Czytaj książkę: «Das Lied der Eibe», strona 4

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KAPITEL VI

Betrachtungen zur Rune Fehu: von beweglicher Habe zur Abstraktion persönlichen Potentials

DAS LIEBE VIEH

Widmen wir uns Fehu, der ersten Rune im Älteren Futhark, die damit auch die erste Achterreihe eröffnet. Am Anfang war das Vieh. Das typische nord- und mitteleuropäische Hausrind vor rund zweitausend Jahren dürfen wir uns getrost als höchstens halb so groß vorstellen wie das arme Boxenrindvieh von heute und die Euter der Kühe waren natürlich winzig: noch nicht überzüchtet – weder das Tier noch sein Gehänge. Aber was soll die Viecherei?

Hausvieh war Tauschmittel. Innerhalb einer Stammesgemeinschaft brauchte zwar vermutlich kein Mensch irgendwelche persönlichen Zahlungsmittel, aber die Sippen und Stämme untereinander mögen mit Vieh gehandelt haben. Rinder waren „bewegliche Habe“ – wer viel davon hatte, war reich. Daher wird Fehu heute gern die Bedeutung „Geld“ zugeschrieben. Was durchaus richtig ist. Es greift nur ein bisschen kurz. Geld ist – mal wieder – nicht alles. Dein ganzes Vermögen kann gemeint sein: das über Finanzen und Besitz hinausreichende oder sogar… etwas davon Unabhängiges! Sieh es mal so: Was vermagst du? Kann „Vermögen“ auch heutzutage nicht viel mehr sein – oder noch etwas ganz anderes – als ausschließlich finanzielle oder materielle Habe? Kenntnisse, Erfahrungen, anwendbare Fertigkeiten – das alles gilt, gehört dazu! Fehu ist das jeweils zur Verfügung stehende Potential. Woraus immer das bestehen mag! Was finanzielle Möglichkeiten mit einschließt. Aber es beschränkt sich nicht auf sie.

Was immer geschaffen werden soll: Es muss Energie hineingesteckt werden – ob Geld, Arbeitskraft, Hirnschmalz, sonstiges Engagement oder eine Mischung von alledem. Derartiges Potential nenne ich Fehu. Die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang: Ein Rindvieh, das irgendwo auf der Weide grast, hat für sich genommen mit keiner Rune was zu tun – erst wenn es als Tauschwert, Investitionskapital oder Vermögen eingesetzt wird, würde ich Fehu dazu sagen. Und das kann selbstverständlich auch jederzeit etwas anderes sein als Vieh.

Woraus besteht der Energieeinsatz für deine Unternehmung? Was braucht die zum Gelingen – oder um überhaupt in die Gänge zu kommen?

Die erste Runen-Achterreihe veranschaulicht Schöpfungsprozesse, zeigt typische Verläufe des Werdens, Entstehens, Erschaffens. Sie beginnt mit der Potentialrune Fehu und endet mit Wunjo, der Wonnerune. Je mehr Energie du am Anfang hineinbutterst, desto größer ist am Ende die Freude – wenn alles klappt. Von den acht exemplarischen Stationen solchen Schaffens kann jede scheitern außer einer. Aber davon später. Noch brauchen uns keine Wenns und Abers zu interessieren. Das Schöpfungsprinzip ist im Wesentlichen immer das gleiche und es ist grundsätzlich möglich – das reicht für den Anfang (und meistens sogar für den ganzen Verlauf).

Bleiben wir zunächst beim Geld. Meist brauchen wir ja welches – für was auch immer. Wenn die Geldrune am Anfang des Futhark steht – was heißt das? Das heißt, dass sie am Anfang, und zwar nur dort, steht: am Beginn, damit es losgehen, etwas passieren kann. Es folgt eine andere Rune und auf die wiederum eine nächste, und so weiter bis zum Schluss. Fehu ist wichtig, ohne sie ginge gar nichts – aber drehte sich alles nur um sie, ginge nichts voran und nichts weiter. Es gäbe kein Runensystem, kein Werden, kein Erfahren und Wissen, kein daraus resultierendes Tun und Lassen. Dieses Buch könnte hier enden.

