Czytaj książkę: «Mein Leben mit den Eagles»

Czcionka:

Don Felder mit Wendy Holden

DURCH HIMMEL

UND HÖLLE

Mein Leben mit den Eagles

(1974–2001)

Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind


www.hannibal-verlag.de

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Heaven and Hell – My Live in the Eagles (1974–2001)

First published 2008 by John Wiley & Sons, Inc., Hoboken, New Jersey

Copyright 2008 © by Don Felder

© 2013 der deutschen Ausgabe:

Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Lektorat: Hollow Skai

Korrektur: Christian E. Fock

Cover: büro süd

Coverfoto: Lisa Romerein, Getty Images

Fotos Innenteil: Privatsammlung Don Felder

Ebook: Thomas Auer, www.buchsatz.com

ISBN 978-3-85445-422-9

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-295-8

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ­geschützt und darf ohne eine schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt insbeson­dere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Ver­arbeitung in elektronischen Systemen.

Widmung

Für meine Mutter und meinen Vater.

Und all jene, die davon träumen,

es im Musikbusiness zu schaffen.

Inhalt

Danksagungen

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

Bildstrecke

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

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Danksagungen

Vielen Menschen, die mir über die Jahre hinweg geholfen haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ich befürchte jedoch, dass mich mein Gedächtnis im Stich lassen könnte. Ehrlich gesagt kann ich mich an die genauen Details einiger Ereignisse in den Siebzigern längst nicht mehr erinnern. Sollte ich Feh­ler gemacht oder jemanden falsch zitiert oder übersehen haben, dann bitte ich hiemit um Verzeihung.

Ich danke Susan Felder, die all die Jahre tapfer durchgehalten hat; meinen Kindern Jesse, Rebecca, Cody und Leah; Jerry und Marnie Felder; Buster Lipham, der es mir ermöglicht hat, meine Instrumente zu finanzieren, und mich am Beginn meiner Karriere unterstützt hat; den Mitgliedern der Continentals und von Flow, Stephen Stills; Bernie Leadon; den Allman Brothers; Creed Tay­lor; Paul Hillis, die mich in Musiktheorie unterrichtet hat; Fred Walecki; David Geffen; David Blue; Graham Nash; David Crosby; Randy Meisner; Joe Walsh; Timothy B. Schmit; Bill Szymczyk; J. D. Souther; Larry „Scoop“ Solters; der verstorbenen Isa Bohn und allen Roadcrews, die uns je begleitet haben.

Des Weiteren möchte ich danken: John Belushi, Joel Jacobson, Linda Staab, Skip Miller, Barry Tyerman (der mich immer unterstützt hat), Jackson Browne (der für mich einsprang, als mein Sohn auf die Welt kam), Cheech and Chong, Jack Pritchett sowie Jimmy Pankow And The Bass Patrol und nicht zu vergessen B. B. King. Besonderer Dank geht an meinen Literaturagenten Alan Nevins, Calvin Warzecha (für die besten gebratenen Austern seit dem Tod meines Vaters), die Mannschaft bei Hyperion und alle anderen, die ich verges­sen habe, die aber ebenfalls hier stehen sollten.

Wendy Holden dafür, dass sie sich mit meinem Leben beschäftigt hat, als sie selbst gerade eine schmerzvolle Phase durchmachte.

Kathrin Nicholson für ihre unerschütterliche Liebe.

Don Felder

• • •

Ohne Alan Nevins würde es dieses Buch nicht geben. Ohne Calvin Warzecha würde es keinen Alan Nevins geben. Für ihre Professionalität, ihre großzügige Gastfreundschaft und ihre wunderbare Freundschaft stehe ich tief in beider Schuld. Mein Ehemann Chris hat mir während der gesamten Zeit die Hand gehalten und noch viel mehr getan. Ohne ihn wäre ich ertrunken. Mein Freund Robin Richardson war ein Quell des Trosts und der Kraft, ebenso wie meine Geschwister. Ich werde meine wundervollen Eltern Ted und Dorothy mehr vermissen, als ich in Worte fassen kann.

Don und Kathrin hießen mich in ihrem Leben und ihrem Zuhause mit offenen Armen willkommen und machten eines der schlimmsten Jahre meines Lebens irgendwie erträglich. Danke.

