Menschenversuch

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Monika Landau

Dieter Brumm

Peter Völker

MENSCHENVERSUCH

Kollage-Roman

(nach einer Idee von Peter Völker)

Titelbild und Bild Innenteil: „Milchstraße“

© Timor Oliver Chadik (Satzvey)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. umfangreich überarbeitete Auflage

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Ich halte es mit dem Mythos von Sisyphos von

Camus, daß der Stein nie oben liegen bleibt.

Nichts hasse und fürchte ich mehr als

Ideologien, die mir einen Endzustand, den

glücklichen Menschen, beschreiben. Was die

Literatur betrifft, so hoffe ich, daß sie wieder

subversiver und anstößiger wird.

Günter Grass

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zitat

I Sinnestäuschung

Unfall-Begegnungen

Chaos, Schöpfung, Liebe

Auto(r) – Erfahrungen (1)

Alphas Göttertraum

II Götterbilder – Alphas Wahl

Baumhaus

Anna

Atomfuchs

Lachsprobe

III Einsichten in Überlebensfragen

Die Flucht des Autors (2)

Zukunft im Dichterstreit

Lebenslicht oder Karl Ernst im Koma

Karrieregänger

Tauschwert eines Arbeiters

Narrenfront oder Eine Autoren-Kindheit

Knochenfisch

Blinde Zeiger Autoren-Recherche im fremden Land (3)

Leibeigene

Feigheit zählt oder Die erste Lehre des Autors

Rebellion

Totenholz

Entsorgungen Der Autor findet eine Spur (4)

Lea und der Ochsenfrosch - Werdegang des Autors

Alpträume um Anna

IV Auftrag der Göttin

Schicksalswächter

Selbst-Gespräch der Erdbewohner

Nebelgrenzen - Der Autor erfährt mehr über einen Mord (5)

Blumen des Bösen - Werdegang des Autors (II)

Wendezeit (6) oder das Scheitern des Autors

Götterdämmerung

Wiedergeburt

Lebenshilfe

Autoren

I
SINNESTÄUSCHUNG

Noch vor Himmel und Erde war als

allererstes das Chaos da, das »Gähnen«, der

leere Raum. Aus dem Chaos heraus entstand

die Nacht, aus der Nacht der Tag und der

Lichterglanz des Äthers, und Gaia, die Erde,

schuf aus sich heraus den Himmel, die

Gebirge und das Meer.

Hesiod

UNFALL-BEGEGNUNGEN

Der Börsenmakler und notorische Linksfahrer, Karl Ernst, schoss mit seinem Sportwagen über die Autobahn Richtung Süden. Im Zwielicht dieses trüben Morgens kniff er die Augen zusammen. Seine Wangenmuskeln tanzten im hageren Gesicht, spiegelten die Nervosität, die er im Börsenalltag immer unterdrücken konnte. Im Laufe der Jahre wird diese Anspannung für andere sichtbar. Zeit für Börsenmakler, die Karriere zu beenden, denn das Sichtbare, das Reale ist Gift für die Spekulation.

Karl, dessen Blick durch Raum und Zeit zu dringen schien, war eine bekannte Größe, ab und zu Gast in Harrys Bar, dem Heiligtum der Börsenmakler und mit den Gedanken bereits bei einem neuen Geschäft. Ein gigantischer Deal wartete auf ihn und er versuchte, seine Strategie akribisch innerlich durchzuspielen. Mit den Fingern tippte er nervös am Lenkrad seines Wagens. Abends würde er, um einiges wohlhabender, mit Doris, Katja oder Antje joggen, squaschen und mehr, um seinen drahtigen Körper für neue Kontrakte und Kontakte fit zu halten.

Die Autobahn war in diesen frühen Stunden schwach befahren. Die Nacht über hatte es gefroren. Bäume und Sträucher am Rande waren mit Raureif überzogen, ohne dass Karl daran Gefallen fand. Und während das Autoradio Popmusik verströmte, schoben sich dunkle Schneewolken zusammen. Karl verspürte Lust auf einen Kaffee und entschloss sich zu einem Stopp an der nächsten Raststätte. Es war die letzte Möglichkeit vor dem Autobahnkreuz am Westrand der Stadt. Karl, fest auf die geplante Finanzaktion konzentriert, hätte die Ausfahrt fast verpasst. Er bremste scharf, schlitterte in die Ausfädelspur. Als er ausstieg, fröstelte ihn. Nur mit einem grauen Maßanzug bekleidet ging er rasch in das Restaurant.