Der kranke Aspekt an der Geldgier unserer Gesellschaft ist nicht das Geld an sich, sondern die ihm zugestandene absolutistische Rolle, die alle anderen Werte an den Rand drängt – und mittlerweile allem, was nicht mit einem Preis ausgestattet werden kann, jede Wertigkeit abspricht. Der profitsüchtige Charakter onaniert sich unablässig in Ekstase am Konjunktiv des noch zu gewinnenden oder weiter zu vermehrenden Reichtums, steht dabei aber nicht unbedingt mit irgendetwas Wirklichem in Kontakt. Die Energie, die er dabei verbraucht, ist allerdings real – und es ist nicht seine eigene.

Die wirkliche Welt ausschließlich über ihren Geldwert zu erfassen, entspricht einer Beschäftigung mit Runen, die sich auf die erste von 24 beschränkt – womöglich mit der Begründung, dass es ja die erste sei: die Nummer eins. Die wichtigste von allen. Tatsächlich gibt es eine „wichtigste von allen“ – und zwar genau 24mal. Ohne Fehu kann nichts beginnen; ein Futhark ohne Fehu kannst du wegschmeißen – ob als Denksystem oder handwerkliches Set. Es ist unvollständig. Insgesamt unbrauchbar. Da können die restlichen 23 noch so schön und gelungen sein. Ohne die eine verkommen sie zur Dekoration – sowohl im Gehirn als auch in der Hand. Das gilt allerdings für alle anderen auch. Nicht nur für Fehu, sondern gleichermaßen für Uruz, Thurisaz, Ansuz und alle folgenden bis hin zu Othala und Dagaz. Erst alle zusammen ergeben ein sinnvolles Gefüge. Seine Komponenten sind höchst unterschiedlich, aber gleichwertig. Lass eine einzige Rune fehlen und das Ganze wird so nützlich wie ein Computer ohne Stromzufuhr.

Wie ein Computer ist auch jedes Futhark ein künstliches Gebilde. Die Natur ist da weiter, aber die hat auch ein paar Milliarden Jahre mehr Erfahrung als wir. Ein Mensch bleibt ein Mensch, auch wenn einzelne Körperteile fehlen oder nicht zu gebrauchen sind. (Erschreckend viele kommen ja ohne Hirn zurecht, das heißt, ohne von dessen angeborenen Möglichkeiten nennenswerten Gebrauch zu machen, von so titulierbarem Bewusstsein ganz zu schwelgen – oder ohne Herz, womit ich jetzt nicht den Muskel meine… Das mag die Betreffenden nicht allzu anziehend für andere machen – aber es sind alles Menschen und bleiben immer welche: ebenso wie die ohne Arm, Bein, Leber, Auge oder was auch immer…) Wer Schach spielen kann, braucht nicht alle Figuren – das Spiel selbst bedingt ja ihr allmähliches Verlieren – es reicht, die Regeln zu kennen. Der Rest ist eine Frage der geschicktesten Anwendung. Das Futhark ist weder ein biologisches Wunderwerk, das selbst mit erheblichen Einschränkungen noch sein Potential entfalten kann, noch ein Kampfspiel, das auf ein bestimmtes Ergebnis zielt und dafür Verluste in Kauf nimmt, ohne die sich gar nichts bewegen ließe auf dem Feld. Die Funktionsfähigkeit des Älteren Futhark beruht auf der Verfügbarkeit seiner 24 Komponenten – und dem Verständnis ihres Zusammenhangs.

