetzt schon einmal so weit gekommen war, wollte ich mich mit eigenen Augen überzeugen, dass alles in Ordnung war. Das Gähnen trieb mir Tränen in die Augen, die meine Sicht trübten. Ich erkannte verschwommen, dass das Schiebefenster geschlossen war, und ging weiter, um die diensthabende Schwester oder den diensthabenden Pfleger sehen zu können.

Doch als ich endlich in den Raum hineinsehen konnte und sich mein verschwommener Blick geklärt hatte, blieb ich augenblicklich stehen und riss vor Überraschung die Augen auf. Denn ich sah im Schwesternzimmer nicht nur eine einzelne Person, womit ich gerechnet hatte, sondern gleich drei Leute, was um diese Uhrzeit äußerst ungewöhnlich war.

Noch befremdlicher war allerdings, dass zwei der Anwesenden nicht nur wie für ein nächtliches Kommandounternehmen gekleidet, sondern auch bewaffnet waren und dass ich diese beiden Männer kannte, auch wenn ich sie in denkbar schlechter Erinnerung hatte.

Die beiden Männer, die sich vor zwei Tagen als Kriminalbeamten und mit den vermutlich falschen Namen Gehrmann und Klapp vorgestellt hatten, trugen eng anliegende und funktionelle schwarze Kleidung und dazu klobige Fallschirmspringerstiefel der gleichen Farbe. Ihre Gesichter waren von dunklen, rußig wirkenden Streifen überzogen, die zweifellos zur Tarnung oder Unkenntlichmachung ihrer Gesichtszüge dienen sollten. Dennoch hatte ich sie augenblicklich und ohne Probleme erkannt, denn ihre Gesichter – insbesondere das von Klapp – hatten sich förmlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jeder von ihnen hielt eine große Automatikpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer in der Hand und bedrohte damit, als wäre für diesen Zweck nicht schon eine einzige der klobigen Schusswaffen ausreichend genug gewesen, die Nachtschwester.

Ich kannte die junge, ganz in Weiß gekleidete Frau nicht, die in dieser Nacht Dienst hatte. Allerdings war ich noch nicht lange genug im Sanatorium und einen Großteil dieser Zeit ohnehin unterwegs gewesen, um schon alle Angehörigen des Personals persönlich kennengelernt zu haben. Die Frau war hübsch, hatte langes schwarzes Haar, einen dunkleren Teint und schien ursprünglich von den Philippinen oder zumindest aus dieser Ecke der Welt zu stammen. Sie kauerte eingeschüchtert auf einem Bürostuhl und stand in diesem Augenblick ersichtlich Todesängste aus. Ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Auch ihre Gesichtsmuskeln zuckten ständig, während ihr der Schweiß in glänzenden Bahnen herunterlief. Aus unnatürlich geweiteten, dunkelbraunen Augen, und scheinbar ohne dabei ein einziges Mal zu blinzeln, schielte sie in die dunkle Mündung der schallgedämpften Waffe, die ihr Gehrmann in einem Abstand von weniger als zwei Zentimetern in Höhe ihrer Nasenwurzel vors Gesicht hielt.

Ich konnte sehr gut nachempfinden, wie sie sich in diesem Moment fühlen musste, hatte ich doch erst vorgestern exakt die gleiche Situation am eigenen Leib erfahren müssen.

Die junge Krankenschwester war unzweifelhaft die Urheberin der beiden Schreie gewesen, die mich zunächst geweckt und dann so tief beunruhigt hatten, dass ich mich auf den Weg hierher gemacht hatte. Nicht ohne Grund, wie ich nun zu meinem Bedauern feststellen musste. Gehrmann und Klapp mussten jeden der beiden Schreie rasch wieder erstickt haben, um niemanden auf der Station zu wecken. Allerdings hatte das in meinem Fall nicht funktioniert, weil ich möglicherweise wegen meines Albtraums ohnehin nicht sehr tief geschlafen hatte. Und ausgerechnet das Abwürgen des zweiten Aufschreis hatte mich am meisten beunruhigt.