Eine wohlige Wärme schlug ihm entgegen. Kaffee-, Gebäck- und süßer Menschengeruch hing in dem Raum. Karl holte sich am Tresen ein Kännchen Kaffee und steuerte den letzten freien Tisch an. Beim Bezahlen hatte er der Kassiererin zugelächelt und für ein paar Sekunden seinen Auftrag vergessen. Karl, der im Warentermingeschäft ebenso Zuhause war wie im Aktien- und Devisenhandel, liebte Frauen, wenn auch meistens nur für kurze Zeit.

An abgewetzten Tischen, die schon Tausenden von Durchreisenden gedient hatten, saßen die meisten still versunken. Nur in der Schlange an der Theke tauschten einige Worte aus. Und doch lag eine eigenartige Stimmung im Raum. Raststätten an Autobahnen sind mystische Orte. Da begegnen sich Fremde oft nur für Minuten, streifen sich in Gedanken, berühren sich für einen winzigen Augenblick der Geschichte. Anders als an Bahnhöfen, Flughäfen und Häfen sind die Menschen nicht vom Ziel ihrer Reise beseelt, sondern vom Moment der Rast, gönnen sich kurz Ruhe, horchen eher in sich hinein, so als hielten sie auch im Kopf inne und wollten das Erreichen des Ziels hinausschieben.

Eine abwesend dreinschauende Bedienung mit schmutziger Schürze wollte Karls Tasse abräumen. Er machte sie unwirsch auf deren Inhalt aufmerksam. Er hasste Unachtsamkeiten, vor allem gegen ihn gerichtete. Sie drehte sich wortlos um, verschwand hinter dem Tresen. Kurz darauf holte sich Karl einen zweiten Kaffee. Als er zum Tisch zurückkehrte, hatten zwei Männer Platz genommen, was er innerlich mürrisch, äußerlich aber gelassen hinnahm. Er setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, der ihm den Blick nach draußen ermöglichte. Durch die leicht beschlagenen Scheiben des Restaurants beobachtete er das Schneetreiben. Von Minute zu Minute dichter trudelten die Flocken durch den Morgen, ab und zu von einer Böe aufgeschreckt. Da sein Termin erst für den späten Nachmittag geplant war und das Drehbuch hierfür feststand, störte ihn das Schneetreiben nicht. Er würde, wie immer, pünktlich zur Stelle sein.

 

Die Männer am Tisch redeten zunächst nicht miteinander. Der rechts neben Karl, etwa vierzig Jahre alt, mit kugeligem Bauch, kleinwüchsig und rundem rötlichen Gesicht, in dem zwei schlaue Augen blitzten, nippte trotz der frühen Stunde an einem Bier. Um seine schmalen Lippen spielte ein zufriedenes Lächeln. Der Zweite, schlaksig, um die fünfzig, mit dunkelblonden, leicht angegrauten Haaren, braunen Augen und schmutzigen Fingernägeln, blätterte in einem Magazin, versank in einem Skandalartikel.

Was keiner am Tisch wusste: ein Autor tankte draußen seinen Wagen, Wind und Schnee hart im Gesicht. So schnell wie möglich wollte er seiner Arbeit entfliehen, die ihn seit Jahren zermürbte. Hektische Recherchen, die in unfreiwilligen Mischungen aus Wahrheit, Halb- und Unwahrheiten mündeten, hatten ihre Spuren auf und unter seiner Haut hinterlassen. Karl sah ihn vage von hinten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Innere des Restaurants lenkte, hatten die beiden anderen ein lockeres Gespräch aufgenommen: Unterhaltungen, wie sie in Raststätten täglich tausendfach stattfinden. Der kleine Rundliche war auf Dienstreise, musste irgendetwas mit atomarer Entsorgung zu tun haben, während der Schlaksige offensichtlich in der Chemieindustrie arbeitete. Die Wortfetzen, die Karl aufnahm, interessierten ihn nicht, obwohl diese Wirtschaftszweige gute Dividenden abwarfen. Aber am Nachmittag ging es um Devisen und nicht um Aktien. Karl konzentrierte sich immer auf das Jetzt. Das Gespräch der Zwei blieb auch zu oberflächlich, weckte seinen Börseninstinkt nicht. Die Kellnerin räumte die leeren Tassen von Karl teilnahmslos ab; ein Zeichen zum Aufbruch. Er verließ wortlos Tisch und Restaurant.

