Czytaj książkę: «Schwarzes Gold»
Dominique Manotti
SCHWARZES GOLD
Aus dem Französischen
von Iris Konopik
Ariadne Kriminalroman 1213
Argument Verlag
Schlaglicht: eine Hochzeit in New York. Späte Sechziger, doch statt der damit gern assoziierten Flowerpower fällt der Blick auf höfische und intime Rituale in einer Schaltzentrale der Macht, wo man Weichen stellt, von deren Existenz die gemeine Verbraucherschar nichts zu ahnen hat.
Schlaglicht: ein noch junger Commissaire Daquin betritt den Bahnhofsvorplatz von Marseille, Stadt der Schurken und Banditen, Tor zur Welt, brodelnder Moloch zwischen Klassenkampf und Krise, für manche ein Sprungbrett, für andere Endstation.
Kugeln treffen ihr Ziel, Deals gehen über die Bühne, und hinter den Kulissen des sonnenbeschienenen Mittelmeerhafens spinnen die kleinen und großen Geschäftemacher an ihren Netzen. Manottis Marseille fängt in Makro-Aufnahmen von extremer Schärfe und kühler Sinnlichkeit die intrigenstrotzende Wirtschaftspolitik der Siebziger ein. Präzise Action in einem harsch skizzierten Fresko der leidenschaftslosen Gewalt: Die Akteure sind Spieler, der Einsatz ist heute noch derselbe. Es ist unsere Welt.
Falls wir eine Chance haben, durch Literatur die Geschichte zu begreifen, dann ist Manotti eine unserer kostbarsten Dozentinnen. Vive la révélation. Else Laudan
Weiterführende Links finden sich am Ende des Buches.
Inhalt
Cover
Titel
Schlaglicht
Prolog
Mai 1966, New York
1 - Sonntag, 11. und Montag, 12. März 1973
Sonntag, Marseille
Montag, Marseille
2 - Dienstag, 13. März 1973
Dienstag im Morgengrauen, Nizza
Dienstagmorgen, Marseille
Dienstagnachmittag, Nizza
3 - Mittwoch, 14. März 1973
Mittwoch, Marseille
4 - Mittwoch, 14. und Donnerstag, 15. März 1973
Mittwochabend, Nizza
Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, Hafen von Istanbul
Donnerstagmorgen, Cap Ferrat
5 - Donnerstag, 15. März 1973
Donnerstagmorgen, Marseille
Donnerstag, Nizza
Donnerstagnachmittag, Marseille
Donnerstagabend, Nizza
6 - Donnerstag, 15. März 1973
Donnerstag, Genf
7 - Freitag, 16. März 1973
Freitagmorgen, Marseille
Freitagnachmittag, Marseille
Freitag, Istanbul
8 - Samstag, 17. März 1973
Samstagmorgen, Marseille
Samstagvormittag, Malta
Samstagnachmittag, Marseille
Samstag, Istanbul
9 - Freitag, 16. und Samstag, 17. März 1973
Freitagnachmittag, St. Moritz
Samstagmorgen, Cap Ferrat
Samstagnachmittag, St. Moritz
10 - Sonntag, 18. und Montag, 19. März 1973
Sonntag, Marseille
Sonntagnachmittag, Nizza
Montagmorgen, Cap Ferrat
11 - Montag, 19. und Dienstag, 20. März 1973
Montagnachmittag, Marseille
Dienstag, Marseille
12 - Mittwoch, 21. März 1973
Mittwoch, Nizza, Saint-Tropez
Mittwoch, Marseille
13 - Mittwoch, 21. und Donnerstag, 22. März 1973
Mittwochvormittag, Cap Ferrat
Mittwochnachmittag, Genf
Donnerstagmorgen, Cap Ferrat
14 - Donnerstag, 22. März 1973
Donnerstag, Malta
15 - Donnerstag, 22. März 1973
Donnerstag, Saint-Tropez
Donnerstag, Marseille
16 - Freitag, 23. März 1973
Freitagvormittag, Marseille
Freitagnachmittag, Marseille
Freitagabend, Marseille
17 - Samstag, 24. und Sonntag, 25. März 1973
Samstagmorgen, Cap Ferrat
Sonntagabend, Johannesburg
18 - Samstag, 24. März 1973
Samstag, Marseille
Samstagabend, Nizza
19 - Sonntag, 25. März 1973
Sonntag, Marseille
Sonntagabend, Saint-Tropez
20 - Montag, 26. und Dienstag, 27. März 1973
Montag, Marseille
Dienstag, Marseille
21 - Mittwoch, 28. bis Freitag, 30. März 1973
Mittwoch, Marseille, Nizza
Freitag, Marseille
22 - Samstag, 31. März und Sonntag, 1. April 1973
Samstag, Marseille
Sonntag, Nizza, San Remo
Nachwort in Form einiger Zahlen
Weiterführende Lektüre, Links etc.