Auf professioneller Ebene bin ich Ronin Ro für seinen Beitrag zu Beginn meiner Arbeit dankbar, ebenso wie Marc Eliot für sein mutiges Buch To the Limit – The Untold Story of the Eagles. Wann immer sich Don nicht mehr recht erinnern konnte, lieferte Marcs Text ein paar Antworten. Unbedingt danken möchte ich auch Marc Shapiro für The Long Run, Ben Fong-Torres für sein Buch Not Fade Away, Cameron Crowe für den einzigartigen Film Almost Famous – Fast berühmt, John Einarson für Desperados – The Roots of Country Rock, Dave Zimmer für Crosby, Stills & Nash, Anthony Fawcett für California Rock, California Sound, William Knoedelseder für Hits und Hintermänner – Tricks und Machenschaften im Musikbusiness und schließlich John Swenson für Headliners. Des Weiteren danke ich Henry Diltz für seine beeindrucken­den Fotografien, die viele Erinnerungen wachgerufen haben; Randy Meisner fürs Mittagessen; Karima Ridgley für ihre Effizienz und schließlich Peternelle van Arsdale, Gretchen Young, Sarah Mandell und allen anderen bei Hyperion für ihre endlose Geduld.

Wendy Holden

EINS

In der Garderobe konnten wir den Lärm hören, den das Publikum machte. Es klang wie ein Gewitter, das sich irgendwo hoch über unseren Köpfen zusam­menbraute. Als wir einer nach dem anderen aus den Eingeweiden des Stadions hervorkrochen, die Lippen nass vom Bier und mit Ringen aus weißem Pulver um die Nasenlöcher, wurde das Grollen lauter und lauter.

Die Bühne war dunkel, doch wir tasteten uns routiniert zu unseren jewei­ligen Instrumenten vor, während uns der kühle Wind durchs Haar strich. Plötzlich schwoll das Gemurmel an. Die ersten Zuschauerreihen hatten uns als schattenhafte Figuren im Licht der roten Verstärkerglühlampen ausgemacht. Sie entzündeten Kerzen oder Feuerzeuge und hielten sie über ihre Köpfe in der Hoffnung, einen vorzeitigen Blick auf ihre Rockidole zu erhaschen. Andere folgten diesem Beispiel, bis wir ein riesiges, glitzerndes Meer aus Licht vor uns sahen. Die Spannung war so stark, dass wir sie beinahe schmecken konnten.

Wir standen einige Sekunden lang im Halbdunkel, atmeten tief durch und versuchten, uns darauf zu konzentrieren, wer wir waren und wie wir hierher­gekommen waren. Ich, ein armer Junge aus einer Kleinstadt in Florida, der als Kind durch eine Polioerkrankung beinahe zum Krüppel geworden wäre und dessen Traum es war, wie B. B. King zu spielen, trat an den Bühnenrand vor. Die anderen vier Bandmitglieder in ihren Schlaghosen standen hinter mir. Wir stammten alle aus verschiedenen Ecken des Landes, jeder von uns war die lebende Verkörperung des amerikanischen Traums.

Da standen wir nun und blickten über die Zehntausende erwartungsvoller Fans, die eine Menge Geld dafür bezahlt hatten, dass sie hier sein konnten; Leute, die jeden Ton und jedes Wort unserer Musik kannten und die meilenweit gefahren waren, nur um uns spielen zu hören. Das Kokain, der Nervenkitzel und das Adrenalin ließen mein Herz heftig gegen den Brustkorb schlagen.

Plötzlich ging ein Scheinwerfer an, der direkt auf mich hinabstrahlte. Ich stand allein in dem gleißenden Lichtkegel mit einer weißen, doppelhalsigen Gibson-Gitarre in den Händen. Der Rest der Band war eine Silhouette vor einer riesigen Reproduktion des bekannten Plattencovers von Hotel California, ein Bild des von Palmen umstandenen Beverly Hills Hotel in L. A. bei Sonnen­untergang. Meine Finger kribbelten, als ich die ersten, unverkennbaren Akkorde des Titelstücks anstimmte, eines Songs, den ich vor wenigen Monaten mitgeschrieben hatte, während ich im Schneidersitz auf dem Boden meines Strandhauses saß und mein Sohn neben mir spielte.