Der Schneewind tobte jetzt heftig und Karl hastete mit zusammengekniffenen Augen, den Blick nach unten gerichtet, zum Parkplatz. Kurz vor dem Wagen prallte er mit einem Mann zusammen, der tief gebeugt zur Raststätte wollte. Der Stoß war so kräftig, dass beide fast auf den glatten Asphalt geschleudert worden wären. Eine Katastrophe für Karl, denn kein zweiter Anzug war parat. Und der Kauf eines neuen hätte ihn in eine gewisse Zeitnot gestürzt, was Karl hasste – ebenso wie Leute, die seine Pläne durchkreuzten.

Karl dachte nicht mehr an seine Strategie für den Nachmittag. Die Schneeflocken fielen so dicht, dass er sich auf das Fahren konzentrieren musste. Äußerst vorsichtig, was sonst nicht seine Art war, schlich er mit seinem 120 PS-Sportwagen zur Ausfahrt; geschickt drängelte er sich auf die Fahrbahn. Er hatte ja nur noch zwanzig Kilometer zu seinem Ziel. Die Straße war mit einer festgefahrenen Schneedecke überzogen.

Einmal in der weit gestreckten Autokolonne erwachte Karls Abenteuerlust. Er wechselte zur linken Spur und beschleunigte kontinuierlich. Sein Jagdtrieb, mit einer gewissen Lust an Gefahr für sich selbst gespickt, nahm Besitz von ihm. So fuhr er im Morgengrauen auf das große Autobahnkreuz zu. Die graue Trabantenstadt, die sonst östlich von der Autobahn auftaucht, blieb an diesem Tag ebenso hinter den weißen Schleiern verborgen wie die vielen Einzelschicksale der dort lebenden Menschen.

Die Tachonadel hatte 100 km/​h längst überschritten, als der Straßenbelag abrupt wechselte. Ein Streufahrzeug hatte den harten Schneebelag in eine matschige Unterlage verwandelt. Karl registrierte dies zu spät. Wie aus dem Nichts tauchte vor ihm eine dunkle Wand auf; ein mit Langholz beladener Schwerlaster. Dem sonst so trickreichen und reaktionsschnellen Karl blieb keine Chance. Sein hilfloser Bremsversuch stellte den Wagen quer, schleuderte ihn mit der ganzen Wucht seiner mittlerweile 130 km/​h gegen die rechte äußere Stoßstange des querstehenden Lasters. Karl, der sich selbstsicher nicht angeschnallt hatte, löste sich vom Sitz, und sein Körper wurde durch die rechte, vom Aufprall aufgerissene Tür katapultiert. Für Bruchteile von Sekunden nahm er nur noch sanftes Rauschen und bunte Bilder wahr, dann schlug er mit der Stirn gegen die Leitplanke. Regungslos lag er mit seinem eleganten Flanellanzug in einem schmutzigen Schneehaufen, den das Räumfahrzeug am Rande der Trasse aufgeworfen hatte. Augen und Mund waren weit geöffnet. Sein so stolzes Bewusstsein hatte ihn verlassen; äußerlich kaum gezeichnet wirkte er wie ein Schlafender. Nur die Bluttropfen, die aus Ohren, Nase und Mundwinkeln in den Schnee tropften, verrieten seinen Zustand.

Die Stämme auf dem Holzlaster hatten sich beim Aufprall leicht verschoben, ächzten einen Moment, als seien sie aufgewacht und erschrocken. Aus einem dieser Stämme hing aus einem Astloch eine Orchidee, die die lange Seereise und den Frost nicht überlebt hatte, verwelkt herab. Auf Karls grauen Anzug schwebten Schneeflocken, legten sich sachte ab, als wollten sie ihn vor der Kälte schützen. In diesem Augenblick näherte sich ein weiterer Lastzug der Unfallstelle. Der Fahrer, in dem Schneegestöber chancenlos wie Karl, schleuderte mit seinem Gefährt beim Bremsen. Zugmaschine und Anhänger kippten donnernd auf die Seite. Die Planhülle des Hängers gab ihre Fracht frei: aus aufgeplatzten Kartons klatschten rötliche Lachsscheiben, eingeschweißt in flache Plastiktüten, in den Schnee, verließen ihren dunklen Käfig, als suchten sie noch einmal die Freiheit der klaren Gewässer ihrer Jugend. Eine dieser Plastiktüten huschte auf Karls Gesicht zu, touchierte seine Nase. Auf die Lachstüte tropfte Karls Blut.