Der Umstand, dass die junge Frau noch ein zweites Mal geschrien hatte, bewies mir zumindest, dass sie sich nicht so einfach geschlagen gegeben und mutig versucht hatte, andere auf die Bedrohung aufmerksam zu machen oder zu warnen. Allerdings gab es auf einer Station für psychisch Erkrankte mitten in der Nacht vermutlich nicht allzu viele Menschen, die ihr in einer derartigen Situation eine große Hilfe gewesen wären. Auch ich fühlte mich hilflos und außerstande, ihr zu helfen, schließlich hatten wir es mit zwei bewaffneten und sicherlich zu allem entschlossenen Männern zu tun. Was konnte ich, allein und unbewaffnet, schon dagegen ausrichten, außer auf der Stelle davonzurennen und zu versuchen, so schnell wie möglich jemanden zu benachrichtigen.

Die Zeit war seit dem Moment, als ich die gefährliche Lage im Schwesternzimmer erkannt hatte, in meiner subjektiven Wahrnehmung so zähflüssig und langsam verstrichen, als wäre sie in Bernstein gegossen worden. Nur dieser Umstand hatte es mir überhaupt erlaubt, all den in Sekundenbruchteilen in meinem Verstand aufblitzenden Gedankengängen nachzugehen. Nun hatte ich das irrationale Gefühl, aus einer anderen Zeitebene in den normalen Zeitablauf zurückzukehren, als ich plötzlich wieder die leisen Geräusche meiner nächtlichen Umgebung bewusst wahrnahm und in diesem Moment Gehrmanns gedämpfte Stimme hörte – wenn er denn tatsächlich so hieß.

»Ich frag dich jetzt zum letzten Mal: Wie lautet ihre Zimmernummer?«

Die kalte Stimme des Mannes weckte in mir unangenehme Erinnerungen an seinen hasserfüllten Blick, den ich nun, im Nachhinein, natürlich leichter zu deuten wusste.

Die Schwester bewies erneut mehr Mut, als ich ihrer zierlichen, zerbrechlich wirkenden Erscheinung zugetraut hätte, denn sie schüttelte trotz ihrer immensen Angst so heftig den Kopf, dass ihre langen schwarzen Haare herumgewirbelt wurden. Dabei ließ sie jedoch die Pistolenmündung vor ihrem Gesicht keine einzige Sekunde aus den Augen, als hätte sie Angst, den Moment zu verpassen, in dem das Projektil den Lauf verließ – als würde sie die Kugel tatsächlich sehen können, bevor diese ihren Schädel und ihr Gehirn durchschlug und ihre tödliche Wirkung entfaltete.

Die nur mühsam unterdrückte Wut war aus Gehrmanns nächsten Worten deutlich herauszuhören, auch wenn er sich noch immer beherrschen konnte und betont leise und deutlich sprach. Nur die Waffe in seiner Hand zitterte leicht und zeigte seine innere Erregtheit. »Ich verliere langsam die Geduld mit dir. Sag mir endlich, wo ich Sandra Dorn finde. Ich zähle bis drei, dann schieße ich ein Loch in deinen Kopf, so wahr mir Gott helfe. Ich tu es nicht gern, aber Ungehorsam gehört bestraft. Zwing mich also lieber nicht dazu. Aber ich werde es dennoch tun. Zur Not finden wir sie nämlich auch ohne deine Hilfe. … Eins!«

Hätte ich je auch nur den geringsten Zweifel daran gehabt, wen die beiden Männer an diesem Ort außerhalb der gewöhnlichen Besuchszeiten und ohne einen schönen Blumenstrauß, sondern stattdessen mit tödlichen Waffen in den Händen besuchen wollten, dann hätten Gehrmanns Worte dem spätestens in diesem Moment ein jähes Ende bereitet.

»Zwei!«

Die Krankenschwester schluchzte leise. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie stumm ein Gebet sprechen.

Auch ich konnte nur mühsam einen verräterischen Laut unterdrücken. Ich hob die Hand und presste sie gegen meinen Mund, um nicht laut schreien zu müssen, während ich fieberhaft überlegte, was ich tun konnte, um der tapferen jungen Frau zu helfen und das scheinbar Unabwendbare doch noch zu verhindern. Doch mein Gehirn, das ansonsten von allerlei nutzlosen Gedanken überquoll, war plötzlich wie leergefegt.