Ein Futhark ist kein Alphabet, nicht nur wegen der ganz anderen Zeichenreihenfolge, sondern wegen der vielschichtigen Bedeutung der Zeichen, was entsprechend komplexere „Verschaltungen“ sowohl innerhalb als auch zwischen den jeweiligen Bedeutungsebenen ergibt. Runen lassen sich auch als Schreibschrift verwenden, aber lang nicht so gut wie Alphabete, die ausschließlich für diesen Zweck gedacht sind. Doch bereits ein Alphabet ist nicht mehr so gut zu gebrauchen, wenn ihm auch nur ein einziger Buchstabe fehlt – womöglich ein anderer als das (im Deutschen) noch relativ selten benötigte „Y“. Ohne „A“ oder „E“ wird es schon richtig ärgerlich. Je nach Anwendung kommen wohl auch einige Runen häufiger, andere seltener zum Einsatz. Doch letztlich benötigst du alle – auch wenn du vielleicht nur ein paar davon benutzt. Sie bedürfen der Vollständigkeit ihres Systems, weil sie zu ihm gehören. Aus ihm zieht jede einzelne Rune ihre Kraft. Das Ganze als eine Einheit schwingt immer mit… Ich betone das, weil ich den Effekt kenne – und auch für ganz normal halten darf –, dass jede und jedem zunächst einige Runen auf Anhieb „einleuchten“ oder „liegen“ – während sich zu manch anderen zunächst (oder auch für längere Zeit) kein persönlicher Zugang finden lässt. Das ging mir ganz genauso, und das nicht nur während der ersten Monate meiner Beschäftigung damit. Manche tieferen (oder höheren – einigen wir uns vielleicht auf „zusätzliche“) Bedeutungen einzelner Runen und Zusammenhänge gingen mir erst nach vielen Jahren auf, als ich schon längst so vertraut mit der Materie war, dass ich meinte, ich hätte den ganz großen Durchblick und nichts könne mich noch erstaunen. Von wegen! Bis heute erfasse ich von den Runen wahrscheinlich nicht mehr als Columbus von Amerika oder die nächstbeste Sternguckerin vom Weltall. Oder gar ein Psychologe vom echten Leben? Inzwischen glaube ich, dass es keine Grenze der Erkenntnis gibt – vielleicht eine des persönlichen Fassungsvermögens (öfter aber, meine ich, der entsprechenden Bereitschaft). Hier fast mit dem menschlichen Charakter vergleichbar, lässt sich gerade bei den Runen ein ganzes Leben lang Neues entdecken! Die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Kräfte hält das System in Balance, die Vielfältigkeit ihrer Wechselbezüge verschafft ihm eine reiche Tiefe.

Mir beschreiben die Runen, wie die Welt funktioniert. Sie beschränken sich dabei auf wesentliche Wirkkräfte – und wie diese essentiellen Aspekte zusammenhängen. Die Art der Beschreibung ist vergleichbar mit einem Bauplan, einem Mischpult, einer Matrix. Alle Komponenten sind frei verschaltbar, doch diesen Verknüpfungsmöglichkeiten wohnt eine Systematik inne, eine interne Logik. Das macht die Erklärung so schwierig. Was ist zum Beispiel ein Radio? Ich kann einen Sender suchen und einstellen und dann zur Wiedergabe zum Beispiel den Klang beeinflussen, die Höhen etwas anheben oder den Bass absenken oder umgekehrt. Und dann sagen: So klingt das, so geht das. In deiner Wohnung (universeller: von deinem Standpunkt aus gesehen) aber findet sich derselbe Sender vielleicht ganz woanders auf der Skala oder nur Millimeter von der Erstposition entfernt – je nachdem. Vielleicht klingt auch die Sound-Einstellung, die in meiner Wohnung, oder meinen Ohren, am besten kommt, bei dir völlig unzulänglich und bedarf anderer Angleichung, um vergleichbare Wirkung zu erzielen – wenn die überhaupt gewünscht ist, da so viele weitere Varianten möglich sind. Mit den Runen ist es ganz ähnlich. Es gilt, das Grundsätzliche von den jeweiligen Ergebnissen unterscheiden zu lernen – die können nämlich, je nach „Parameterwahl“, sehr unterschiedlich ausfallen.

Das macht Runen zu Werkzeugen, deren Wirksamkeit durchaus davon abhängt, wie damit umgegangen wird. Die Einsatzmöglichkeiten von Fehu richten sich nach deiner Fähigkeit, verfügbares Potential zu erkennen – oder solches überhaupt erst einmal zu denken und als Prinzip zu erfassen. Die Bedeutung der Rune auf Viehzeug zu beschränken, dürfte heute ebenso sinnvoll sein, wie mit Speer und Schild gegen eine Zahlungsaufforderung vorzugehen. Die Fixierung auf „Kapital“ oder sonst eine Erscheinungsform von Geld belässt die praktische Anwendung von Fehu weit hinter ihren Möglichkeiten. Solche Beschränkungen müssen allerdings keine Fehler sein, gegebenenfalls nicht einmal „Schwächen“. Es kommt auf den Anspruch an. Eine Gitarre wird nicht davon schlechter oder hört auf, ein Instrument zu sein, wenn ich sie nur zum Schrammeln von zwei oder drei Akkorden verwende. Es lässt sich jederzeit mehr damit machen, aber niemand wird genötigt, ihr sämtliche Töne zu entlocken, bloß weil es sie gibt. Auf meiner Tastatur tippe ich auch nur die Worte, die den passenden Text ergeben – und nicht etwa alle Tasten, die auf dem Ding zu finden sind. Letzteres ergäbe blödsinnigen Zeichensalat. Es ist jedoch von Vorteil zu wissen, wie sich Buchstaben zu sinnvollen Worten zusammenfügen lassen und wo sich die Zeichen dafür auf der Tastatur befinden, anstatt nur eine Anzahl von immergleichen Worten tippen zu können. Letzteres tut natürlich kein Mensch. Aber Magieausübende verhalten sich hin und wieder gerne so. Da es in der Magie keine Tastatur gibt, fällt die Reduktion nicht so auf. Das Prinzip ist aber ähnlich. Bei den Runen ebenso.