Eine Frau mittleren Alters, begleitet von zwei jungen Männern, erreichte zuerst den leblos wirkenden Körper. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Wäre Karl nicht bewusstlos gewesen, hätte er in zwei tiefschwarze, rebellische Augen gesehen. Sie ertastete seine Halsschlagader. »Esta viviendo!«, rief sie aus. Schnell verständigte sie sich mit den beiden Männern und ihr Gesicht hellte sich auf. Die Frau legte dem Börsenmakler die Hand auf die Stirn. Der eine der beiden Männer organisierte eine Wolldecke, der andere rannte an der Autoschlange entlang, auf der Suche nach einem Mobiltelefon. Wenige Minuten später ertönte die Sirene eines heraneilenden Krankenwagens. Karl Ernst wurde vorsichtig auf eine Trage gebettet, dann bahnte sich das Rettungsfahrzeug den Weg durch die Autoschlange und das Schneetreiben. Andere Menschen waren nicht zu Schaden gekommen.

Nach einer Stunde hatte man auch Karls Sportcoupé und den umgestürzten Lastzug geborgen, die Lachsscheiben wieder in ihre Kartons verbannt. Die Frau mit ihren Begleitern setzte ihre Reise fort, ebenso der Lastzug mit Tropenhölzern, der kaum eine Schramme abbekommen hatte. Schließlich passierten auch die beiden Männer aus der Raststätte, die sich an Karls Tisch unterhalten hatten, die Unfallstelle. Den blutigen Schnee am Rande der Autobahn nahmen sie nicht wahr. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Am Autobahnkreuz hatte sich die Verkehrslage entspannt. Schnee fiel nicht mehr. Menschen, tote Baumriesen und filierte Lachse, die sich für kurze Zeit gestreift hatten, verloren sich wieder südlich des Kreuzes, strebten ihrem Ziel entgegen.

Karl lag, immer noch ohne Bewusstsein, bereits auf der Intensivstation der Unfallklinik zwischen Autobahnkreuz und Stadt. Das Personal hatte ihn anhand seiner Visitenkarte identifiziert und sein Büro verständigt. Seine Sekretärin wirkte zunächst verzweifelt, doch nach kurzer Zeit besann sie sich, sagte alle Termine für die nächsten Wochen ab, auch die privaten. Nur die dollarschweren Devisenspekulanten, die für den späten Nachmittag aus Übersee erwartet wurden, konnte sie nicht mehr aufhalten. Was mit ihnen geschehen sollte, würde sich finden. Schließlich war sie perfekt ausgebildet und im Umgang mit kniffligen Situationen seit Jahren geübt.

Zwischen Schläuchen, Kanülen und Infusionsgestellen wirkte der sonst so strahlende und selbstbewusste Börsenmakler hilflos und abhängig. Seine Gesichtszüge waren jedoch entspannt. Die vielen medizinischen Geräte und Monitore erinnerten eher an den Leitstand einer Rakete als an eine Krankenstation, in der um Leben und Tod von Menschen gerungen wird. In dieser technisch perfekten Welt gab es kaum Körperkontakte. Die Pfleger und Schwestern beobachteten ihre Patienten hinter Glas aus Kabinen heraus. In Karls Krankenblatt, das am Fußende des Bettes baumelte, hatte der Oberarzt der Station einen doppelten Schädelbasisbruch diagnostiziert. Die Oberschwester kontrollierte die Linien auf den Monitoren. Puls und Blutdruck hatten sich stabilisiert. Was Oberschwester Margret Sorgen bereitete, waren seine Gehirnströme. Bizarre Ausschläge auf dem Elektroenzephalograph machten sie stutzig, da sie nicht mit seiner schweren Kopfverletzung in Verbindung stehen konnten.

