Czytaj książkę: «3 MÄNNER UND EIN MORDKOMPLOTT»

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ANMERKUNGEN DES AUTORS

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

EINS

»Das macht dann 17 Euro 80, Frau Moritz.«

Elisabeth Moritz runzelte unzufrieden die ohnehin faltige Stirn. Der Einkauf beim Metzger wurde auch jedes Mal teurer. Fast 18 Euro für ein paar Scheiben Salami und Lachsschinken, zwei Paar Wiener und das bisschen Geschnetzelte, das sie mittags für Hannes und sich selbst zum Essen machen wollte. Aber was soll’s?, dachte sie. Wenn man gute Qualität haben will, muss man eben auch ein bisschen tiefer in die Tasche greifen! Und die Alternative, die darin bestand, ihre Fleisch- und Wurstwaren in Zukunft im Supermarkt und nicht mehr bei ihrem Stammmetzger zu kaufen, bei dem sie seit mindestens dreißig Jahren Kundin war, kam für sie nicht infrage.

Also schenkte sie der übergewichtigen Metzgereifachverkäuferin hinter der Theke, deren schwarz gefärbte Haare an den Ansätzen schon wieder grau waren, das einstudierte Lächeln, das sie bei jeder Gelegenheit und in jeder Stimmung hervorzaubern konnte und auch den Kunden ihres Gästehauses zeigte, egal, wie nervtötend diese gerade waren, und zog einen 20-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie.

»Dann bekommen Sie von mir noch 2 Euro 20 zurück«, sagte die Verkäuferin, als wäre Elisabeth senil und nicht mehr selbst in der Lage, auszurechnen, wie viel sie herausbekam, und legte ihr das Wechselgeld in die ausgestreckte Handfläche. »Danke für Ihren Einkauf, Frau Moritz, und beehren Sie uns doch bald wieder.«

»Vielen Dank und auf Wiedersehen«, sagte Elisabeth Moritz, ohne die junge Frau daran zu erinnern, dass sie nun schon seit vielen Jahren jeden Freitagvormittag in die Metzgerei kam, obwohl sie große Lust verspürte, genau das zu tun.

Doch es wäre der Mühe nicht wert gewesen, denn die Verkäuferin hatte sich bereits von ihr weggedreht und den anderen Kunden zugewandt. »Wer kommt als Nächstes dran?«

Elisabeth wandte sich also ohne ein weiteres Wort um und verstaute ihr Portemonnaie und die Tüte mit der Wurst und dem Fleisch in ihrer Einkaufstasche, die sie unter dem linken Arm trug.

Obwohl sie im kommenden Winter erst ihren 68. Geburtstag feierte, sah sie mindestens fünf Jahre älter aus. »Das sind Sorgenfalten«, pflegte sie stets vorauseilend zu sagen, da es natürlich niemand wagte, die Falten von sich aus zu erwähnen. Weder die Falten noch das silbergraue Haar, das schulterlang war, von ihr aber meistens am Hinterkopf zu einem altmodischen Knoten geflochten wurde, der sie noch strenger aussehen ließ. Außerdem war sie für eine Frau erstaunlich groß, beinahe 1,80, dafür aber sehr dünn, und hatte spinnenartige, dürre Gliedmaßen.

»Daran sind die unzähligen Sorgen, die mir Hannes bereitet, die viele Arbeit im Gästehaus und der ständige Stress schuld«, sagte sie jedem, selbst denen, die es gar nicht wissen wollten. »Nur deshalb bin ich vorzeitig ergraut, habe mehr Falten im Gesicht als der Grand Canyon und wiege trotz meiner Größe weniger als fünfzig Kilo.«

Elisabeth nickte einer flüchtigen Bekannten zu, die in der Schlange vor dem Tresen stand, deren Name ihr aber partout nicht einfallen wollte. Der Frau, die nur unwesentlich jünger als sie selbst war, war anzusehen, dass sie nichts gegen ein kleines Schwätzchen einzuwenden hatte, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Doch Elisabeth stand augenblicklich nicht der Sinn danach, sich einzig um des Redens willen über oberflächliche Themen zu unterhalten. Außerdem wäre es ihr zu peinlich, wenn sie die andere Frau nicht mit ihrem Namen ansprechen konnte. Was die dann wohl von mir denken würde?, fragte sie sich. Vermutlich, dass ich langsam dement werde oder Alzheimer kriege. Aber derartige Gerüchte wollte sie erst gar nicht aufkommen lassen. Deshalb warf sie einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie ihrer Bekannten einen bedauernden Blick zuwarf und eilig an ihr vorbei zur Tür schritt.