Die Schwester musste die Bewegung meines hochgerissenen Armes aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben, denn noch bevor Gehrmann in der Lage war, die letzte Ziffer auszusprechen und seine Drohung in die Tat umzusetzen, wandte sie den Blick von der todbringenden Mündung der Pistole ab und sah zu mir.

Durch die dünne Glasscheibe, die uns trennte, blickten wir uns in die Augen. Es war ein merkwürdig intensiver und gleichzeitig intimer Augenblick, als jede von uns in den Augen der jeweils anderen zu versinken schien, während uns zugleich entsetzlich bewusst war, dass es der definitiv letzte Augenblick im Leben der jungen Krankenschwester sein konnte, bevor die von Gehrmann abgefeuerte Kugel ihr Ziel fand.

Doch es war nur ein kurzer Moment, denn Gehrmann musste die veränderte Blickrichtung der Augen bemerkt und daraus geschlussfolgert haben, dass die Aufmerksamkeit der jungen Frau durch etwas hinter seinem Rücken von der todbringenden Waffe in seiner Hand abgelenkt worden sein musste. Vielleicht hatte ihm aber auch ein zusätzlicher Sinn, der den Menschen nur selten und auch nur dann, wenn man ihn am dringendsten brauchte, zugänglich ist, eingeflüstert, dass jemand hinter ihm im Gang vor dem Schwesterzimmer stand und Zeuge seines schändlichen Treibens wurde.

Der Mann, der sich als Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann ausgegeben hatte, wandte in einer blitzschnellen Bewegung den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Ich musste meinen Blick erst mühsam von dem der Nachtschwester lösen, bevor ich ihn auf den wesentlich älteren Mann richten konnte. Wahrscheinlich konnte ich ihn wesentlich besser sehen als er mich, denn er stand im hellen Licht des Schwesternzimmers, während der Gang durch die Notbeleuchtung und das durch die Trennscheibe fallende Licht nur mäßig erhellt wurde. Dennoch erkannte er mich augenscheinlich sofort wieder. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung, sogar noch mehr, als das bei der Schwester der Fall gewesen war, obwohl diese immerhin Todesängste ausgestanden hatte.

Lauf!, brüllte die Stimme meines Selbsterhaltungstriebes in meinem Kopf in einer ungeahnten Lautstärke, die den Befehl durch sämtliche Korridore meines Verstandes hallen ließ. Noch bevor meine Reflexe einsetzen und die entsprechenden Befehle meines trägen Gehirns durch mein verzweigtes Nervensystem zu den jeweiligen Muskeln in den für eine erfolgreiche Flucht erforderlichen Körperteilen gelangen konnten, war ich gezwungen mitanzusehen, wie Gehrmanns Hand, in der er die Waffe hielt, vom Gesicht der Krankenschwester weg- und zu mir herumschwenkte. Doch ich hatte nicht vor, abzuwarten und tatenlos zu beobachten, wie die tödliche Waffe die bogenförmige Bewegung vollendete, bis die Mündung schließlich direkt auf mich gerichtet war.

Schon allein die Panik, die mich bei dem Gedanken erfasste, erneut in den Lauf einer Schusswaffe zu blicken, sorgte dafür, dass mein Körper zusätzliche Mengen des Stresshormons Adrenalin ausschüttete. Es sorgte unter anderem dafür, dass blitzschnell zusätzliche Energiereserven mobilisiert wurden und sich die Herzleistung verbesserte. Dies ermöglichte es mir, mich gerade noch rechtzeitig zur Seite wegzuducken, bevor der Pistolenlauf seine Drehung beenden und die Waffe ihr tödliches Projektil in meine Richtung spucken konnte.

Die Kugel traf zuerst die Trennscheibe, die sich daraufhin in einem klirrenden Regen aus glänzenden Scherben in den Gang ergoss. Dann sirrte sie, vom Zusammenprall mit dem Glas nur geringfügig abgelenkt, haarscharf an meiner Schulter vorbei, durchbohrte die Luft an der Stelle, an der sich Sekundenbruchteile zuvor mein Oberkörper befunden hatte, und schlug am Ende ihrer Flugbahn hinter mir in die Wand, wo sie zweifellos einen ansehnlichen Krater hinterließ. Allerdings hatte ich weder Zeit noch große Lust, mich davon zu überzeugen, denn ich rannte bereits geduckt los, bevor Gehrmann Gelegenheit fand, erneut auf mich anzulegen und dieses Mal unter Umständen besser zu zielen.