Ein Getöse erhob sich. Niemand hatte erwartet, dass dies die erste Num­mer sein würde. Sie dachten, wir würden das Konzert damit beenden. Das Publikum explodierte. Während jener ersten paar Sekunden war nur der Lärm der Menge zu hören – eine ohrenbetäubende Kakofonie aus Geschrei, Jubel, Gegröle, Pfeifen und überschäumendem Applaus. Ich wiegte mich im Schein­werferkegel und saugte die intensive, elektrisch geladene Atmosphäre auf, dann wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Während sich meine Finger automatisch auf dem Griffbrett auf und ab bewegten, gestat­tete ich mir ein kleines Lächeln. Das war es. Alles, wovon ich in den tiefsten Nächten jemals geträumt hatte – der berauschende Klang des Erfolgs.

ZWEI

Gainesville, Florida, war vermutlich nicht der ideale Ort, um aufzuwachsen, zumindest nicht das ärmere Viertel, in dem wir lebten. Als ich ein Kind war, war es eine für den tiefen Süden typische, gesichtslose Gemeinde, die einmal Hogtown Creek geheißen hatte und wo die einzige Fluchtmöglichkeit das Träumen war. Darin wurde ich rasch sehr gut.

Die Hauptattraktion des Orts war seine geografische Lage, mittendrin im Sunshine State, drei Stunden von der Hauptstadt Tallahassee entfernt. Bis zum Daytona Beach im Osten und zum Golf von Mexiko im Westen brauchte man mit dem Auto jeweils neunzig Minuten und etwa zwei Stunden bis nach Orlando, das jedoch rein gar nichts bot, bevor Mister Disney in den Siebzigern beschloss, dorthin zu ziehen. Die Rettung für Gainesville war die Universität von Florida, die im Jahr 1905 aus irgendeinem Grund beschloss, sich hier anzu­siedeln, und Tausende von Leuten in die Stadt brachte. Hogtown Creek war nie wieder dasselbe.

Das Klima war heiß und sumpfig und die Luft voller Moskitos. Im Win­ter wurde es unangenehm kalt und nass. Es war jedoch eine Gegend, in der die Hausbesitzer ihre Türen nie verschließen mussten. Verbrechen gab es praktisch nicht.

Gainesville wirkte wie ein rosafarbenes Zeitvakuum, bevölkert von guten, aufrichtigen Menschen, die artige Kinder mit starken moralischen Wertvor­stellungen großzogen und dann und wann zur Erbauung ein wenig in der Bibel blätterten. Die Wildnis ruft mit Gregory Peck und Jane Wyman erinnert mich stets an meine Heimatstadt in all ihrer zuckrigen Apfeltörtchensüße. Es war keine Überraschung, dass Marjorie Kinnan Rawlings, die Autorin von Die Wildnis ruft und anderen Romanen, ganz in der Nähe von Gainesville aufgewachsen war.

Meine Eltern, Charles „Nolan“ Felder und Doris Brigman, begegneten einander zum ersten Mal bei einem Blind Date im Jahr 1933, als sie beide in ihren Zwanzigern waren. Fünf Jahre lang trafen sie einander regelmäßig – sie „gingen“ buchstäblich miteinander, weil es während der Depression kein Ben­zin für Papas Chevrolet gab. Ihre wöchentliche Routine bestand aus einem Spaziergang in die Innenstadt zu Louie’s Diner, das es heute noch gibt. Dort aßen sie einen Hamburger zu fünfundzwanzig Cent und tranken eine Erd­beermilch, bevor sie zum Lyric Theater aufbrachen, um sich dort einen der neuen „sprechenden“ Filme anzusehen, in denen Stars wie Fred Astaire und Ginger Rogers auftraten.

Die Familie meiner Mutter war so arm, dass sie sich mit meiner Großmut­ter ein Paar Schuhe teilen musste. Mama borgte sie einmal in der Woche, um sie sonntags zur Bibelstunde zu tragen. Solche Armut ist oft der Grund für eine schwache Gesundheit, und so starb Großmutter Caroline an Herzversagen, als Mama gerade neun Jahre alt war. Dies zwang sie dazu, die Schule vorzeitig zu beenden, weil sie sich nun um ihren Vater, ihren älteren Bruder Buddy und ihre zweijährige Schwester Kate kümmern musste.