Fehu hat den Lautwert F. Statt lange darüber nachzudenken, ob die Schrägstriche des Zeichens die Hörner des Viehs symbolisieren oder nicht, empfehle ich, lieber über das Potential nachzusinnen. Schau dir deine Hände an. Sind sie nicht welches? Nicht nur, aber auch! Was kannst du alles damit tun? Gleiches gilt für deine Füße – oder deine Räder, falls du im Rollstuhl sitzt. Letztlich – du wirst es schon erraten haben – liegt das entscheidende Potential in deinem Kopf: oder wo immer bei dir die Vorstellungskraft im Körper sitzt. Bedenke deine Möglichkeiten – und vermeide ihre Einschränkung durch das übliche Wenn und Aber. Nicht, dass die nicht auch hin und wieder ihre Berechtigung hätten. Aber wenn du sie gleich in Geltung treten lässt, behinderst du deine Gedanken und, wenn du das ständig tust, erstickt deine Phantasie. Lass den Vogel deiner Vorstellung über die Mauern, Schluchten und all die anderen Grenzen fliegen, die deiner Erfahrung im Weg stehen. Lass deine Phantasievögel ausschwärmen und dir da, wo du bist, Kunde bringen von dort, wo du meinst, nie hinzukommen. Vielleicht erscheint der Weg zu weit oder zu hindernisreich für deine Füße, Hände oder Räder. Vielleicht tendierst du damit sogar zu realistischen Einschätzungen; Kompliment an deinen Verstand, er ist sicher ein guter Hausmeister. Das reicht nur nicht zur Welterkennung – geschweige denn zur Sinnfindung (die in Wahrheit nur eine Sinnstiftung sein kann, und zwar deine). Und er, dein geschätzter Intellekt, wird dich – unabhängig von seinem Fassungsvermögen und deinem möglichen Intelligenzquotienten – weder dem Glück noch der Liebe noch irgendeiner anderen Erfüllung näher bringen: weil er dafür schlicht und einfach das falsche Werkzeug ist! Verlange nicht Dinge von deinem Verstand, für die er – und wenn er noch so entwickelt und leistungsfähig ist – nicht gemacht ist. Du wirst gleichermaßen dein Herz und deine Phantasie brauchen. Die bestimmen, was du aus dir machst. Beide können dich weit tragen – dir Landschaften und Bereiche zeigen, die im wahrsten Sinn des Wortes dein Bewusstsein erweitern. Wenn du dein Leben meistern willst, ist dringend anzuraten, den Kopf aus der Kloschüssel zu ziehen und den Blick schweifen zu lassen, was es außer der bekannten Scheiße sonst noch so gibt. Die Phantasie schaut auch durch Mauern und Wände, du musst sie nur lassen – und ermutigen. Wo immer du dich befindest – verlasse das Zimmer, den bekannten Raum. Geh raus. Irgendein Draußen gibt es immer und in aller Regel ist es größer, als wir denken. Wir haben nur unsere Wahrnehmung; sie zu erweitern, erfordert – innere oder äußere – Bewegung. Wie so oft gilt: Die eine schließt die andere nicht aus.

Fehu ist nicht die Rune, die Bewegung an und für sich verkörpert, das tut eine andere – aber zu den Merkmalen von Fehu gehört Beweglichkeit. Geld muss fließen, funktioniert durch Austausch, Vieh wird getrieben (von denen, die es hüten – oder es treibt sich selber herum), ist, wie wir uns erinnern, „bewegliche Habe“ – und genauso ist Potential kein fest umrissenes Ding an einem Platz (und schon gar nicht unverrückbar irgendwohin genagelt), sondern ein abstrakter Gedanke. Wenn du seine Essenz erwischst, wird er zum Quell. Das ist Fehu: die Summe deiner Möglichkeiten. Je nach Situation, Lage und Umgebung kann sie klein oder groß sein, nahezu unendlich – oder gar nicht vorhanden. Eins ist sie aber immer: veränderlich.