Körper und Geist Karls hatten sich vorerst getrennt, lebten parallel dahin. Gesteuert von elektrischen Maschinen und medikamentös gedopt harrte Karls Körper aus. Sein Geist pendelte zwischen Körper und Außenraum, unschlüssig wohin er sich wenden sollte. Dabei emanzipierte er sich immer mehr von Karl – über Geburt und Tod hinaus in die unendliche Spirale zwischen Anfang und Ende. Oberschwester Margret und der hinzu gerufene Oberarzt erkannten zwar die immer intensiveren Schwingungen auf ihren Monitoren, vermochten sie aber nicht zu deuten. Losgelöst vom Fleisch fing Karls Geist an zu träumen: sein Lebenslicht.

CHAOS, SCHÖPFUNG, LIEBE

Alpha füllte allein sich und die dunkle Welt aus. Omnipotent vereinigte sie in sich Alles und Nichts, Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit. Zeit und Raum, Energie und Materie existierten noch nicht, nur Alpha. Einsam strömte sie durch sich selbst, doch dies Ineinander von Allwissenheit und Ewigkeit befriedigte sie schon lange nicht mehr. So erwog sie neue, unbekannte Initiativen. Zunächst versuchte sie zaghaft Gefühle aufzuspüren, denn Leid, Freude, Liebe, Hass, Wonne und Schmerz hatte sie noch nicht erfahren. In ihr erwachte Forscherdrang. Zug um Zug entfaltete sie den Fächer des realen und geistigen Empfindens. Immer mehr verließ sie den Zustand bloßen Seins.

So begann sie, in ihrer Geisteswelt mit Experimenten. Schon recht einfache Erfolge, wie beispielsweise das Denken der Schwerkraft oder der Hebelgesetze befriedigten sie zutiefst. Mit göttlicher Akribie und Leidenschaft ging sie daran, ihr Werk zu vervollkommnen. Sie erdachte Gesetze der Chemie, der Physik und der Biologie bis ins winzigste Detail. Immer wieder spielte sie die neuen Gesetze unendlichfach durch, prüfte sie, verglich sie auf ihre Wechselwirkungen untereinander. In ihrer besessenen Reflexion entstand ein perfektes Gebäude theoretischer Existenz neben ihrem Geist. In diesem Kraftpunkt, der im Vakuum des Nichts ruhte, hatte sie alles angelegt: die Elemente und ihre Verbindungen, die Quellen des Lebens, die Staubpartikel wie das gesamte Universum. Stille umgab Alpha und ihre Schöpfung.

Alpha war von nun an nicht mehr allein. Neben und in ihr existierte das Ergebnis ihrer schöpferischen Kraft, freilich noch unfassbar. Intellektuell begriff sie ihre Schöpfung, ließ nicht mehr von ihr ab, war unruhig. Fasziniert blätterte sie immer intensiver in den von ihr erdachten Gesetzen, ließ Fragmente vor ihrem geistigen Auge auftauchen und wieder verschwinden, experimentierte fleißig, genoss die erfolgreichen theoretischen Spiele. Sie, die bislang nur an Einsamkeit gewöhnt war, fühlte sich bereichert, obwohl alles aus ihr selbst entsprang. Fast unmerklich wuchs ein Gefühl in ihr, nahm sie zunehmend in Besitz: die Allmächtige verliebte sich in ihre Schöpfung, in diesen winzigen Punkt des Universums, vollgestopft mit göttlicher Erkenntnis und Energie. Sie liebkoste und behütete ihn, ließ ihn nicht mehr aus dem Sinn. Forscherdrang und andere Gefühle spielten keine Rolle mehr. Blind erlag sie dieser Liebe zu ihrem Kind.

Da in ihrer Schöpfung auch die Grundlagen des Lebens angelegt waren, hätte sie eigentlich erkennen müssen, dass sich Leben nicht festlegen lässt und einen unzähmbaren Drang zur Freiheit entwickelt. Von abgöttischer Liebe erdrückt, strebte das Geliebte nach Emanzipation. Alpha musste im Stolz ihres Schaffens, einen Moment unachtsam gewesen sein. Dieser winzige, nicht vorausgesehene Fehler sollte Folgen haben. Denn je erobernder sie ihr Werk umschlang, desto deutlicher bauten sich Spannungen im Urpunkt auf. Aber sie vernahm den stillen Schrei nach Freiheit nicht. Zu sehr war sie auf sich selbst fixiert. So wurde sie schließlich, geblendet und zu spät, vom Beben des Energiefeldes überrascht, ohnmächtig einzugreifen. Unendliche Energiemengen platzten ins Nichts, drifteten nach Außen, verließen den Zustand höchster Symmetrie. Im Getöse des Urknalls bildete sich im physikalischen Vakuum in einer Kette von Zyklen der Selbstorganisation in wenigen Minuten zunächst das Urplasma, ein Zeit-Raum-Schaum.