Elisabeth, die ein marineblaues Kleid, einen dazu passenden gleichfarbigen Blazer und bequeme, flache Schuhe trug, verließ die Metzgerei und blieb dann auf dem Bürgersteig stehen, um zu überlegen, ob sie auch tatsächlich alles erledigt hatte, was sie sich zu Hause vorgenommen hatte. Wie üblich hatte sie ihre freitägliche Einkaufstour im Supermarkt begonnen. Nachdem sie ihre dortigen Einkäufe im Auto verstaut hatte, war sie zu Fuß zum Bäcker und zum Metzger gegangen. Danach kehrte sie in der Regel zum Wagen zurück und fuhr nach Hause.

Moment!

Ihr fiel ein, dass sie noch zur Apotheke musste, um sich neue Schmerztabletten zu besorgen. Seit Kurzem hatte sie des Öfteren stechende Kopfschmerzen, gegen die die Tabletten, die sie zu Hause hatte, nichts ausrichteten. Noch machte sie sich keine Sorgen, es könnte etwas Ernsthaftes dahinterstecken. Außerdem hoffte sie, dass Tabletten mit einem anderen, eventuell stärkeren Wirkstoff ihr Leid linderten. Wenn die Schmerzattacken allerdings anhielten, würde sie wohl oder übel zum Arzt gehen müssen. Dabei gab es auf dieser Welt wenig, was Elisabeth mehr hasste und fürchtete als Ärzte. Was allerdings weniger an den Medizinern lag, sondern eher an Elisabeths ständiger Angst, sie könnten bei ihr eine schwere, unter Umständen sogar tödliche Krankheit diagnostizieren.

Da sie nicht länger als unbedingt nötig an tödliche Krankheiten denken wollte, sah sie sich suchend um. Die nächstgelegene Apotheke lag etwas versetzt auf der anderen Straßenseite und praktischerweise auf ihrem Weg zum Parkplatz, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Elisabeth hielt nach einem Zebrastreifen Ausschau, doch der lag mindestens zweihundert Meter in der anderen Richtung, was nicht nur einen Umweg, sondern auch einen Zeitverlust bedeutet hätte. Sie hatte es zwar nicht eilig, doch je früher sie nach Hause und zurück in ihr Büro kam, desto früher konnte sie sich auch um diverse Angelegenheiten kümmern, die sie heute noch zu erledigen hatte. Sie sah erneut auf die Uhr, dieses Mal jedoch nicht, um jemandem vorzutäuschen, sie hätte es eilig, sondern weil sie tatsächlich wissen wollte, wie spät es war. Viertel vor zehn. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch einiges tun, bevor sie nach einem kurzen Mittagsschläfchen für Hannes und sich selbst Essen kochen musste.

Elisabeth hatte ihren Mann Franz-Xaver erst im reifen Alter von dreißig Jahren kennengelernt. Danach war allerdings alles Weitere Schlag auf Schlag und in einem nahezu perfekten 12-Monats-Rhythmus erfolgt, denn ein Jahr später hatten sie geheiratet, im Jahr drauf war ihr Sohn Hannes zur Welt gekommen und elfeinhalb Monate später hatte Franz-Xaver, der zu diesem Zeitpunkt erst 35 Jahre alt war, einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Nach seinem Tod hatte sich die Witwe ganz allein um das Gästehaus und ihren Sohn kümmern müssen. Mit viel Fleiß, harter Arbeit und noch mehr Durchsetzungsvermögen hatte Elisabeth es nicht nur geschafft, das Gästehaus vor dem Ruin zu bewahren, sondern auch von Jahr zu Jahr erfolgreicher zu werden. Bei der Erziehung ihres Sohnes war sie allerdings weniger erfolgreich gewesen. Normalerweise erbten Kinder von ihren Eltern sowohl gute als auch schlechte körperliche und charakterliche Merkmale, doch Hannes schien von Vater und Mutter nur die schlechten Dinge mitbekommen zu haben. Denn allzu schnell nach der Einschulung stellte sich heraus, dass er absolut keine Begabungen besaß. Hannes konnte im Grunde gar nichts, weder gut lesen, schreiben oder rechnen, noch zeichnen, malen, werken oder sporteln. Er war praktisch ein Versager auf ganzer Linie und schaffte es nicht einmal, die Schule ordentlich abzuschließen. Ohne Schulabschluss war an eine anschließende Lehre natürlich nicht zu denken. Aber zum Glück besaß er wenigstens ein Mindestmaß an handwerklichem Geschick, sodass Elisabeth ihn als Hausmeister im Gästehaus einsetzen konnte. Ihr graute allerdings vor dem Tag, an dem sie sterben und Hannes zwangsläufig das Gästehaus erben würde. Vermutlich würde er alles, was sie in den letzten 34 Jahren aufgebaut und erreicht hatte, in kürzester Zeit zerstören. Er lag ihr in letzter Zeit ohnehin schon ständig in den Ohren mit der wahnwitzigen Bitte, ihm die Leitung des Gästehauses schon jetzt, zu ihren Lebzeiten, zu übertragen und sich zur Ruhe zu setzen. Als wenn sie dann tatsächlich ihre Ruhe gehabt hätte. Aber das konnte er sich abschminken. Freiwillig würde sie ihm das Gästehaus bestimmt nicht übertragen. Wenn, dann musste er es ihr schon aus ihren kalten, starren Händen reißen.

