Czytaj książkę: «Zwang zu töten», strona 3

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Kapitel 6

Polizeipräsidium, Büro der MK, 17:55 Uhr

Es ging auf achtzehn Uhr zu, aber es war nicht ungewöhnlich, dass sich die Mitglieder der MK bei einem aktuellen Fall um diese Zeit noch in den Diensträumen aufhielten oder, wie heute, gerade erst wieder zusammenfanden, wenn sie von verschiedenen Ermittlungsorten zurückkehrten.

Obwohl Fisch den gesamten Nachmittag auf der Dienststelle vor seinem Computer verbracht hatte, war er der Erste, der an den Kühlschrank neben der Kaffeemaschine ging und sich ein „Feierabend-Bier“ herausholte.

„Noch jemand?“, rief er in den Raum, aber außer einem: „Ja, ich bitte“, von Harry erntete er nur Kopfschütteln. Die anderen drei versorgten sich mit Kaffee und setzten sich an den Besprechungstisch.

„Fangt ihr bitte an“, forderte Auer Duben und Harry auf, während er sich noch Milch und Süßstoff in den Kaffee einrührte. Es wunderte ihn nicht, dass Gerd Duben das Wort ergriff, denn obwohl Harry den höheren Dienstgrad hatte, war es Duben, der eloquenter war und in der Lage, sachlich und auf den Punkt die wichtigsten Fakten zu schildern, ohne ins Schwafeln zu kommen.

„Ich muss ehrlich sagen, dass ich so was noch nie erlebt habe wie in dieser Werbeagentur. Wir beide nicht, oder?“, er blickte zu Harry, der nur wortlos nickte. „Von den sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Opfers waren lediglich zwei Frauen betroffen, die anderen fünf waren richtiggehend happy und erleichtert, dass der, Zitat: ‚Despot endlich weg ist!‘. Zitat Ende. Auf jeden Fall hat niemand ihm eine Träne nachgeweint. Er muss ein echter Tyrann gewesen sein, der weder Widerspruch geduldet noch eine andere Meinung als seine eigene akzeptiert hat. Er hat zwar die Agentur aus dem Nichts heraus aufgebaut und groß gemacht, aber dennoch hielt sich die Dankbarkeit der Mitarbeiter für ihre lukrativen Arbeitsplätze sehr in Grenzen. Also könnte man bei diesen Personen schon jemanden dabeihaben, der ein Motiv für einen Mord hat, auch wenn ich jetzt noch niemanden definitiv benennen könnte.“

Er machte eine kurze Pause und trank ein wenig von seinem Kaffee. Dann blickte er kurz auf seine Notizen, bevor er fortfuhr: „Bei einer Mitarbeiterin hatte ich zuerst so ein Gefühl, eine gewisse Katrin Günther, weil sie so unsäglich erleichtert schien, aber im Laufe des Gesprächs hat sich herausgestellt, dass er ihr gestern gekündigt hatte und sie lediglich Angst vor einem extrem schlechten Zeugnis hatte. Am meisten aufgestoßen ist mir die Art eines gewissen“, er blickte erneut auf seine Notizen, „Heinz Meiser, der seine Freude und Zufriedenheit weder verstecken konnte noch überhaupt wollte. Er muss Kellermann regelrecht gehasst haben, obwohl er sein zweiter Mann in der Agentur war. Da werden wir noch mal genau nachhaken müssen, woher dieser Hass auf seinen Chef kam. Die Kollegen wollten auch nicht damit rausrücken. Ich gebe Fisch gleich alle Namen und Daten der Personen, dann kann er mal sehen, ob er über die was rausfinden kann.“

Fisch verzog das Gesicht angesichts der auf ihn zukommenden Arbeit, kommentierte die Ausführungen aber nicht.