Impressum
Prolog
Mai 1966, New York
Im Monat Mai ist das Wetter schön in New York, die Luft seidig, noch fern von der drückenden Hitze des Sommers, eine gute Zeit für gesellschaftliche Ereignisse. Am heutigen Tag feiert man in der Großen Synagoge auf der Fifth Avenue die Hochzeit von Michael Frickx, dem Star-Trader von Co Trade, einem im Erzhandel tätigen Unternehmen mit Sitz in New York, und Emily Weinstein, Enkelin von Nat Weinstein, dem Besitzer der Südafrikanischen Minengesellschaft.
Nach der religiösen Zeremonie und vor dem großen Dinner mit mehreren hundert Gedecken in einem der großen Hotels der Stadt empfängt Joshua Appelbaum, Boss von Co Trade, bei sich zu Hause fünfzig Vertraute, um ihnen die junge Ehefrau persönlich vorzustellen und das Ereignis unter Freunden zu begießen.
Er bewohnt ein zweistöckiges Penthouse auf einem Wolkenkratzer an der Fifth Avenue. In einem an die Vorhalle angrenzenden kleinen Salon empfängt er seine Gäste in Gesellschaft der zwanzigjährigen Braut. Die Gäste mustern sie neugierig und mit einer Spur Argwohn. Niemand kennt sie, sie kommt direkt aus Südafrika, ein englischsprachiges Land, das schon, aber furchtbar … exotisch und unheimlich. Groß, schlank, kurzgeschnittenes braunes Haar, dunkle Augen und strahlendes Lächeln, hübsch verpackt in ihrem braven langen, kaum dekolletierten weißen Kleid, einladend und linkisch zugleich, ähnelt sie einer beliebigen Tochter aus gutem amerikanischem Hause. Günstiges Urteil, eine salonfähige junge Frau. An ihrer Seite ihr Ehemann Michael – dreiunddreißig Jahre alt, sehr groß, elegant in einem gut geschnittenen dunklen Anzug, das kastanienbraune kurze Haar ordentlich frisiert, längliches Gesicht, bewegliche Mimik, immer strahlend –, der die Gäste mit offenen Armen begrüßt. Für jeden hat er ein Wort, ein Lächeln, eine Anekdote, sein Gedächtnis funktioniert wie eine Kriegsmaschine. Glückwünsche, Umarmungen, er ist das Hätschelkind der Freunde von Jos.