Mein Vater war deutscher Herkunft. Seine Vorfahren waren in Amerika sesshaft geworden, nachdem sie den langen Weg von Nordkarolina bis nach Hogtown Creek zu Pferd zurückgelegt hatten. Sie sahen aus wie aus einem alten Western – bärtig, mit Hüten und Gewehren und Hunden für die Wasch­bärenjagd, die faul zu ihren Füßen lagen. Papa war das älteste von vier Kin­dern, die von ihrer Mutter verlassen wurden, nachdem sie an chronischer Epi­lepsie erkrankt war. Er wurde von seinem gottesfürchtigen Vater großgezogen, der seinen Kindern mit Disziplin und Bibelversen Gehorsam einbläute.

Nachdem sie ein paar Jahre miteinander ausgegangen waren, beschloss mein Vater am Neujahrstag 1938, Doris zur Frau zu nehmen. Sie waren in Daytona Beach, und zur Feier des Tages kaufte er eine Flasche Schaumwein – ein seltener Moment der Frivolität. Er war achtundzwanzig Jahre alt, sie war fünf Jahre jünger als er. Mit seinen zwei besten Freunden, Chris Spell und Sam Dunn, und ihren Freundinnen fuhren sie um zehn Uhr an jenem Abend nach Trenton und weckten den Friedensrichter. „Wir wollen heiraten“, erklärten sie dem verschlafenen Beamten. Freundlicherweise entsprach er ihrer Bitte. Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie im Central Hotel in Gainesville, bevor jeder wieder nach Hause ging, bis sie ein eigenes Haus gefunden hatten.

In jenem Herbst begann Papa auf einem Baugrundstück in der Neunzehn­ten Lane Nordwest 217 in Gainesville mit der Arbeit. Es lag direkt neben dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Er verwendete seine mageren Ersparnisse dazu, das Holz und die Materialien zu bezahlen, die er benötigte. Das Haus wurde mit einem Holzrahmen auf Betonblöcken errichtet, damit die Luft dar­unter zirkulieren und keine Schlangen und Alligatoren eindringen konnten. Es stand an einer unbefestigten Straße, umgeben von dem für Florida typi­schen Gestrüpp, das auch als Palmwiese bekannt ist. Hinter dem Haus lag ein sumpfiger See, wo Louisianamoos von den Bäumen hing. Großvater Felder half ihm beim Hausbau, ebenso wie Mama und Jim Spell, der gleich nebenan wohnte. Meine Eltern bezogen eine weiße Schindelhütte mit Blechdach, iden­tisch mit Großpapas Haus. Über die Jahre bauten sie ihr Heim aus und zogen einige Innenwände ein, um zwei Schlafzimmer, eine Küche und ein Bade­zimmer abzutrennen. Papa war immer sehr stolz auf die Tatsache, dass er sein Haus mit eigenen Händen erbaut hatte.

Sein gesamtes Leben lang arbeitete er als Mechaniker bei Koppers, einer Fabrik vier Blocks entfernt auf der Dreiundzwanzigsten Avenue Nordwest, die druckbehandeltes Holz für Telefonmasten und die Eisenbahn lieferte. Frisch geschlagene Bäume wurden auf Schienen hereingefahren, dann hoben riesige Maschinen sie auf Förderbänder, die zu einer gigantischen Drehbank führten, welche die Rinde entfernte und geschälte Stämme ausspuckte. Eine weitere Maschine verlud sie auf Schienenwagen. Eine Diesellok fuhr die Stämme in eine lange Metallröhre, die einhundert Meter lang war und mit einer riesigen Tür hermetisch verschlossen werden konnte. Die Bolzen schnappten ein, dann wurde geschwärztes Kreosotöl unter hohem Druck hineingepumpt. Wenn der Prozess abgeschlossen war, ließ die Maschine den Druck ab, öffnete sich und entließ die klebrigen schwarzen Stämme auf eine Schiene, von der aus sie ein anderer Zug nach Oklahoma oder sonst wohin brachte, wo sie eben gerade benötigt wurden. Es war ein unglaublich routiniertes Verfahren.