 

Die Expansion der Metagalaxis war eingeleitet. Dann, beim Verlassen des Vakuums, strömte Gas, die Urmaterie, durch die Metagalaxis. Unaufhaltsam blähte sich die Urblase auf, Zeit- und Raumsymmetrie wurden nacheinander gebrochen, die Urmaterie strukturierte sich in Galaxien, einem Zeitpfeil folgend. Der von homogener Strahlung ausgefüllte Kosmos war geboren. Blitzartig hatte sich die Materie in Existenz geschleudert, expandierte, ausgestattet mit der Fähigkeit zur Erneuerung, mit kreativen Potenzen. Das Weltall war ausgefüllt mit Materie und Energie, aber noch ohne Leben geboren.

Fassungslos erstarrt nahm Alpha diesen Urschrei der Materie in sich auf. Es dauerte Milliarden Jahre, bis Alpha sich von diesem Schreck einigermaßen erholte, wieder andere Gedanken zuließ. Bis dahin fremde Gefühle breiteten sich in ihr aus: Angst, Wut und Hass brodelten in ihr, kämpften einen unerbittlichen Krieg mit der Liebe, der nie zu enden schien. Und wieder vergingen Äonen, bis Alpha ihre Gefühle kontrollieren konnte. Die Liebe hatte zwar triumphiert, aber Angst, Wut und Hass waren nicht endgültig besiegt, sondern lauerten in den Nischen ihres Bewusstseins auf einen Ausbruch. Traurig ließ sich Alpha durch das Universum treiben, begann vorsichtig zu überlegen, wie der vertraute Urzustand rekonstruiert werden könnte.

Mit der gleichen Verbissenheit wie einst, ging sie ans Werk, ihre Schöpfung auf sich selbst zurückzuführen. In allen Dimensionen versuchte sie krampfhaft, die universale Explosion in Implosion umzukehren. Sie raste an die Grenzen von Raum und Zeit, begann ganze Galaxien einzusammeln, legte Materiefallen in Form schwarzer Löcher aus. Nichts half. Im Zentrum investierte Energie fehlte an der Peripherie des Universums und umgekehrt.

Mit dieser Sisyphusarbeit verbrachte Alpha einige Milliarden Jahre, bevor sich Zeichen von Erschöpfung einschlichen: fast all ihre Energie war aufgebraucht. Gezeichnet vom erfolglosen Versuch, ihre Liebe zurückzuerobern, musste sie sich eine Ruhepause gönnen, ihren schöpferischen Akkumulator auffüllen. Ihre letzten Kräfte mobilisierend, zog sie sich aus der Weite des Kosmos zurück, sammelte sich am Rande einer Milchstraße. Da fiel ihr ein kleines Gestirn in dieser Galaxie auf, bläulich-weiß schimmernd, mit braunen Flecken, umgeben von geheimnisvollem Licht. Dieser wundersame Planet zog sie an. Sie war nicht enttäuscht, als sie den Himmelskörper erreichte. Feuchte Wärme strömte ihr entgegen, machte sie noch schläfriger als zuvor. Sie entschloss sich, hier auszuruhen, legte sich wie eine zweite Haut um die Gashülle des Gestirns und vergaß Chaos und Kosmos.

In Alphas allumfassenden Augen spiegelten sich Meere und Berge, Eiskappen und Urwälder, aber auch Ansammlungen für sie seltsamer Kästen. Wie im Traum – vielleicht war es schon ein Traum? – konzentrierte sich ihr Blick auf eine solche Ansammlung, durchdrang den nebligen Rauch und bemerkte zahllose, mechanisch sich auf grauen Bändern fortbewegende Gestalten ohne Glieder, von denen offenbar dieser Dunst ausging. Und sie sah andere Wesen, die auf zwei Beinen gingen und in Kästen verschwanden. Die undurchschaubaren Bewegungen ermüdeten sie endlich so sehr, dass sie einschlief.