Nur über meine Leiche!, dachte Elisabeth grimmig, die trotz der Kopfschmerzen, die sie auch jetzt plagten, nicht vorhatte, allzu bald zu sterben. Auch wenn Hannes sie manchmal so ansah, als würde er den natürlichen Lauf der Dinge nur schwerlich abwarten können und deshalb am liebsten selbst nachhelfen wollen. Doch auch dazu war er ihrer Meinung nach gar nicht fähig. Wenn er sie tatsächlich irgendwann umbringen wollte, dann hatte sie ohnehin nichts zu befürchten, da er sich sogar dabei mit Sicherheit erbärmlich anstellen und versagen würde.

Obwohl sie in diese unschönen Gedanken vertieft war, achtete Elisabeth dennoch wie immer auf den Verkehr. Andernfalls wäre sie vermutlich auch nicht 67 Jahre alt geworden. Sie blieb am Rand des Gehsteigs stehen und sah in beide Richtungen. Wenn mehr Autos unterwegs gewesen wären, dann hätte sie vermutlich sogar den Zebrastreifen benutzt, doch momentan war ohnehin wenig Verkehr. Beide Fahrbahnen waren frei, und in beiden Richtungen waren keine näher kommenden Fahrzeuge zu sehen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie auf der anderen Seite sein, bevor das nächste Auto kam. Links von ihr stand ungefähr zwanzig Meter entfernt eine schwarze BMW-Limousine mit laufendem Motor am Straßenrand, doch der Fahrer, den sie hinter der spiegelnden Scheibe nicht erkennen konnte, machte keinerlei Anstalten, loszufahren. Vermutlich wartete er auf jemanden.

Such dir gefälligst einen richtigen Parkplatz und verschmutz hier nicht die Umwelt!, sandte Elisabeth ihm eine gedankliche Botschaft, obwohl sie nicht an solchen Unfug wie Gedankenübertragung glaubte, bevor sie den Blick wieder nach vorn richtete und die Straße betrat.

Sie hatte erst zwei große Schritte gemacht, als ganz in der Nähe ein Motor laut aufheulte und Reifen protestierend quietschten, sodass sie erschrocken zusammenzuckte. Das Motorengeräusch wurde daraufhin erschreckend schnell lauter. Elisabeth blieb stehen und wandte den Kopf in die Richtung des Lärms, ohne allerdings gleich zu begreifen, dass die Lärmquelle eine Gefährdung für sie darstellen könnte.

Als sie den schwarzen BMW erneut erblickte, war er nicht mehr zwanzig, sondern nur noch fünf Meter von ihr entfernt. Außerdem stand er nicht mehr am Straßenrand, sondern bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Und die Motorhaube war genau auf sie gerichtet. Auch ohne die exakte Geschwindigkeit des Wagens zu kennen, wusste Elisabeth, dass der Wagen und sie in Kürze unweigerlich miteinander kollidieren würden. Es war gewissermaßen unaufhaltsam, und weder sie noch der Fahrer konnten noch etwas tun, um es zu verhindern.