Abgesehen von ein paar Jahren, als er während der Depression gekündigt wurde, hatte Papa seit seinem zwölften Lebensjahr bei Koppers gearbeitet, lange bevor sie Gesetze über Kinderarbeit hatten, und dabei einen großen Teil der komplizierten Maschinen bedient. Wie sein Vater vor ihm, der ebenfalls Mechaniker in dieser Fabrik gewesen war, musste er entsetzliche Arbeits­bedingungen und unglaubliche Arbeitszeiten erdulden. Die Maschinen waren rund um die Uhr in Betrieb, und wenn es irgendwelche Probleme gab, sei es bei Tag oder bei Nacht, dann rief man ihn herbei. Oft hörte ich, wie morgens um zwei oder drei Uhr das Telefon klingelte und er aus dem Bett stolperte. Im Morgengrauen kehrte er dann vor Beginn seiner regulären Schicht noch ein­mal für eine Stunde Schlaf nach Hause zurück. Er atmete den ganzen Tag lang Kreosot- und Dieseldämpfe ein. Wenn er abends heimkam, war er von Kopf bis Fuß schwarz. „Zieh deinen Overall aus, Nolan“, schrie ihm meine Mutter dann schon entgegen, bevor er überhaupt einen Fuß ins Haus setzte. Pflicht­schuldig schälte er sich aus seinen Kleidern und öffnete die Fliegengittertür in seinen Shorts und Socken. Er nahm eine ausgiebige heiße Dusche und ver­suchte, den schlimmsten Dreck abzuwaschen, aber unter seinen Fingernägeln und um die Nagelhaut herum war er dauerhaft festgefressen. Es umgab ihn auch immer dieser bestimmte Geruch.

Ich wurde am 21. September 1947 im Alachua County Hospital geboren, fünf Jahre nach meinem Bruder Jerry. Dad war nicht eingezogen worden, weil seine Arbeit zu kriegswichtig war, obwohl ich glaube, dass es ihm vielleicht ganz gutgetan hätte, Gainesville ein paar Jahre lang zu entfliehen und etwas von der Welt zu sehen. Seine Erfahrungen aus der Depression hatten ihn ver­härtet und zu einem sturen Workaholic gemacht, der sich für einen Hunger­lohn die Knochen brach. Selbst wenn er nur vorübergehend entlassen wurde, fand er eine Beschäftigung – dann arbeitete er etwa für zehn Cent am Tag vor dem Gerichtsgebäude auf dem Marktplatz als Maurer. In Gelddingen war er extrem vorsichtig. Er besaß nie eine Kreditkarte, nahm nie eine Hypothek auf oder kaufte ein Auto auf Kredit. Sein regelmäßig reparierter 1942er-Chevrolet war unser einziges Transportmittel. In seiner Nachttischschublade versteckte er Geld für den Fall, dass die Banken jemals wieder schlossen. Harte Arbeit kann einem Mann jegliches Vertrauen nehmen.

Wir lebten also ganz wie in Erskine Caldwells Depressionsroman Die Tabakstrasse. Meistens rannte ich barfuß in abgeschnittenen Jeans und einem T-Shirt herum, während mein treuer Cockerspaniel Sandy im Zickzack begeis­tert neben mir hersprang. Mit Jerry und meinem besten Freund, Leonard Gideon, spielte ich in den Palmwiesen, wo wir uns kleine Festungen bauten, indem wir ein kleines Bäumchen mit einem Seil zu Boden zogen, es festbanden und aus den losen Wedeln ein Dach flochten.

Irene Cooter, eine matronenhafte Frau, die genau hinter uns wohnte, fun­gierte für die meisten Kinder der Nachbarschaft als inoffizielle Babysitterin. Leonard und ich gingen jeden Tag nach der Schule ein paar Stunden zu ihr. In ihrem Garten stand ein riesiger Paternosterbaum, dessen Wurzeln aus dem Boden hervorquollen und -sprudelten. „Dass du mir ja nicht auf diesen Baum kletterst, mein Sohn“, warnte sie mich, als ich sehnsüchtig in das Gewirr von Ästen hinaufsah. Als ich vier Jahre alt war, wurde die Versuchung zu stark. Unnötig zu sagen, dass ein Ast brach und ich mit einem gewaltigen Plumps zu Boden fiel. Dabei brach ich mir an einer der knorrigen Wurzeln meinen linken Ellenbogen. Schreiend rannte ich ins Haus, während der Knochen aus meiner Haut herausragte.