Dann steuern die Gäste den großen Salon an, dessen Glasfront auf eine Terrasse hoch über dem Central Park führt. In der Türöffnung kommen sie an der Ketubba vorüber, der Heiratsurkunde von Emily und Michael, die auf einer Staffelei ausgestellt ist. Ein in Kalligraphie geschriebenes Dokument auf Aramäisch, verziert mit einem Muster stilisierter Blumen und Früchte, die sich in das Geschriebene ranken. Jeder Gast beugt sich über die Urkunde, bemüht, die Unterschriften der Zeugen zu entziffern. Joshua Appelbaum, ihr Gastgeber, hat für den Bräutigam gezeichnet. Nat Weinstein konnte als Blutsverwandter der Braut nicht selbst für seine Enkelin unterschreiben, darum hat das sein Stellvertreter bei der Südafrikanischen Minengesellschaft übernommen, Generaldirektor Leo Blumenfeld, der eigens für die Zeremonie aus Johannesburg angereist ist. Nachdem sie die nebeneinander stehenden Unterschriften mit eigenen Augen gesehen haben, gehen die Gäste weiter in den großen Salon, wo drei Buffets mit Getränken und allerlei Amuse-Gueules angerichtet sind, fügen sich zu Gruppen zusammen, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen, und unterhalten sich angeregt.
Ein paar Frauen wundern sich: Die Eltern des Brautpaars sind nicht anwesend? Leider nicht, die jungen Leute sind beide Waisen, die Ärmsten. Pflichtschuldige Seufzer. Michael wurde, viele wissen es bereits, in Anvers geboren, hat Vater und Mutter 1943 in den Konzentrationslagern verloren und ist dann als Zehnjähriger mit seiner Tante in den Staaten gelandet. Sie, die arme Kleine, hat Vater und Mutter bei einem Flugzeugunglück verloren, als sie zwei Jahre alt war. Sie wurde von ihrem Großvater Nat Weinstein großgezogen.
Die Männer reden über die beiden Unterschriften, Appelbaum und der Vertreter Weinsteins auf ein und demselben Dokument. Ein Erdbeben in der Geschäftswelt, versteigen sich einige zu sagen. Die Allianz von Co Trade, dem Weltmarktführer im Erzhandel, und der Südafrikanischen Minengesellschaft, die Roherze fördert und überreiche Vorkommen besitzt, ohne derzeit über die Absatzmöglichkeiten zu verfügen, die eine wirtschaftliche Ausbeutung ermöglichen: eine ungewöhnliche Heirat zwischen Rohstoffförderer und -händler, die die traditionelle Ökonomie beider Sektoren ordentlich erschüttern wird. Die Börse hat das übrigens gleich erkannt. Als sich die Nachricht von der Hochzeit vor zwei Wochen herumzusprechen begann, hat Co Trade an einem Tag um zwanzig Prozent zugelegt. Und der Börsenrausch ist seitdem nicht abgeflaut. Wirklich eine vorteilhafte Partie.
Als alle Gäste willkommen geheißen und der Braut vorgestellt sind, umarmt Jos Emily. »Madam, Sie sind perfekt. Ich hoffe, Ihnen in diesem fremden Land ein treuer Freund zu sein, auf den Sie immer werden zählen können. Jetzt entspannen Sie sich, amüsieren Sie sich ein wenig mit Ihren Gästen, ich entführe Ihnen für ein paar Minuten Ihren Mann, Ihr Großvater erwartet uns in meinem Arbeitszimmer.«
Emily betritt den großen Salon, drei Geiger stimmen ihre Instrumente. Sie werden ein paar traditionelle Festweisen spielen, die Gäste bilden kleine Gruppen, die Gespräche sind lebhaft. Sie durchquert den Raum, alle Blicke wenden sich ihr zu, sie nimmt davon keine Notiz, nähert sich einem jungen Mann in Militäruniform, der mit verschlossener Miene allein in einer Ecke sitzt. Sie umarmt ihn, zieht ihn hinaus auf die Terrasse.
»David, mach nicht so ein finsteres Gesicht. Sieh dir diesen Ausblick an, diese Stadt.«
»Du hast es geschafft, du bist in New York, genau das, was du wolltest, bist du glücklich?«
»Glücklich, ich weiß nicht. Mein Ehemann wirkt ein bisschen wie ein Handelvertreter.«
»Er ist Handelsvertreter.«
»Aber ich bin in dieser Stadt, da, wo ich hinwollte. Hier pulsiert das Leben. Spürst du es nicht?«
Schweigen.