Die zweite Erkenntnis, die ihr in diesem Augenblick kam, der sich in ihrer Wahrnehmung scheinbar zu Minutenlänge dehnte, war sogar noch erschreckender. Denn ihr wurde jäh bewusst, dass ihr alter, dürrer Körper und ihre spröden Knochen der Masse, der Robustheit und der Wucht des BMW nichts entgegenzusetzen hatten. Beinahe glaubte sie schon jetzt, die Schmerzen spüren zu können, die sie unweigerlich haben würde, wenn ihre Knochen unter dem heftigen Aufprall zerbrachen und ihr Körper aufgerissen wurde.

Es war der letzte bewusste Gedanke, den Elisabeth Moritz in ihrem Leben hatte, das nach beinahe 68 Jahren auf dieser Straße enden würde, denn nicht einmal 0,6 Sekunden später riss ihr die Front des Fahrzeugs die Beine unter dem Körper weg, deren Knochen wie morsche Äste an mehreren Stellen brachen. Doch entgegen ihrer Vorstellung spürte sie keine Schmerzen, als sie auf die Motorhaube krachte und mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe knallte, was unweigerlich weitere Knochenbrüche zur Folge hatte, unter anderem einen mehrfachen, schweren Schädelbruch.

Für den Bruchteil einer Sekunde lag sie völlig reglos auf der Motorhaube des fahrenden Wagens, ihre linke Wange gegen die Windschutzscheibe gepresst. Aus dieser Nähe hätte sie vermutlich sogar einen Blick durch die Scheibe auf den Fahrer werfen können. Doch in ihrer misslichen Lage kam sie nicht einmal auf den Gedanken, so etwas zu tun. Außerdem war der Augenblick zu kurz, denn schon wurde sie von den erbarmungslosen Kräften, die auf ihren wehr- und hilflosen Körper einwirkten, wie eine Gliederpuppe über das Wagendach geschleudert. Sie landete mehrere Meter hinter dem Wagen auf der Straße, die sie hatte überqueren wollen, während der BMW nicht etwa anhielt, sondern im Gegenteil rasant beschleunigt wurde und davonfuhr. Doch davon bekam Elisabeth Moritz schon nichts mehr mit. Ebenso wenig von der Tatsache, dass der mörderische Aufprall auf dem Asphalt nahezu sämtliche anderen bis dahin unversehrt gebliebenen Knochen in ihrem toten Körper zerschmetterte.

»Beeil dich! Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.«

Lisa Bernert hatte die Worte noch immer im Ohr, obwohl es nun schon beinahe zehn Minuten her war, dass Norbert sie am Telefon zu ihr gesagt hatte.

Und sie hatte sich in der Tat beeilt. So schnell hatte sie nach dem Ende des Telefonats ihre Schuhe noch nie angezogen. Danach war sie in Rekordzeit die Stufen des Mietshauses, in dessen drittem Stock ihre kleine Wohnung lag, nach unten geeilt, wo ihr roter Daihatsu Cuore stand, hinter dessen Steuer sie nun saß und hoch konzentriert auf die schmale Landstraße starrte, die sich vor ihr zwischen abgeernteten Feldern wand und zeitweise durch kleine Waldstücke schlängelte.

Nach dem Losfahren hatte sie kurz überlegt, die längere Strecke zu nehmen, die über die wesentlich breitere und geradere Bundesstraße führte und die sie entschieden lieber fuhr als die enge, kurvige Landstraße über die Dörfer. Doch dann hatte sie sich dagegen entschieden, denn sonst hätte sie mindestens doppelt so lange gebraucht, um zu Norberts Haus zu kommen. Und das nicht nur, weil Norbert ihr am Telefon gesagt hatte, dass sie unbedingt die kürzere Strecke nehmen sollte. Nein, sie selbst wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren und so schnell wie möglich bei ihm sein.

Lisa umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel ganz blutleer waren und aussahen, als wären sie aus Elfenbein geschnitzt. Sie wagte es auch kaum, ihren Blick von der Straße vor ihr zu nehmen, und schaute nur gelegentlich in den Rückspiegel, um zu sehen, ob jemand hinter ihr fuhr. Denn das mochte sie überhaupt nicht. Dass ein anderer Autofahrer ihr auf dieser Strecke im Nacken saß, weil er ohne ihren Kleinwagen vor sich viel schneller fahren konnte, aufgrund der teilweise sehr engen Straße und der vielen unübersichtlichen Kurven aber nicht in der Lage war, sie zu überholen. Sie fühlte sich dann immer dazu gedrängt, schneller zu fahren, als ihr lieb war, weil sie niemanden aufhalten wollte und den Unmut der anderen über ihre vorsichtige und langsame Fahrweise beinahe körperlich spüren konnte. Es kam ihr dann vor, als würde der andere Fahrer sie vor sich herjagen. Und wenn sie dann schneller und schneller fuhr, begann sie sich immer unsicherer zu fühlen, sodass ihr der Schweiß ausbrach und ihr Herz rasend schnell schlug, weil sie Angst hatte, einen Fehler zu machen.