„Ach ja, eines habe ich noch vergessen“, meldete Duben sich noch einmal zu Wort. „Raimund Kellermann muss eine erhebliche Macke gehabt haben, zumindest, wenn man den Aussagen der Beschäftigten Glauben schenken darf. Er muss wohl ständig bei Besprechungen Notizen zu den einzelnen Mitarbeitern gemacht haben und dabei gezählt haben, wer welches Wort wie oft gesagt hat oder wer sich wie oft am Kopf gekratzt hat und ähnliche Sachen. Ich weiß nicht, ob das für uns von Bedeutung sein kann, aber ich wollte es zumindest mal erwähnen.“

„Danke, Gerd“, schaltete Auer sich sofort ein, „du hast recht, es ist auch von Interesse, allerdings haben wir dazu von der Ex-Frau noch einiges mehr erfahren.“

In den folgenden Minuten schilderte er das Gespräch mit der Ex-Frau in allen Einzelheiten, wobei Coco ihm teilweise mit fachlichen Ergänzungen zu der genannten Zwangsstörung zu Hilfe kam.

„Dann wäre es wohl sicherlich eine gute Idee“, merkte Duben an, „wenn wir versuchen herauszufinden, ob und wo er in Behandlung war.“

„Die Ex-Frau hat behauptet, er habe eine Behandlung abgebrochen, aber sie wisse nicht, bei welchem Arzt das gewesen ist“, erinnerte sich Auer.

„Das kann eigentlich nur bei einem Psychotherapeuten gewesen sein“, steuerte Coco ihre fachlich fundierte Meinung bei. „Wenn er jemals bei einem gewesen ist, sollte das die Krankenkasse wissen oder wir finden vielleicht in seiner Wohnung Abrechnungsunterlagen.“

„Lasst uns das morgen als Erstes angehen.“ Auer blickte auf seine Armbanduhr. „Es ist schon nach achtzehn Uhr, und heute erreichen wir bei Krankenkassen eh niemanden mehr. Unter Umständen stehen uns auch ein paar anstrengende Tage bevor, weshalb wir lieber morgen ausgeruht an die Sache herangehen sollten.“

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Fisch aufbegehren wollte, woraufhin er abwehrend eine Hand erhob.

„Und nein, Fisch, du hackst dich nicht in die Datenbanken der Krankenversicherungen, dass das klar ist. Bislang ist das eine normale Mordermittlung und kein Grund zur Eile gegeben. Alles klar?“

Fisch nickte ergeben und begann, seinen Schreibtisch notdürftig aufzuräumen.

Kapitel 7

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, ging selbst um 18 Uhr 30 der Leiter der Gerichtsmedizin in Mainz bereits nach dem zweiten Klingeln ans Telefon.

„Mangel?“

„Hallo, Werner, ich bin es, Ulf. Es scheint ja wohl unser Schicksal zu sein, dass wir immer dann, wenn es eine neue Leiche gibt, bis in die Puppen arbeiten müssen“, eröffnete Auer die Unterhaltung.

„Hallo, Ulf, schön mal wieder von dir zu hören, wenn auch der Anlass wie meist kein sehr erfreulicher ist“, erklang die tiefe Bassstimme von Professor Werner Mangel.

„Ja, das ist wahr. Aber ich befürchte, daran wird sich wohl in absehbarer Zeit nichts ändern ... leider.“

„Aber Jammern hilft wohl nichts“, entgegnete Professor Mangel, und Auer konnte sein Lächeln durch das Telefon hören.

Mangel war schon seit Jahren so etwas wie ein Freund, und Ulf freute sich immer, wenn sich die Gelegenheit ergab, dass er ihn mal wieder in Mainz besuchen konnte, auch wenn es bedeutete, dass er an einer Obduktion teilnehmen musste. Allerdings reichte dafür oft die Zeit nicht, gerade wenn man mitten in den Ermittlungen zu einem Todesfall stand. Dann blieb nur das Telefon oder in Ausnahmefällen auch mal eine Videokonferenz.

Er hatte seinen Freund um diese Uhrzeit angerufen, weil er wusste, dass der geniale Gerichtsmediziner mit großer Wahrscheinlichkeit noch im Institut war und ihm vielleicht schon erste Erkenntnisse mitteilen konnte. Natürlich würde Mangel den Obduktionsbericht so schnell wie möglich per Mail an die MK senden, aber vermutlich war er noch dabei, diesen zu verschriftlichen, und Auer hatte nicht den Nerv, bis zum nächsten Morgen zu warten.

Er musste noch nicht einmal sagen, warum er anrief, denn das war Mangel selbstverständlich klar.