„Macht“ Fehu überhaupt irgendetwas – außer, dir deine Macht und Vermögen aufzuzeigen? Das kommt auf den Zusammenhang an. Meine Einkünfte zu vermehren, hat zumindest durch das bloße Wohinritzen von Fehu-Runen nicht geklappt. Aber andere Runen halfen mir zu erkennen, wo speziell bei mir die innere Blockade liegt – und wie ich sie anzugehen habe. Fehu allein wird also vermutlich keine schwarzen Zahlen auf dein Konto hexen, sowenig wie es in vorkapitalistischen Zeiten aus zwei Ziegen eine respektable Rinderherde machte oder auch nur aus drei mageren Kühen vier fette. Für solche Art Hexerei bräuchte es ja auch keine Runenkunde und schon gar kein Buch darüber: Mal eben mit den Fingern schnippen und sich einfach was wünschen kann sicherlich jeder Depp. Ich bin kein Zeremonialmagier, der Formeln anzubieten hätte. Ich empfehle den längeren, umständlicheren – aber, wie ich meine, nachhaltigeren und letztlich ergiebigeren – und vor allem natürlichen Weg: den, für den wir Menschenwesen ganz gut geschaffen sind. Den der Selbsterkenntnis. Wir tragen alles in uns, was wir brauchen. Wir müssen es nur erschließen. Das „nur“ in dem Satz mag höhnisch erscheinen, ist aber schlicht wahr. Was lehrte mich Fehu, die erste Rune des Futhark? Zum Beispiel, dass die Frage – das Suchen und Finden, das Sichten und Fördern – des Potentials als erstes kommt. Sowohl das der Situation und Lage – als auch des ganzen Lebens.

Wer meint, kein Potential zu haben, täuscht sich. Davon (dass du sogar ein einzigartiges hast: in dir drin) handelt noch eine andere Rune. Mit Fehu, der ersten, sei schon mal an das alte Sprichwort erinnert, dass „Kleinvieh auch Mist“ macht. Wie sich aus lauter kleinen, scheinbar lächerlichen Einzelposten erstaunlich stattliche Summen ergeben können, lässt sich in jedem Supermarkt erfahren. Das funktioniert auch umgekehrt: in dem Sinne, wenigstens diese winzigen Anteile, die du deinem Potential einstweilen gerade noch zuzugestehen vermagst, beharrlich vermehren zu können. Sich vermehren zu lassen. Ihnen das zu gönnen. Und damit dir selbst. Bis du dich mehr traust. Und irgendwann vielleicht sogar die Quelle findest – die Quelle in dir drin. Sie ist näher, als du denkst. Es gibt ein kosmisches Gesetz, das lautet: „Mehr macht mehr“. Je mehr etwas bereits vorhanden ist, desto leichter fällt es, daraus noch mehr zu machen, während zuwenig meist zuwenig bleibt und oft auch unter großen Anstrengungen nicht nennenswert vermehrt werden kann. Das gilt nicht nur für Geld. Gemeint ist: Potential vermehrt sich nicht durch die Konzentration auf Defizite und etwaige Mängel. Suche lieber nach Möglichkeiten und feiere das gefundene kleine Korn, selbst wenn du dir dabei erst einmal wie das sprichwörtliche blinde Huhn vorkommst. Jede Lawine fängt klein an; die ganze materielle Welt besteht aus Atomen, die bekanntlich so klein sind, dass du keins mit bloßem Auge siehst, sie aber trotzdem alle vorhanden sind. Welch ungeheure Kraft in jedem einzelnen steckt, lässt die gleichnamige Bombe erahnen. Erzähl dir also nicht (und lass dir nicht erzählen), du hättest kein Potential. Schau lieber, wo es steckt und wie du es förderst. Dieses Vieh zu sammeln und zu treiben, ist der erste Schritt in ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben. Jedes selbstbestimmte Leben ist erfolgreich. Wenn es dir daran mangelt, übersiehst du entweder deine Erfolge (vielleicht zählst du die falschen?) oder du lebst nach Werten, die dir schaden. Überprüfe, ob das, woran du glaubst, dir auch nützt. Woher hast du deine Ansichten eigentlich?