»Ich bin Joburg entronnen, dem Stillstand. Ich bin am Mittelpunkt der Welt. Mein Leben beginnt hier, jetzt.«
»Hart für mich, das zu hören. Ich dachte, wir hätten in der Welt da drüben einige schöne Jahre miteinander verbracht.«
»Wir waren Kinder, lieber Cousin. Sprechen wir über dich, erzähl. Warum hast du dich entschlossen, Soldat zu werden? Nichts hat dich dazu verpflichtet.«
»Um mein Leben zu beginnen. Für dich ist es New York, für mich die Armee.«
Das Arbeitszimmer ist nüchtern, dunkles Holz und dunkles Leder, ohne jedes Dekor. Nat Weinstein hat es sich in einem großen Sessel bequem gemacht und trinkt Whisky. Er ist so alt wie das Jahrhundert, hat die Statur eines kleinen Stiers, untersetzt und draufgängerisch, und einen kaum gezähmten weißen Haarkranz. Als Jos und Michael den Raum betreten, hebt er sein Glas.
»Ich trinke auf das Gelingen dieser Ehe und auf das Glück der Eheleute.«
Jos und Michael schenken sich ein und stoßen an.
»Michael, unterhalten wir uns ein bisschen, ehe wir zum Geschäftlichen kommen. Ich kenne Sie kaum. Emily und Sie kennen sich überhaupt nicht. Ich habe Ihnen die Hand meiner Enkeltochter gegeben, weil mein Freund Jos sich für Sie verbürgt hat«, Michael verbeugt sich leicht in Jos’ Richtung, »und weil Jos und ich gemeinsam in einen langfristigen Geschäftskreislauf einsteigen. Ich liebe Emily von Herzen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie sie unglücklich machen.«
»Seien Sie versichert, dass das nicht meine Absicht ist.«
»Ich habe einige Erfahrung auf dem Gebiet. Glauben Sie mir, gute Absichten reichen nicht aus.«
»Ich verpflichte mich, alles mir Mögliche zu tun, um Emily glücklich zu machen.«
Weinstein zögert kurz, fährt dann fort: »Gut, sprechen wir übers Geschäft. Wir, Jos und ich, haben die finanziellen Modalitäten des Zusammenschlusses von Co Trade und Südafrikanischer Minengesellschaft abschließend geklärt. Die Sache ist geritzt. Reden wir jetzt darüber, was bei mir zu Hause, in Südafrika, und auf meinem gesamten Kontinent passiert. Afrika verändert sich grundlegend, davon bin ich überzeugt. Viele meiner Mitbürger sehen es nicht, aber ich, ich spüre es bis in die Knochen. Der Wandel wird sich mit Gewalt vollziehen, viel Gewalt, und unter chaotischen Umständen. Ich benötige die Unterstützung eines sehr guten Logistikers, der mir hilft, meine Kommunikationsnetze in Afrika so gut wie möglich zu festigen, und einen exzellenten Trader, der mir Handelswege eröffnet, über die mein Unternehmen im Ausland Fuß fassen und vielleicht eines Tages Afrika den Rücken kehren kann, was nicht mein Wunsch ist. Aber sollte mein Land unglücklicherweise in einem Blutbad untergehen, will ich, dass meine Firma überlebt. Jos hat mir versichert, dass Sie der geeignete Mann sind. Stimmt das?«
Michael nimmt sich Zeit zum Nachdenken, lächelt dann. »Ich bin ein Abenteurer, und Jos weiß das. Ja, ich denke, ich bin der Mann, den Sie brauchen.«
»Nat, Michael ist mein geistiger Erbe bei Co Trade. Damit ist alles gesagt.«
Die drei Männer trinken.