„Okay, mein Freund, du möchtest also etwas über diesen neuerlichen Mord wissen, allerdings muss ich dich dahingehend enttäuschen, dass es kaum etwas zu sagen gibt, was du dir nicht selbst denken könntest. Euer Opfer wurde durch einen Schnitt in die rechte Oberschenkelarterie ins Jenseits befördert, aufgrund dessen er ausgeblutet ist. In seinen Lungenbläschen habe ich Spuren von Isofluran gefunden, ein recht schnell wirkendes Inhalationsanästhetikum, weshalb man davon ausgehen kann, dass er betäubt wurde, bevor er an den Füßen aufgehangen und danach der Schnitt in die Arterie vorgenommen wurde. Aus den Blutspuren am Körper ist der Rückschluss zulässig, dass der Schnitt tatsächlich erst angebracht wurde, als er schon kopfüber gehangen hatte. Ansonsten gibt es an dem Körper keine Spuren, die nicht mit der Auffindesituation übereinstimmen. Ich meine die Fesselung an den Füßen mit einer Kette und die Fesselung der Hände auf dem Rücken.“

Mangel machte eine Pause, als wartete er auf eine Frage von Auer. Dem fiel allerdings nichts Passendes ein. Es war frustrierend, wenn es, auch zu einem so frühen Zeitpunkt der Ermittlungen, noch keine Anhaltspunkte dafür gab, in welche Richtung man ermitteln sollte.

„Ich merke“, setzte Mangel wieder ein, „dass ihr noch keine Ahnung habt, wie es weitergehen soll, habe ich recht?“

„Ja, leider“, musste Auer zerknirscht eingestehen.

„Dann drücke ich euch die Daumen. Wenn ich noch etwas Außergewöhnliches finden sollte, melde ich mich natürlich sofort. Ach ja, was ich noch fragen wollte: Wie macht sich denn eure neueste Errungenschaft, die überaus talentierte Frau Crott, die ich ja seit dem letzten Jahr nicht mehr gesehen habe?“

Es freute Auer, dass Mangel sich nach Coco erkundigte, denn sie war so etwas wie sein Protegé, und es hatte ihn schon vor einem Jahr sehr gefreut, dass auch sein Freund Mangel seine Begeisterung für die junge und überaus intelligente Frau geteilt hatte.

„Sehr gut, sehr gut, obwohl es noch keinen vergleichbaren Fall wie im letzten Jahr gegeben hat, bei dem sie ihre Fähigkeiten mal wieder unter Beweis stellen konnte. Aber zumindest hat sie ihre Prüfung zur Kommissarin als Lehrgangsbeste bestanden und sich wirklich wunderbar in die MK eingefügt.“ Er musste kurz auflachen. „Es ist ja wirklich ein Wunder, dass sie es tatsächlich wahrgemacht hat und sich für meine ganz spezielle Truppe beworben hat. Aber der PP hat ihrer Bewerbung zugestimmt, und meine Leute haben sie mit offenen Armen empfangen und akzeptiert. Also bin ich guter Dinge, dass sie beim nächsten großen Fall allen beweisen wird, dass ich mich zu Recht für sie eingesetzt habe.“

„Da bin ich mir ziemlich sicher, mein Freund. Mach dir keine Gedanken. Sie wird allen beweisen, was in ihr steckt. Bitte melde dich jederzeit, wenn du neue Informationen oder eine Frage hast, ja?“

„Selbstverständlich. Vielleicht wissen wir morgen ja schon etwas mehr. Mach nicht mehr zu lange. Bei dem, was du mir bisher erzählt hast, kommt es nicht auf ein paar Stunden mehr an, bis der Obduktionsbericht bei uns eintrudelt. Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.“

„Danke, gleichfalls. Wir telefonieren.“

Kapitel 8

Tag 2

Koblenz-Karthause, 08:00 Uhr

In Ermangelung anderer Ermittlungsansätze hatte Auer sich entschlossen, das Team zu begleiten, das die Villa des Opfers durchsuchen sollte.