Hätte ich nur die andere Strecke genommen!, dachte sie und riskierte einen kurzen Blick in den Innenspiegel. Doch hinter ihr war zum Glück kein anderes Auto zu sehen. Wenigstens etwas!

Es würde schon nichts passieren. Sie war die Strecke erst einmal gefahren und hatte danach immer den längeren Weg über die Bundesstraße genommen, doch damals war auch alles gut gegangen.

Da es ein Stück geradeaus ging, wagte es Lisa, die rechte Hand vom Lenkrad zu nehmen und sich eine vorwitzige Strähne ihres langen rotblonden, lockigen Haars aus der Stirn zu streichen, die ihr ins Gesicht gefallen war. Lisa war vierundzwanzig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Sie hatte leuchtend hellgrüne Augen und ein hübsches herzförmiges Koboldgesicht mit hohen Wangenknochen und einem vorwitzig spitzen Kinn. Die Brille mit der schwarzbraunen Kunststofffassung und den schmalen, ovalen Gläsern trug sie nur zum Autofahren und zum Fernsehen. Sie war ein fröhlicher Mensch, der gern und viel lachte, doch im Augenblick blickte sie in tödlichem Ernst und mit gerunzelter Stirn hochkonzentriert auf die Straße, die vor ihr lag.

Lisa studierte Design an der Fachhochschule München, hatte heute aber vorlesungsfrei. Norberts Anruf war für sie überraschend gekommen, denn sie hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass er sich noch einmal bei ihr melden würde. Sie hatten sich vor einem Dreivierteljahr kennengelernt, als sie mehrere Grafikdesigner in der Umgebung abgeklappert hatte, um einen Praktikumsplatz zu bekommen. Norbert hatte ihr nicht helfen können, da er allein in einem Büro in seinem Wohnhaus arbeitete und keine Zeit hatte, sich auch noch um eine Praktikantin zu kümmern. Außerdem würde, so sagte er damals, seine Frau Karin bestimmt eifersüchtig werden, wenn er eine so hübsche Praktikantin beschäftigte. Lisa hatte dann zum Glück woanders einen Praktikumsplatz bekommen, doch Norbert war ihr danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen, sodass sie sich irgendwann eingestehen musste, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Dumm nur, dass er verheiratet und Vater zweier Kinder war. Also hatte sie sich bemüht, ihn wieder zu vergessen. Doch wie der Zufall es wollte, traf sie ihn wenige Tage später beim Einkaufen im Supermarkt. Sie unterhielten sich in der Kühlabteilung zwischen Fertigpizzen und gefrorenen Hähnchenschenkeln sehr angeregt und vergaßen dabei die Zeit, sodass Lisa am nächsten Tag einen leichten Schnupfen hatte. Allerdings hatte diese Begegnung nicht nur unangenehme Folgen, denn sie verabredeten sich am darauffolgenden Nachmittag in einem Café. Dort gestand Norbert ihr, dass er sich in sie verliebt habe. Vom Café ging es daher direkt in ihre Wohnung, wo sie sich, kaum dass die Tür hinter ihnen zugefallen war, sofort gegenseitig die Kleider vom Leib rissen und es gerade noch ins Bett schafften, wo sie sich so leidenschaftlich liebten, wie Lisa es vorher noch nie erlebt hatte. Seitdem trafen sie sich mehr oder weniger regelmäßig und hatten eine Beziehung, die man vermutlich als Verhältnis, Affäre oder Liebschaft bezeichnen musste. Lisa drängte Norbert nie dazu, seine Frau und seine Kinder zu verlassen. Sie ahnte, dass sie dadurch auch das Gegenteil erreichen und ihn verlieren konnte, und das wollte sie nicht, weil sie ihn über alles liebte. Sie hoffte allerdings, dass er mit der Zeit von allein die richtige Wahl treffen und sich für sie entscheiden würde. Doch das geschah nicht. Es sah beinahe so aus, als hätte Norbert sich mit der Situation arrangiert und wäre mit ihr zufrieden. Im Gegensatz zu Lisa, die ihn nur ungern mit einer anderen Frau teilte, aber nicht wusste, wie sie das ändern sollte, ohne ihn zu vergraulen. Norbert hingegen schien es zu genießen, sowohl die Annehmlichkeiten einer Ehe und des Familienlebens als auch die einer heimlichen Geliebten zu haben, obwohl er ihr stets aufs Neue versicherte, dass er nur sie lieben würde, aber seine Frau momentan wegen der Kinder nicht verlassen könne. Doch dann, vor drei Wochen, veränderte sich die Situation schlagartig, als Lisa erfuhr, dass sie schwanger war.