Fehu fragt dich (oder, anders ausgedrückt: Du fragst dich mittels Fehu), was funktioniert. Es beginnt mit deiner Vorstellungskraft. Je größer diese ist – sie lässt sich übrigens trainieren, und das womöglich leichter als Muskeln oder Intelligenz –, desto mehr Raum lässt sich schaffen für das, was kommt, was kommen soll, was du brauchst. Wir erinnern uns: Auch und gerade dein Einfallsreichtum, dein Vorstellungsvermögen, gehört zum Potential. Zu Fehu. Fang an.

„Ich trete hier auf heut‘,

Hab‘s lange geprobt,

Weißgott nicht nur dafür,

Dass man mich lobt.

Auch wenn‘s noch so leicht aussieht,

Und obwohl‘s mir gefällt:

Ich mach meine Arbeit für Geld…“

(„Arbeit für Geld“, 2015)


Bildstein auf Gotland, Schweden


KAPITEL VII

Betrachtungen zur Rune Uruz: zur Manifestation des Irdischen, Zugänge zu erdgenährter Kraft

MUTTER MATERIE

Es wird konkret. Was passiert mit dem Potential? Von selber nichts – aber das Vieh tendiert ja zur Bewegung. Wir treiben es wohin – oder es treibt, sich selbst überlassen, auseinander (nicht völlig – aber zumindest wird es ohne unser Zutun kaum eine Richtung einschlagen, die uns dient und entspricht). Wenn Fehu das darstellt, was wir vermögen, die Summe unserer Möglichkeiten, so manifestiert sich das, was wir damit anstellen, als ihre Verwirklichung. Das Wahrmachen bringt es in die Welt, sinnlich gesehen auf die Erde. Es materialisiert sich. Die Rune solch irdischer Manifestation ist Uruz.

Die Urbedeutung ist „Auerochs“. Eine andere „Nieselregen“. Wie passt das zusammen? Unter Umständen gar nicht. Die Deutung als „Nieselregen“ stammt von Seefahrern, die andere aus bäuerlichen Kulturen. Auf See gab es anscheinend wenig Auerochsen. Ich bringe es fertig, sowohl in der einen als auch der anderen Deutung eine Erscheinungsform von „Erdkraft“ zu sehen. (Wer schon einmal in einem Ruderboot von Regen überrascht wurde, weiß, was ich meine. Dabei war ich sicher nicht so lange oder auch nur halb so gefährdet unterwegs wie irgendwelche altgermanischen Seefahrer, sondern nur zum Freizeitspaß. Dies hat allerdings ausgereicht, das nasse Geniesel in der Luft als ziemlich irdische, mir haushoch überlegene Macht zu erfahren.) Was nicht zu heißen braucht, dass an der Assoziation Uruz = Erdkraft historisch irgendwas dran sein muss.

Beim Aufbau meines Deutungssystems fürs Ältere Futhark ging ich von „Auerochs“ aus für Uruz – von der Variante „Nieselregen“ hörte ich erst später, sie steht dazu jedoch nicht im Widerspruch. Aus dem Bild oder Symbol des Auerochsen kann ich allerdings mehr ziehen, was das Verständnis des Zusammenhangs fördert.

Zunächst fühlte ich leichte Irritation: schon wieder eine Art Rindvieh?" Als Stadtkind fiel mir der Unterschied zwischen einer Muhkuh und einer anderen Sorte Rind, die ich zudem nirgends in der Natur betrachten konnte, nicht gleich auf. Auerochsen sind seit dem 17. Jh. ausgestorben, im europäischen Raum wichen sie zunehmender Besiedelung durch unsereins. Es waren Wildtiere – nur auf freier Flur zu Hause und im ganzen eurasischen Raum die größten Landbewohner. Nicht nur im Vergleich zu den damals kleinwüchsigen Hausrindern waren sie riesig. Einem hochgewachsenen Mann hätte mancher Urbulle bequem in die Augen sehen können: bei seinen 1,80 Metern Risthöhe. Zudem hatte so ein Bulle ja noch jede Menge Rindskörper hinten dran! Alles an ihnen war lang: Leiber, Beine, Schädel, Hörner – bei aller Kraft und Wucht müssen sie eine unglaubliche Eleganz ausgestrahlt haben. Und dann noch schwarz wie die Nacht, das All, der Abgrund und die Gothics!