»Auf die Zukunft!«
1
Sonntag, Marseille
An einem Sonntagmorgen im März 1973 steigt Commissaire Théodore Daquin am Bahnhof Saint-Charles mit zwei großen Koffern und sehr wenig Erfahrung aus dem Zug. Siebenundzwanzig Jahre alt, glänzendes Studium, Politologie, Jura-Examen, Polizeihochschule, die er als einer der Jahrgangsbesten abgeschlossen hat, dann ein Jahr im Sicherheitsdienst der französischen Botschaft in Beirut, sehr weit weg von den Straßen Marseilles. Er durchquert die Bahnhofshalle, tritt hinaus auf den Vorplatz und bleibt geblendet stehen. Vor ihm führt eine monumentale Treppe hinab in die sonnendurchflutete Stadt, mündet in eine schnurgerade, von Bäumen gesäumte breite Straße, ein spektakulärer Blick. Auf dem ersten Absatz der Treppe eine Café-Bar, Tische, Stühle. Daquin nimmt Platz, bestellt einen Espresso. Er hat die kräftige Statur eines Rugby-Spielers, spielt übrigens auch sporadisch auf der Position des Dritte-Reihe-Stürmers, ein breites, kantiges Gesicht ohne Unebenheiten, braune Augen und braune Haare, insgesamt eher ein Allerweltsgesicht, aber eine starke Präsenz, sobald Leben in ihn kommt. Er streckt die Beine aus, schließt die Augen, nimmt die frische Sonnenwärme eines Märzmorgens in sich auf. Schöner Empfang, gute Gefühle. Der Espresso kommt, lauwarm und mittelmäßig, daran muss man sich wohl gewöhnen. Marseille, Kopfsprung in eine unbekannte Stadt, seine erste Anstellung, seine ersten Verantwortlichkeiten, Lust, die Partie mit vollem Einsatz zu spielen, zu begeistern, zu überzeugen, zu gewinnen.
Taxi. Daquin nennt eine Adresse: 80 Quai du Port, die Wohnung gehört einem Studienfreund namens Porticcio, ein Marseiller, in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um seinen Beruf als Anwalt auszuüben, er überlässt sie ihm für die Dauer seines Praktikums in New York.
»Du hältst sie während meiner Abwesenheit in Ordnung, damit hast du ein Jahr, um zu sehen, ob du dich in Marseille akklimatisierst. Ich will nicht pessimistisch sein, aber das ist keine ausgemachte Sache. Wart’s ab.«
Das Taxi hält am Vieux-Port, ein großes, sehr belebtes Hafenbecken, überall Boote, Fischerboote, Segeljollen, kleine Frachtkähne in lärmendem Durcheinander, mitten in der Stadt. Nach außen begrenzen das Becken zwei mittelalterlich anmutende Wehrtürme, aufgefrischt durch Vauban. Daquin sucht das Meer und kann es nirgends sehen. Er dreht sich um. Seine Wohnung befindet sich in diesem langgezogenen Gebäude aus schönem Sandstein, strikt moderne Architektur, gepflegte Fassade, er ist begeistert.