Aufgrund des Umstands, dass ich auf dem Herweg sofort stehen geblieben war, sobald es mir möglich gewesen war, in das Schwesternzimmer hineinzusehen und die drei Personen zu erkennen, erforderte es nun nur wenige Schritte, den unmittelbaren Gefahrenbereich wieder zu verlassen.

Das charakteristische Geräusch, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt hatte und sich in meinen Ohren wie das keuchende Husten eines Lungenkranken anhörte, ertönte erneut, als Gehrmann ein weiteres Mal schoss. Doch auch diese Kugel jagte hinter mir harmlos durch den Flur und teilte das Schicksal ihrer Vorgängerin, indem es sich in den Verputz der Wand bohrte.

»Los, sofort hinterher!«, schrie Gehrmann, offensichtlich frustriert durch die beiden Fehlschüsse. Ich ging logischerweise davon aus, dass er den Befehl nicht der Nachtschwester erteilt hatte, die dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen sein dürfte, sondern seinem jüngeren Kumpan oder Untergebenen Klapp, der vermutlich trainierter und schneller als Gehrmann war.

Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Wenn Klapp erst einmal aus dem Schwesternzimmer heraus und im Gang war, konnte er seelenruhig auf mich anlegen und mich abschießen wie auf dem Schießstand, denn der Gang war leer und bot mir keinerlei Deckung. Ich durfte also nicht länger einfach nur den Flur hinunterrennen, sondern musste schnellstmöglich ein geeignetes Versteck finden.

Da mir nichts anderes übrig blieb, lief ich, ohne lange darüber nachzudenken, auf die nächstgelegene Tür auf der rechten Seite des Flurs zu. Noch während ich mich gegen das Türblatt warf und gleichzeitig die Klinke nach unten riss, flehte ich alle himmlischen Schutzheiligen an, gefälligst dafür Sorge zu tragen, dass die Tür unverschlossen war.

»Danke!«, hauchte ich kaum hörbar, als die Tür dem Druck nachgab, und schlüpfte rasch in das Zimmer, sobald der Spalt groß genug dafür war. Dann schloss ich die Tür behutsam und bedächtig so weit, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb, durch den ich nach draußen auf den Gang sehen konnte.

Der Blickwinkel war so günstig, dass ich von meinem gegenwärtigen Standpunkt sogar die Tür zum Schwesternzimmer sehen konnte. Noch immer schwer atmend wegen des kurzen Spurts hierher, spähte ich durch den Türspalt und sah in diesem Moment auch schon, wie Klapp mit schussbereiter Waffe auf den Flur stürmte und sich in meine Richtung wandte. Er war sich wohl relativ sicher gewesen, dass ich noch immer völlig kopflos wie ein aufgescheuchtes Huhn den Gang hinunterrannte und er mir nur noch in den Rücken schießen musste, denn er hob sofort den Arm und zielte in die Richtung, in die ich noch immer laufen würde, hätte ich nicht in diesem Zimmer Schutz gesucht. Doch bevor er in die leere Luft feuerte, registrierte er, dass dort, wo er mich vermutet hatte, niemand war, verhielt in seinem Lauf und ließ den Arm unentschlossen sinken. Ratlos stand er im Flur, ließ den Blick hin und her schweifen und fragte sich vermutlich, wohin ich verschwunden sein könnte. Die naheliegendste Lösung, dass ich hinter einer der Türen Zuflucht gesucht hatte, schien ihm zunächst aber nicht einzufallen. Vielleicht dachte er in seinem Wahn auch, ich hätte magische Kräfte und mich in Luft aufgelöst.

Dann trat, wesentlich langsamer als zuvor, sein Kollege Gehrmann aus dem Schwesternzimmer in den Flur. Ich konnte mir leicht ausrechnen, dass er sich erst um die Nachtschwester gekümmert hatte. Allerdings hoffte ich, dass er sie nicht umgebracht, sondern nur gefesselt oder schlimmstenfalls bewusstlos geschlagen hatte. Immerhin hatte ich keinen weiteren Schuss gehört, was meine diesbezügliche Hoffnung in meinen Augen berechtigter erscheinen ließ.