Die Ärzte im Alachua County Hospital sagten, meine Bewegungsfreiheit sei dauerhaft stark eingeschränkt und ich würde niemals in der Lage sein, meinen linken Arm voll einzusetzen. Meine Mutter glaubte das nicht. Sobald der Gips herunterkam, füllte sie ein kleines Eimerchen mit Sand, das ich Tag und Nacht mit mir herumtragen musste, um meinen Arm wieder gerade zu strecken. Ich weinte vor Schmerzen. Dann nahm sie mich bei der Hand und ging mit mir umher, ebenfalls weinend. Dank ihrer Beharrlichkeit und ein paar leidvoller Monate verfüge ich heute mehr oder weniger über die volle Bewegungsfreiheit – was sehr wichtig für einen Gitarristen ist.

Ein Jahr nach jenem Unfall wurde ich sehr krank. Ich klagte bei meiner Mutter über Kopfschmerzen und ständige Müdigkeit. Für einen Fünfjährigen war das schon ungewöhnlich genug, aber bei einem kleinen Knallfrosch wie mir war es schlicht unvorstellbar. Sie schickte mich sofort zum Arzt, der die frühen Symptome einer Kinderlähmung feststellte. Eine Epidemie fegte durch das Land, die Tausende von Kindern zu Krüppeln machte und Hunderte das Leben kostete. Ich hatte Glück. Sie verpassten mir den von Jonas Salk neu ent­wickelten Impfstoff, und wie durch ein Wunder bildeten sich die vollen Sym­ptome bei mir nicht aus. Trotzdem verbrachte ich vier unendlich lange Monate in einem Heim für poliokranke Kinder, allein und verängstigt. Ich fragte mich, was ich getan hatte, dass mich meine Eltern an solch einen Ort verbannt hatten. War es, weil ich auf den Baum geklettert war? Meine einzige Rettung war ein kleines Radio neben meinem Bett. Es hatte einen abnehmbaren Plastiklaut­sprecher, den ich nachts unter mein Kopfkissen schob. Dann lag ich stunden­lang wach und trommelte mit meinen Fingern im Takt zur Musik.

Die Klänge von Al Martino und Frankie Laine trösteten mich und über­tönten das keuchende Geräusch der eisernen Lungen, die das Atmen für die­jenigen übernahmen, die weniger Glück hatten als ich. „Hier in meinem Her­zen bin ich allein, ich bin so einsam“, sang Al Martino für mich, wenn ich im Bett lag und an die Decke starrte, wo ein Ventilator gemächlich surrte. Ich stelle mir gern vor, dass es die tröstliche Musik und die trällernden Stimmen jener Schnulzensänger aus den Fünfzigern und nicht der Impfstoff waren, die mich das Ganze heil überstehen ließen.

Meine Mutter arbeitete in Vollzeit von Montag bis Samstag, zuerst in einer Schnellreinigung in Gainesville, die in einem neuen Einkaufszentrum in der Stadtmitte aufgemacht hatte. Abends kam sie nach Hause und hatte den Geruch der Chemikalien und der Kleidung noch auf der Haut. Ich kann mich nur an sehr wenige heftige Wortgefechte zwischen ihr und meinem Vater erin­nern, aber bei einem ging es um ihren Wunsch, arbeiten zu gehen. „Ich will mein eigenes Geld, Nolan“, beklagte sie sich. „Ich will nicht jedes Mal zu dir kommen müssen, wenn ich den Jungs etwas kaufen will.“ In Wahrheit lehnte er diese Bitte für gewöhnlich ohnehin ab. Mein Vater fühlte sich in seiner Ehre gekitzelt. Die meisten Ehefrauen blieben zu Hause, und er sorgte sich darum, welchen Eindruck dies wohl in der Fabrik machen würde. Schließlich gab er jedoch nach, wie er es meistens tat.

Da Mama und Papa beide arbeiten gingen, war eigentlich nie jemand im Haus. Großpapa Brigman, der Vater meiner Mutter, lebte am anderen Ende der Stadt. Wir besuchten ihn nur sonntags nach der Kirche. Großpapa Felder lebte im Nachbarhaus, kaute Tabak und spuckte große Batzen stinkenden braunen Schleims in eine alte Kaffeedose zu seinen Füßen, doch nachmittags machte er ein Nickerchen, und so konnte ich mich für gewöhnlich mühelos davonschleichen. Ohne Aufsicht geriet ich in alle möglichen Schwierigkeiten – meistens hatte ich die Musik zu laut oder prügelte mich. Oft fuhr ich im Viertel herum und füllte den Korb meines klapprigen, gebrauchten Fahrrads mit leeren Colaflaschen, für die es zwei Cent Pfand gab. Wenn ich genügend Flaschen sammelte, konnte ich es mir leisten, in den Gemischtwarenladen zu gehen – MoonPie, ein Marshmellow-Schokokeks, und RC Cola waren in mei­ner verschwendeten Jugend die Grundnahrungsmittel.