Sie schreckte hoch und stellte fest, dass sie eine ganze Weile in Gedanken versunken gewesen und völlig unbewusst gefahren war. Es war nichts passiert, dennoch hatte es ihr einen Schrecken eingejagt, und ihr Herz klopfte rasend schnell. Sie verringerte die ohnehin nicht sehr hohe Geschwindigkeit noch mehr, als eine weitere enge Kehre kam, und lenkte den Daihatsu mit beiden schweißfeuchten Händen am Lenkrad hinein. Sie atmete auf, als sie den Scheitelpunkt passierte, ohne dass ihr ein anderes Fahrzeug entgegengekommen wäre – ein weiterer Albtraum auf dieser Strecke –, und es wieder ein Stück geradeaus ging.

Sie nahm eine Hand vom Steuer und wischte sich mit dem Ärmel ihres hellgrauen Kapuzenpullis den Schweiß von der Stirn. Außer dem Pulli trug sie hellblaue Jeans und weiße Turnschuhe. Bequeme, zweckmäßige Kleidung, die sie nicht nur in ihrer Freizeit, sondern ständig trug. Sie hielt nichts davon, sich aufzustylen und herauszuputzen, um möglicherweise wie jemand auszusehen, der sie gar nicht sein wollte. Deshalb schminkte sie sich auch nur dezent und trug allenfalls ein bisschen Lippenstift und Eyeliner auf.

Der Gedanke an ein Kind hatte in Lisas Überlegungen bis vor Kurzem kaum eine Rolle gespielt. Natürlich wollte sie irgendwann Kinder, aber auf keinen Fall jetzt, bevor sie ihr Studium abgeschlossen und im Berufsleben Fuß gefasst hatte. Der Schock war deshalb groß, als ihre Frauenärztin ihr mitteilte, sie sei in der 6. Woche schwanger. Sie hatte zwar schon davor Anzeichen festgestellt, die auf eine Schwangerschaft hindeuteten – ihre Regelblutung war ausgeblieben, ihre Brüste spannten unangenehm, sie spürte ein Ziehen im Unterleib, war oft müde und hatte unerklärliche Stimmungsschwankungen –, doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Bis ihr Dr. Beckmann breit lächelnd verkündete: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Bernert, Sie sind schwanger.«

Schwanger!

Das Wort hallte danach noch stundenlang wie das Läuten einer Totenglocke in ihrem Verstand wider.

Schwanger!

Was sollte sie jetzt tun? Abtreiben kam für sie nicht infrage. Es war schließlich ihr Kind, ihr Fleisch und Blut. Und natürlich das Kind des Mannes, den sie liebte. Doch wie sollte es jetzt weitergehen? Auf dem Weg von der Praxis nach Hause wurde ihr allmählich klar, dass sich damit die Grundlage ihrer Beziehung zu Norbert entscheidend verändert hatte. So wie bisher konnte es nicht mehr weitergehen. Norbert musste Verantwortung für das Kind übernehmen. Und nicht nur das. Er musste sich endlich entscheiden, für oder gegen Lisa und das Kind. Denn jetzt konnte er die beiden Kinder mit seiner Ehefrau nicht länger als Ausrede benutzen, warum er Karin nicht verlassen konnte, weil es ein weiteres Kind gab, auch wenn es noch gar nicht auf der Welt war.

Nachdem Lisa nach dem Arztbesuch in ihre Wohnung zurückgekehrt war, wobei sie sich kaum an den Nachhauseweg erinnern konnte, weil sie ihn wie eine Schlafwandlerin zurückgelegt hatte, rief sie ihn sofort an. Sie wusste, dass er um diese Zeit allein zu Hause war und keine Gefahr bestand, dass seine Frau oder die Kinder ans Telefon gehen könnten.