Er steigt hoch in die dritte Etage. Er stellt seinen Koffer im Dunkeln ab, öffnet die Stores, vor ihm eine nach Süden gelegene Loggia, sonnenüberflutet, zu seinen Füßen der Vieux-Port mit seiner Geräuschkulisse, die Quais wie Perlenschnüre aus Terrassen, Bars, Restaurants, Nachtclubs, dahinter die Hügel von Marseille, die Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde und ein riesiger Himmel. Ein Anblick, an dem man sich bestimmt nicht sattsieht, eine Szenerie, die tatsächlich das Aroma von Glück haben könnte. Er wendet sich um: Das Wohnzimmer, in gebrochenem Weiß gestrichen, helles Parkett, ist sehr schlicht eingerichtet mit einem großen Bauerntisch aus dunklem Holz, flankiert von zwei Bänken. In der Salonecke Sessel und Sofa aus weichem Leder, ein Couchtisch aus gebürstetem Stahl. In einem Bücherschrank ein paar Bücher, ein Hifi-Turm, stapelweise Schallplatten und Kassetten. In der kleinen, übertrieben ausgestatteten Küche registriert Daquin das Vorhandensein zweier Kochbücher. Das Bad gefliest mit Émaux de Briare-Mosaiken in Grau- und Blautönen. Im Schlafzimmer eine Schrankwand mit Schiebetüren und ein riesiges, einladendes Bett. Daquin lächelt, Erinnerung an gewisse Kneipentouren mit Porticcio, mehr oder weniger kontrollierte Entgleisungen während ihrer Studienzeit, unmittelbar nach ’68. Eine Sexszene, für die komplette Dauer einer besonders langweiligen Vorlesung zu zweit in die Projektionskabine eines Unihörsaals gepfercht, und der Filmvorführer sah ihnen zu und setzte mit einer Hand seine Arbeit fort, während er sich mit der anderen einen runterholte. Er meint bis heute zu spüren, wie sich die Eisenteile des Projektors in seinen Rücken bohren. Der Aufenthalt in Marseille lässt sich gut an.
Daquin hält sich nicht lange auf. Sobald er seinen Koffer ausgepackt hat, geht er in das erste Bistro, über das er in dem alten Viertel gleich hinter seinem Haus stolpert, schlingt ein Sandwich hinunter und eilt zum Évêché, dem ehemaligen Bischofspalast, heute Sitz des Zentralkommissariats von Marseille. Der Bau beherbergt auch den SRPJ, die Regionaldienststelle der Kriminalpolizei, der er zugeteilt ist, er hat es eilig, Kontakt aufzunehmen, die Luft dort zu schnuppern. Zehn Minuten Fußweg durch ein Labyrinth aus steil ansteigenden, ärmlichen Gassen, dann kommt er bei einem Ensemble imposanter Gebäude heraus, in dem sich das eher Moderne mit dem sehr Alten mischt. Nach einigem Umherirren in einem Netz wenig frequentierter Flure und Treppen findet er schließlich die Büros der Kriminalpolizei, im dritten Stock des einstigen Palasts, wo eine Handvoll Inspektoren in nahezu menschenleeren Räumen zugange sind. Daquin wendet sich an einen, der ihm ein wenig Autorität zu haben scheint, stellt sich vor. »Commissaire Daquin, ich bin frisch hierher versetzt, ich trete meine Stelle morgen an und wollte mich schon mal umhören …«
»Sie kommen gerade recht. Ich bin Inspecteur Principal Courbet von der Kriminalabteilung. Wir hatten gerade einen Anruf von der Quartierspolizei, Schießerei im Viertel Belle de Mai, zwei Tote, wir müssen hin. An einem Sonntag zur Mittagsessenszeit, bei sonnigem Wetter und gutem Schnee in den nahen Bergen sind wir nicht viele, wie Sie sehen. Ich lasse zwei Inspektoren hier, um die Erreichbarkeit zu gewährleisten, und nehme Sie im Patrouillenwagen mit zum Tatort. Passt Ihnen das?«
»Das passt mir sehr gut.«
Im Wagen, der mit angemessener Geschwindigkeit fährt, heulende Sirenen fürs Standing, ist die Stimmung entspannt und der Pariser wird freundlich aufgenommen. Schüsse, zwei Tote, das scheint niemanden groß zu beunruhigen. Daquin sieht das Belle de Mai-Viertel vorüberziehen. Breite Durchgangsstraßen, quasi ausgestorben, Zeilen mit ärmlichen Einfamilienhäusern, hier und da durchbrochen von schnell hochgezogenen Sozialwohnungsblocks, Brachflächen, ein paar wenige Billigläden, er hat das Gefühl, ein Katastrophengebiet zu durchqueren. Ein ganz anderes Gesicht von Marseille.