Das pure Leben: in physischer Präsenz. Selbst das nackte Knochengerüst eines Auerochsen im Museum machte mich sprachlos: Wie zum Sprung war das Skelett montiert, Ausdruck unbändiger Wildheit noch lang nach dem Tod dieses einen Exemplars und seiner ganzen Gattung… Fast meinte ich, das Schnauben hören zu können, den Schlamm unter unruhigen Hufen spritzen zu sehen, jeder einzelne ein Manifest von Kraft weit über Pferdestärken hinaus. Hinten ein schlanker, nervös peitschender Kuhschwanz am Arsch einer Riesenmasse Tier – selbst dem phantasielosesten Zeitgenossen hätten spätestens die Hörner Ehrfurcht eingejagt, die sich nicht einmal bewegten in ihrer bleich gewundenen Riesenpracht, da von alledem ja nur ein Knochengerüst übrig geblieben ist. Das eines Auerochsbullen oder einer Kuh! Der Unterschied muss marginal gewesen sein, kaum sichtbar zumindest: Die Euterchen waren wahrscheinlich das Einzige, was an diesen imposanten Tieren „klein“ zu nennen gewesen wäre.

Solche Bilder sehe ich vor mir, wenn ich an Uruz denke. Schon die Form der Rune hat etwas Kraftvolles, aufrecht Gebuckeltes, Wuchtiges – auch wenn sie nichts Gegenständliches zeigt (keine Rune tut das). Der Gedankengang, um noch einmal auf die „Nieselregen“-Deutung zurückzukommen, die Verlaufsform der Rune bilde das Aufsteigen ozeanischer Wasser (verdunstend) zu den Wolken und ihr anschließendes Niederregnen ab, erscheint mir jedoch zu weit hergeholt. Was aber Geschmackssache ist.

Wichtiger ist, dass sich die Energie, die sich in Fehu versammelt, in – oder gewissermaßen zu – Uruz verdichtet. Aus dem Vermögen des Möglichen wird handfeste Materie, mindestens aber geballte Kraft: Erdenergie, weil sich diese beiden Begriffe – Materie und Kraft – in diesem Zusammenhang kaum trennen lassen. Uruz verkörpert ihre Verbindung, ihr Miteinander. Ein besseres Symbol als das beschriebene schwarze Urtier kann ich mir kaum vorstellen. Was lässt sich nun für hier und heute, für unser tägliches Leben, daraus ableiten? Ganz konkret: gefühlte Körperlichkeit! Ab da hängt es nämlich nicht mehr davon ab, wie genau unsere Leiber beschaffen sind und dass sie mit archaischen Urtieren kaum Ähnlichkeit haben dürften. So sehr ich aber oben das urtümliche Aussehen mittlerweile längst ausgestorbener Wildtiere beschwor, so konsequent möchte ich – andersherum, sozusagen – das schöne Bild von Freiheit, Kraft und Wildheit auf unser Inneres übertragen. Denn dafür ist es meines Erachtens da. Nicht die äußere Form ist hier das Ziel, sondern nur das Mittel. Ganz egal, wie er aussieht, was er erträgt, stemmen kann oder nicht: Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du dich ihm lustvoll ergibst? Ich rede hier nicht von Sexualität oder dergleichen, das ist mitnichten der Punkt (im Moment) – es geht allein um das physische Spüren. Solang du nicht in einer Situation bist, in der dir dein Körper überhaupt vornehmlich Schmerzen bereitet (was es ja leider auch gibt), muss es doch irgendeinen Zustand geben, in dem du dich physisch wohl fühlst – und zwar ohne großen Aufwand. Das mag individuell sehr verschieden ausfallen, deshalb möchte ich hier nichts pauschalieren. Der eine schätzt vielleicht ein Schlammbad, in dem er sich suhlt wie Sau, der nächsten reicht die Sommersonne auf der Haut oder auch nur dem Hut, die dritte tobt gern vorbei an Busch und Zaun, joggt durch die Gegend, dass die Pumpe pocht und der Schweiß glänzt auf den Muskeln, während der vierte sich faul langlegt und als letzter Diener der Muße die Schwerkraft eine gute Göttin sein lässt und sich in Träume hineinmeditiert, die nicht einmal der US-amerikanische Geheimdienst kennt. Es sind der Möglichkeiten mehr als Mücken am Sommerabend. Ich will hier nur darauf hinaus, die eigene Körperlichkeit zu erfahren und zu spüren, und das in möglichst angenehmer, schwelgerischer, gefühlt kraftvoller Form. Vielleicht tut‘s ja sogar das Blubbern der Gedärme und ein auerochsreifer Furz – mag der Herr von Laptopia auch das Nerdnäschen rümpfen, wenn die lebenslustige Dame neben ihm einen fahren lässt… Dies ist Eibensangs erdiges Runenbuch, kein Benimmkatalog.