»Hallo, ich bin’s«, meldete sie sich, ohne ihren Namen zu nennen. Schließlich konnte Karin oder eines der Kinder krank geworden und deshalb zu Hause sein und möglicherweise mithören. Daher hatte Norbert verlangt, dass sie sich nie namentlich meldete, wenn sie bei ihm zu Hause anrief. »Bist du allein?«

»Ja. Was ist los, Spatzi? Wieso rufst du an? Wir sehen uns doch ohnehin morgen Vormittag.«

»Vielleicht.«

»Was heißt hier vielleicht? Wir haben das doch schon ausgemacht. Außerdem muss ich dich unbedingt sehen, Spatzi. Ich kann an nichts anderes denken als an deinen wunderschönen nackten Körper. Das macht mich noch ganz wahnsinnig. Schon allein deshalb müssen wir uns morgen treffen!«

»Mal sehen.«

»Was ist los mit dir? Bist du betrunken?«

»Schön wär’s. Aber es ist …« Sie seufzte. »… etwas anderes.«

»Wovon redest du, Lisa? Allmählich machst du mir Angst. Steckt etwa ein anderer Mann dahinter? Hast du jemanden kennengelernt? Tu mir das bitte nicht an, Lisa!«

»Nein, das ist es auch nicht.«

»Was dann? Jetzt rede endlich!«

»Ich … ich bin schwanger.«

Für eine Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, herrschte Stille. Keiner von ihnen sagte etwas. Es schien sogar, als hielten beide die Luft an. Lisa kam die Stille unheilvoll vor. Ein düsteres Vorzeichen dessen möglicherweise, was noch folgen würde. Und irgendwie hatte sie schon jetzt das Gefühl, dass es nichts Angenehmes sein würde.

»Schwanger? Aber wie konnte das denn passieren, Herrgott noch mal? Du nimmst doch die beschissene Pille.«

Lisa atmete einmal ganz tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. »So was kann trotzdem passieren, Norbert. Freust du dich denn gar nicht?«

»Freuen?« Norbert lachte. Doch es war kein fröhliches Lachen, wie sie es von ihm gewohnt war, sondern eins, aus dem Verzweiflung herauszuhören war. »Wieso sollte mich das freuen, Lisa? Ich hab schon zwei Kinder. Ich kann ums Verrecken nicht noch eins gebrauchen!«

»Aber das ist unser Kind, Norbert! Deins und meins!«

Er seufzte. »Ja, das stimmt schon. Ich würde mich ja auch gerne darüber freuen. Aber im Moment, also, da ist das ganz, ganz schlecht.«

»Wieso?«

»Das weißt du doch, Lisa. Es ist wegen Karin und den Kindern.«

»Was soll ich deiner Meinung nach also tun?«

»Hör mal! Das ist auch für mich nicht leicht. Aber es gibt Möglichkeiten …« Er verstummte, wollte vermutlich nicht derjenige sein, der es aussprach. Wollte, dass sie selbst auf den Gedanken kam und ihn in Worte fasste.

»Du willst also, dass ich unser Kind abtreibe?«

»Das hab ich nicht gesagt. Das war deine Idee. Aber im Grunde ist es doch die einzig vernünftige Alternative. Im Moment jedenfalls. Das musst du doch einsehen, Lisa!«

»Vergiss es, Norbert!«

»Was …?«

»Ich werde nicht abtreiben.«

»Jetzt sei doch vernünftig, Spatzi.«

»Lass das! Außerdem bin ich vernünftig. Unvernünftig wäre es, die Frucht unserer Liebe zu töten.«

Schweigen. Lisa konnte Norbert atmen hören. Sie stellte sich vor, wie er fieberhaft überlegte und seine Augen rastlos hin und her huschten, während er nachdachte und nach einem Ausweg aus diesem Dilemma suchte.

»Hör zu, Lisa! Ich glaube, wir sollten ein andermal darüber sprechen. Am besten morgen, wenn wir uns ohnehin treffen. Wenn wir beide eine Nacht über die Sache nachdenken und uns wieder beruhigen konnten, dann sieht alles schon ganz anders aus.«

»Nein!«

»Wieso bist du auf einmal so stur, Lisa? So kenne ich dich gar nicht.«

»Das sind vermutlich Stimmungsschwankungen. Die hat man, wenn man schwanger ist, weil die Hormone verrücktspielen. Aber glaub bloß nicht, dass ich morgen anders über die Sache denke. Ich werde das Kind bekommen! Und du, Norbert …!«

»Jetzt sei doch endlich …«

»Unterbrich mich gefälligst nicht, Norbert, sonst beende ich dieses Telefonat auf der Stelle!«

Er erwiderte nichts darauf.