Die Kreuzung der Boulevards Guigou und Burel ist blockiert durch einen Auflauf von Polizisten und Schaulustigen. Auf der Fahrbahn ein roter Simca mit zersplitterten Scheiben und verschrammter Karosserie.
Courbet parkt den Wagen und geht zu den Polizisten, die den Évêché alarmiert haben. Der stellvertretende Staatsanwalt und der Gerichtsmediziner sind noch nicht eingetroffen, die Kriminalpolizei ist als Erste vor Ort, sie hat Reaktionsschnelligkeit bewiesen, darum geht’s. Daquin nähert sich dem Kantstein, beugt sich hinunter. Im Innenraum zwei von Kugeln durchsiebte Körper, alles zerfetzt, blutgetränkt, übersät mit Glasscherben und Blechstücken. Der Fahrer, oder was von ihm übrig ist, wirkt wie ein eher reifer Mann, seinem Beifahrer wurde das halbe Gesicht weggeschossen, sein lebloser Körper hat die Anmut der Jugend. Die Quartierspolizisten erstatten Bericht. Ihren Verletzungen nach zu urteilen, wurden die beiden Opfer mit einem abgesägten Gewehr, wahrscheinlich einer Schrotflinte, unter Beschuss genommen und dann aus nächster Nähe mit einer großkalibrigen Kugel in den Kopf getötet. Die Zeugen, nicht viele, haben wenig gesehen: Der Simca sei gemächlich den Boulevard Guigou entlanggerollt, vom Boulevard Burel kam ein anderer Wagen, schnitt ihm den Weg ab, der Simca hielt an, dann näherten sich zwei Fußgänger, die wohl auf dem Gehweg gewartet hatten, schossen und fuhren mit dem Wagen weg, der die Kreuzung blockierte.
Marke? Farbe? Niemand weiß es. Wie die beiden Fußgänger ausgesehen haben? Durchschnittliche Größe, Regenmäntel, Hosen, ansonsten … Der Gerichtsmediziner trifft ein. Er hilft zwei Inspektoren bei der Durchsuchung der Leichen, wobei er es möglichst vermeidet, sich mit Blut zu besudeln. In der Gesäßtasche des Fahrers sein Führerschein.
Ein Inspektor verkündet mit lauter Stimme: »Marcel Ceccaldi.«
»Ceccaldi!« Courbet stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus. »Den sind wir also los …« An Daquin gewandt: »Ein Mann von Francis le Belge, wir hatten ihn ein Dutzend Mal bei uns. Es handelt sich demnach um eine Abrechnung innerhalb des Milieus. Ich warte auf den stellvertretenden Staatsanwalt, aber damit ist die Sache erledigt. Der Fall wird Richter Bonnefoy übertragen, der uns mit der Ermittlung betraut. Die Täter werden wir nicht finden, es dürften italienische Auftragsmörder sein, die längst wieder zu Hause sind. Und niemand wird sich darum scheren.«
»Und der Junge?«
»Unbekannt, fürs Erste. Wahrscheinlich ein Kollateralopfer. Soll ich Sie zurückbringen lassen?«
»Nicht sofort. Ich würde mich gern in der Gegend umsehen. Ich fahre dann mit Ihnen zurück zum Évêché.«
»Wie Sie wollen.«
Daquin geht einmal um die Kreuzung herum. Die Ecke ist verwaist, keine Läden, keine Bars. Erst hundert Meter weiter oben auf dem Boulevard Burel sichtet er den Parkplatz eines Gebäudes, ein paar Wagen, die vor einem Sozialwohnungsblock parken, und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig eine Telefonzelle. Auf der Fährte des roten Simcas läuft er den Boulevard Burel etwas mehr als einen Kilometer hoch. Er kommt an einer einzigen Bar vorbei, etwa achthundert Meter von der Kreuzung entfernt. Als er eine weitere Telefonzelle erreicht, dreht er um und kehrt zurück zu seinen Kollegen am Ort des Massakers.