An der Sydney Kinnear Elementary School war ich alles andere als ein besonders ungezogener Schüler. Eigentlich war ich eher ein Tagträumer. Ich ließ die Stunden an mir vorüberziehen, schaute aus dem Fenster und dachte über alles Mögliche nach. So überlegte ich etwa, wie ich Sharon Pringle, ein Mädchen, in das ich verschossen war, beeindrucken könnte, oder was ich als Nächstes unternehmen könnte, um mir ein paar Cent dazuzuverdienen. Die Schule interessierte mich einfach nicht. Ich tat das Minimum, das für meine nächste Versetzung notwendig war, und mehr nicht.

Meine Eltern zogen mich andauernd am Ohr und gingen mir auf die Ner­ven. Mein Vater war fest entschlossen, dass sein Sohn den sozialen Aufstieg schaffen und so der lebenslänglichen Schinderei entkommen sollte, zu der er und Mama durch Klasse und Geburt verdammt worden waren. Ich glaube, am meisten fürchtete er, dass ich wie er und Großpapa Felder als Arbeiter bei Koppers endete. Dutzende Male pro Woche sagte er zu mir: „Cotton, warum kannst du nicht mehr wie dein Bruder sein und etwas aus deinem Leben machen?“ („Cotton“ – Baumwolle – war damals mein Spitzname, weil mein Haar fast weiß war. Später bekam ich den Spitznamen „Doc“, nach der berühm­ten Frage von Bugs Bunny: „Is’ was, Doc?“)

Mein Bruder Jerry und ich hätten verschiedener nicht sein können. Er war nicht nur körperlich größer, fleißig, höflich und extrem zielgerichtet, er schien auch sehr früh zu begreifen, dass die einzige Möglichkeit, dem durch eine geringe Bildung vorgezeichneten Schicksal unserer Eltern zu entfliehen, gute schulische Leistungen waren. Jerry war ein Musterschüler, der gern las, aber auch ein großartiger Sportler. Als Werfer der Baseballmannschaft verdiente er sich ein Stipendium fürs College und ein Jurastudium. Er heiratete sogar seine Jugendfreundin. Mit anderen Worten: Er war ein Beispiel, dem man unmög­lich folgen konnte. Ich blickte zu ihm bewundernd, ehrfürchtig und neidisch auf. Welches Unterrichtsfach ich auch besuchte, an welchem unbedeutenden Turnier ich auch teilnahm, stets hieß es vonseiten der Lehrer oder Trainer: „Oh, Felder, wollen wir mal hoffen, dass du nur halb so gut bist wie dein Bru­der.“ Es dauerte nicht lange, da begann ich diesen Vergleich zu hassen. Rasch begriff ich, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu wetteifern, also versuchte ich es erst gar nicht. Seine Fußstapfen waren einfach zu groß für mich, und so mogelte ich mich mit meinen schlechten Zensuren unauffällig durch.

Jerry und ich teilten uns ein Zimmer mit zwei Einzelbetten und einem Schreibtisch dazwischen. An den meisten Abenden saß er bis spät in die Nacht da und lernte, während ich im Bett lag und versuchte, das Magazin Mad zu lesen, das ich mir nur ab und zu leisten konnte. Seine Leselampe schien mir genau in die Augen. Gerade eben hatten wir noch miteinander gespielt, doch von einer Sekunde auf die andere, so schien es, war er älter und kultivierter und hatte Freunde, die nicht im Entferntesten daran interessiert waren, seinen kleinen Bruder im Schlepptau zu haben. Die fünf Jahre Altersunterschied schienen nun wie ein Abgrund zwischen uns, und die einzige Zeit, die wir ab da miteinander verbrachten, war in den Ferien oder bei irgendeinem sportli­chen Wettkampf, den ich sowieso immer verlor. Er besiegte mich sogar beim Monopoly und beim Schach, da er mir nur gerade so viel beigebracht hatte, dass er mich noch schlagen konnte. Mann, es kotzte mich immer voll an, dass er all diese Hotels und Häuser besaß. Stets erlaubte er es mir, mich an einer einzigen rosa Immobilie festzuklammern, bis er mich vollends vernichtete.