»Also, ich habe mich bereits für das Kind entschieden. Und du, Norbert, musst dich jetzt ebenfalls entscheiden. Dazu hast du …« Sie überlegte und nannte dann den ersten Zeitraum, der ihr in den Sinn kam. »… genau drei Wochen Zeit.«

»Was soll das sein? Ein Ultimatum?«

»Ja. Drei Wochen. Keinen einzigen Tag länger.«

»Und was soll ich genau entscheiden?«

»Ob du weiterhin bei Karin und den Kindern bleiben oder mit unserem Kind und mir zusammen sein willst.«

»Tu das nicht, Lisa! Damit machst du doch bloß alles kaputt.«

»Nein, Norbert. Nicht ich mache alles kaputt, sondern du, wenn du dich gegen uns entscheidest. Aber du musst es nicht gleich tun. Du hast drei Wochen Zeit dafür.«

»Und falls ich mich gegen dich und dafür entscheiden sollte, bei Karin zu bleiben. Was würdest du dann tun?«

»Falls du das wirklich tust, werde ich deine Frau anrufen und ihr alles erzählen. Außerdem werde ich allen sagen, wer der Vater des Kindes ist. Und natürlich werde ich dich auf Unterhalt verklagen, wenn du nicht freiwillig zahlst.«

»Ja, bist du denn jetzt komplett wahnsinnig geworden?«

»Nein. Ganz im Gegenteil. Ich hab mich noch nie so vernünftig gefühlt.«

»Das … das kannst du mit mir nicht machen?«

»Doch! Und wie ich das kann. Und unsere Treffen kannst du dir vorerst auch abschminken. Ruf mich erst wieder an, wenn du eine Entscheidung getroffen hast. Bis dahin will ich dich weder sehen noch hören.«

»Ich …«

Doch Lisa hatte genug von ihm und legte einfach auf. Danach rief er noch ein halbes Dutzend Mal bei ihr an. Sie sah seine Nummer auf dem Display, nahm aber nicht ab.

Und seitdem hatte sie tatsächlich nichts mehr von ihm gehört. Und da die Frist, die sie ihm gesetzt hatte, mit dem Ende des heutigen Tages abgelaufen wäre, hatte sie auch nicht mehr damit gerechnet.

Bis er vor fünfzehn Minuten angerufen hatte.

»Ja?«, fragte Lisa kühl, nachdem sie abgenommen hatte, denn sie hatte natürlich seine Nummer erkannt.

»Ich war ein Idiot, Lisa«, sagte Norbert anstelle einer Begrüßung.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Nach dem, was er bei ihrem letzten Telefonat gesagt hatte, hatte sie eigentlich damit gerechnet, dass er ihr mitteilen würde, er wolle bei seiner Frau bleiben. Doch seine Worte klangen nicht danach und gaben ihr neue Hoffnung.

»Um das zu erkennen, hast du aber lange gebraucht.« Noch bemühte sie sich, sich von ihren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

»Es war eine schwere Entscheidung. Deshalb musste ich es mir auch gut und lange überlegen. Außerdem wollte ich ganz sicher sein, das Richtige zu tun. Aber jetzt weiß ich endlich, was ich will.«

»Und was …« Sie musste schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. »… willst du?«

»Ich will dich, Lisa.«

Sie zitterte am ganzen Körper vor Freude und Aufregung, während ihr Herz pochte, als wollte es zerspringen.

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Ja.«

»Und das Kind?«

»Ich will dich und das Kind.«

Lisa lächelte selig. Zum Glück war niemand anderes in ihrer Wohnung, der sie sehen konnte, denn sie sah bestimmt wie ein Trottel aus. Sie hatte, wenn sie ehrlich war, nicht mehr damit gerechnet, aber im Gegensatz zu ihrem letzten Telefonat sagte Norbert dieses Mal genau das, was sie von ihm hören wollte. Er war wie ausgewechselt. Ihr Ultimatum musste ihn nicht nur zum Nachdenken, sondern sogar zum Umdenken gebracht haben. Doch trotz aller Freude blieb ein Teil ihres Verstandes misstrauisch und mahnte zur Vorsicht.

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