Uruz hat mit Urkraft zu tun, verkörpert solche – und gemeint ist durchaus die deines Körpers. Es geht, wie gesagt, nicht um Äußerlichkeiten, auch nicht um Messwerte. Also nicht um Vergleiche. Eher darum, dass sich dein Ich, deine Seele, deine Person in dem Körper manifestiert hat, den du hast. Wie bei mir wird es dein einziger sein – und wie immer wir damit klarkommen, es ist genau der Teil von uns, der uns von Gespenstern unterscheidet. Der eigene Leib ist unsere jeweilige physische Manifestation in der Welt. Wir sind nur eine Zeit lang so: solange unser Leben währt. Die ganze restliche Zeit über sind wir tot. Oder zumindest nicht hier: in der Welt, die wir kennen. Einander erkennen können! Ist das nicht ein Wunder? Ausreichend, meine ich, diesem Ausnahmezustand, der sich physische Präsenz, körperliches Dasein nennen lässt, eine von 24 Runen zu widmen (oder, anders ausgedrückt, eine der 24 heute diesem Wunder zuzuordnen)?! Es gibt noch eine andere Rune, die sich dann aber mehr damit befasst, was mit diesem Körper, dem dir ureigenen, anzustellen ist. Sie kommt erst später und dann, das verspreche ich, einigermaßen unerwartet. Für diesen Moment – diese Station im Futhark, wir sind erst bei Nummer zwei – reicht uns das Dasein als solches: das leibliche. Das hat, ungeachtet dessen, wie jemand auch schwächeln oder kränkeln mag, mit Kraft zu tun: jene, die uns lebendig macht und am Leben erhält. Ich nenne sie Erdkraft, denn erdverbunden sind wir in jeder Hinsicht. Wir alle leben von 15 Zentimetern Humusschicht; natürlich bestehen wir auch aus jeder Menge Wasser (für das es ebenfalls eine Rune gibt – in gewisser Weise auch für besagte Humusschicht, aber davon später) und kämen ohne Wasser von außen nicht weit – mehr als der halbe Planet besteht, zumindest außenherum, aus Wasser, aber genau das ist der Punkt. Alles Wasser, das wir kennen und das uns nützt, ist irdisch: mit Erde verbunden, aus der Erde kommend, von ihr getragen und sie bedeckend oder beregnend. Davon nicht betroffene Gebiete nennen wir Wüste. Worauf ich hinauswill: Wasser ist kein Widerspruch zu Erde, sondern ein Teil derselben. Uruz ist Erdkraft und hier darf das Wasser sich mitgemeint fühlen (zumal es ja später noch eine Extrarune kriegt: Wichtig genug ist es). Notfalls haben wir ja noch die Nieselregen-Deutung.

Worauf ich außerdem hinauswill: auf dich und die Erde, die Planetin und dich – auf dich dort. Hier auf dem Boden der Tatsachen und der physikalischen Verhältnisse. Die spielerische Übung, das Bild der wildschönen schwarzen Auerochs-Urtiere auf die eigene innere Vitalität zu übertragen, hat ja schon ganz gut geklappt, oder? Jetzt empfehle ich eine weitere Übertragung oder auch Verbindung: die zwischen dir und Mama Globus. Was unterscheidet uns von Mutter Materie? Sie ist eindeutig größer. Als du oder ich, und zwar sehr (obwohl oder weil wir ja auch Teile von ihr sind). Das ist gut so. Ich laufe lieber auf dem schönsten Planeten herum, den ich kenne, als dass ich selber einer wäre für irgendwelche Geschöpfe, die auf mir herumliefen, -kröchen, -sprängen, wuselten und rollten und für die ich Mutter spielen müsste, Trägerin, Lebensspenderin und -nehmerin, Ernährerin, Richtungsweiserin durch meine allgegenwärtige Schwerkraft und ihre verbindlichen Regeln. (Andererseits: Für meine Bakterien und Mikroben – oder was da auch an, auf und in mir herumkreuchen mag an Kleinstlebewesen – bin ich ja vielleicht genau das…)

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