Ich bin sicher, dass ich meinen Vater regelmäßig zur Verzweiflung trieb. Ich könnte immer noch zusammenzucken, wenn ich an seinen Ledergürtel auf meinem Hintern und meinen Beinen zurückdenke. Es war viel schlimmer als die Holzlatte, mit der man uns in der Schule züchtigte, und es blieben rote Striemen zurück. Meine gesamte Kindheit hindurch musste ich seine Schläge erdulden. Ich nahm es einfach hin.

Wenn ich hingegen an meine Mutter denke, muss ich einfach immer lächeln. Sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, dass wir Sandy zu uns holten. Mein Vater wollte keine Haustiere, aber Mama sagte ihm mit fester Stimme: „Jeder Junge braucht einen Hund.“ Sandy war mein bester Freund und viel wichtiger für mich als unsere Katze Blackie, die beinahe wöchentlich zu werfen schien, meistens unten in meinem Schrank. Sie folgte mir treu jeden Tag bis zur Schule und wartete geduldig vor dem Klassenzimmer, bis die Glo­cke läutete. Der Schulleiter rief meine Eltern mehrere Male an, damit sie den Hund nach Hause schafften. Doch wenn sie dann kamen, um ihn zu holen, rannte er von selbst zurück. Schließlich gaben sie es auf.

Eines Tages, als er etwa vier Jahre alt war, nahm ich ihn mit zum Tante-Emma-Laden, wo ich Pepsi und ein paar Erdnüsse kaufen wollte. Während ich abgelenkt war und mit dem Besitzer über die neuesten Baseballergebnisse plauderte, verschwand Sandy hinter der Theke und verschlang ein wenig Rat­tengift. Zu meinem großen Schrecken setzten beinahe sofort die Krämpfe ein. Ich ließ meine sämtlichen Einkäufe auf den Fußboden fallen, schnappte ihn und rannte schnurstracks über die Straße zum Tierarzt.

„Bitte helfen Sie meinem Hund“, sagte ich, während ich ihn streichelte und meine Tränen auf sein Fell fielen. „Er hat Gift gefressen, und es geht ihm sehr schlecht. Lassen Sie ihn nicht sterben.“ Sandy verdrehte fürchterlich die Augen, zuckte am ganzen Körper und hatte Schaum vor dem Mund. Der Tier­arzt nahm ihn mir aus den Armen, eilte mit ihm ins Hinterzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich saß über eine Stunde lang im Wartezimmer und schluchzte herzzerreißend, bis der Tierarzt schließlich mit ernster Miene wie­der herauskam.

„Tut mir leid, mein Sohn, wir konnten nichts mehr tun“, sagte er zu mir, als ich voller Erwartung vor ihm stand.

Ich hatte nie gedacht, dass irgendetwas so wehtun könnte, und ich heulte während der gesamten Heimfahrt auf dem Fahrrad. Die neugierigen Blicke der Passanten waren mir egal. Zum Glück hatte Mama bei der Arbeit einen Anruf erhalten und wartete bereits, um mich zu trösten. Es dauerte Wochen, bis ich wieder in den Laden gehen konnte.

• • •

Jeden Sonntag, ganz egal, wie müde sie nach sechs vollen Arbeitstagen auch war, kochte Mama gebratenes Hühnchen mit Kartoffelbrei und Maisbrot. Ich kann immer noch kein Maisbrot riechen, ohne dabei an sie zu denken. Zu beson­deren Anlässen lud Papa uns in Morrison’s Cafeteria zum Sonntagsangebot ein – neunundneunzig Cent für jeden von uns, und man konnte essen, so viel man wollte. Wir stellten uns mit Tabletts an, auf denen wir Salisbury-Steaks, Hühn­chen und Kartoffeln aufgetürmt hatten. Wir stopften so viel in unsere hungrigen Mäuler, wie wir nur konnten, bis unsere Bäuche zum Platzen voll waren. Wenn sie uns gelassen hätten, hätten wir auch eine Schubkarre genommen.

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