Gehrmann war allem Anschein nach nicht umsonst der Anführer dieses ungleichen Duos, denn er schien wesentlich erfahrener und klüger als sein junger Begleiter zu sein. Bereits nach einem einzigen raschen Blick in die Runde musste ihm bewusst geworden sein, was es mit meinem spurlosen Verschwinden auf sich hatte. Ich hatte zwar im Stillen gehofft, die beiden würden die Aktion abblasen, nachdem ich nun gewarnt war und sie mich nicht so leicht erwischen würden, wie sie sich das unter Umständen insgeheim ausgerechnet hatten, doch erneut wurde ich enttäuscht.

»Sie muss in einem der Zimmer sein!«, sagte Gehrmann und wies zur Verdeutlichung seiner Worte mit der Pistole auf diverse Zimmertüren. »Du bewachst den Flur, während ich die Zimmer durchsuche. Hinter einer dieser Türen muss sie stecken. Und dort sitzt sie jetzt in der Falle und kann uns nicht mehr entkommen.«

Kapitel 2

Mein Herz klopfte rasend schnell und überlaut in meiner Brust. Seine Schläge dröhnten in meinen eigenen Ohren wie die einer riesigen Kirchturmglocke. Das war aber vermutlich nicht mehr die Folge des vorherigen Adrenalinschubs, denn das Stresshormon wurde sehr rasch wieder abgebaut, sondern hatte seinen Ursprung eher in meiner Angst aufgrund Gehrmanns Ankündigung, alle Zimmer zu durchsuchen, während Klapp im Flur ausharren sollte. Als ich Gehrmanns eiskalten, aber entschlossenen Gesichtsausdruck gesehen hatte, war mir sofort klargeworden, dass er nicht einfach aufgeben, sondern sämtliche Zimmer nach mir absuchen würde. Allerdings hatte ich gehofft, die beiden Männer würden sich diese Aufgabe teilen, damit sie schneller fertig wurden. Das hätte mir dann wiederum Gelegenheit gegeben, mein Versteck zu verlassen und den Gang hinunterzulaufen, bevor die Männer aus den Zimmern, die sie durchsuchten, wieder herauskamen. Doch wenn Klapp auf dem Gang stehen blieb, war mir diese Möglichkeit verwehrt. Ich musste in diesem Zimmer ausharren, ob ich wollte oder nicht. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Gehrmann mich aufstöbern würde.

Ich beobachtete, wie Gehrmann aus meinem Blickfeld verschwand, und hörte unmittelbar darauf, dass eine der Türen zu den Patientenräumen leise geöffnet wurde. Gehrmann hatte also mit der Durchsuchung begonnen. Klapp bewachte währenddessen wie angewiesen den Flur. Er gähnte einmal unterdrückt und hielt dabei die Hand vor den Mund. Langsam drehte er sich, auf der Stelle tretend, im Kreis. Wahrscheinlich wollte er seine Aufgabe besonders sorgfältig erledigen und den ganzen Flur im Auge behalten, übersah dabei aber, dass ich in dem Teil des Gangs, auf den er gerade seine ganze Aufmerksamkeit richtete, gar nicht sein konnte. Na ja, schließlich war niemand von uns perfekt, auch wenn bei Klapp noch viel mehr im Argen zu liegen schien.

Obwohl mir Klapp in diesem Moment den Rücken zukehrte, ahnte ich, dass mir nicht genügend Zeit bleiben würde, auf den Gang hinauszuhuschen und ein anderes Versteck zu suchen, bevor er sich wieder in meine Richtung gedreht hatte. Ich nutzte die günstige Gelegenheit allerdings dazu, die Tür möglichst geräuschlos ganz zu schließen, da sonst die Gefahr bestand, dass einer der Männer früher oder später auf den schmalen Spalt aufmerksam und misstrauisch wurde. In dem Fall hätte ich genauso gut ein Schild an der Tür befestigen können, auf dem in großen Buchstaben »Hier bin ich!« stand.

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