Coco freute sich darüber, denn sie arbeitete am liebsten mit Ulf Auer zusammen. Duben, Harry und Fisch waren in Ordnung, aber sie waren einfach Kollegen, mit denen man zusammenarbeitete und vielleicht auch mal nach getaner Arbeit ein Bier trinken ging. Na ja, zumindest Duben war vielleicht sogar so was wie ein Freund. Aber mit Ulf Auer war das eine andere Sache. Sie mochte ihn, bewunderte ihn seit ihrer Zusammenarbeit vor nun etwas mehr als einem Jahr und wollte von ihm lernen.

Er war ihr Vorbild und ihr Mentor. Sie hing an seinen Lippen, kopierte seine Handlungen und wünschte sich nichts mehr, als einmal ein so guter Ermittler wie er zu werden.

Die MK hatte sich etwas früher als gewöhnlich, also schon um 7 Uhr 30, in den Diensträumen getroffen, die Aufteilung festgelegt, und schon kurz darauf hatten sich Coco, Auer und Duben auf den Weg in den Stadtteil Karthause gemacht. Da die Schlüssel zur Villa bei der Leiche gefunden worden waren, gab es keinen Grund, einen Schlüsseldienst zu verständigen.

Fisch und Harry sollten sich um die Ermittlungen zu den Terminen des Opfers kümmern, die noch aus einem mit Passwort gesicherten und bei der Werbeagentur sichergestellten Rechner extrahiert werden mussten. Des Weiteren stellte sich die Frage, wo sich der Pkw von Raimund Kellermann befand, denn das würde Aufschluss über seinen letzten Aufenthaltsort geben. Laut übereinstimmenden Angaben der Beschäftigten war Kellermann in der Agentur zuletzt gesehen worden, bevor er sich auf den Weg ins Fitnessstudio gemacht hatte. Auch dort musste überprüft werden, wann er das Studio verlassen hatte ... wenn denn jemand dazu eine Aussage machen konnte.

Auer hatte sich entschlossen, zuerst eine grobe Durchsicht des Hauses durch sie drei vorzunehmen, bevor er die Spurensicherung beauftragte, durch dieses Haus zu gehen. Als eigentlicher Tatort des Mordes stand die Schießanlage „Lasertag“ schon fest, es war lediglich noch die Frage, von wo das spätere Opfer entführt worden war. Sollte sein Fahrzeug im Innenstadtbereich gefunden werden, schied die Villa als Entführungsort eigentlich aus. Das bedeutete, dass der Einsatz der Spurensicherung in einer so großen Villa maßlos übertrieben gewesen wäre.

Es sei denn, sie fänden in der Villa Spuren, die auf einen Kampf, einen Streit oder eine gewaltsame Entführung hindeuteten.

Coco empfand es als richtig, die Ressourcen der Spurensicherung zu schonen, denn diese Truppe hatte wahrlich genug Arbeit.

„Wir teilen uns für den Anfang auf, und jeder übernimmt ein anderes Stockwerk. Coco, sei du bitte so gut und sieh dich im Kellergeschoss um, Gerd, du nimmst das Obergeschoss, und ich sehe mich hier im Erdgeschoss um.“

Duben sah ihn misstrauisch an. „Willst du Treppen vermeiden?“

Auer lachte trocken auf. „Nein, du Schlaumeier, ich möchte so schnell wie möglich am Fundort irgendwelcher Hinweise sein, und das geht am besten aus der Mitte. Und wenn einer von euch was findet, Coco im Keller oder du oben, dann muss ich die Treppen ja eh laufen, oder?“

Duben sah ihn verdutzt an, und Coco musste herzlich lachen über diesen pragmatischen Ansatz, der allerdings einer gewissen Logik nicht entbehrte. Sie fragte sich nur, ob Ulf sich das gerade erst ausgedacht hatte oder es wirklich von Anfang an sein Plan gewesen war.

Dieser Mann ist manchmal einfach undurchschaubar.

Kopfschüttelnd zog sie die Handschuhe über und begab sich in den Keller. Die frei stehende Villa hatte eine Grundfläche von etwa hundertzwanzig Quadratmetern, was eine Gesamtwohnfläche von circa dreihundertsechzig Quadratmetern bedeutete, und dabei war das Dachgeschoss mit vermutlich einigen Abstellmöglichkeiten unter dem Walmdach nicht mitgezählt.

Als Erstes versuchte sie, sich einen Überblick über die einzelnen Räume des Kellers zu verschaffen, bevor sie sich entscheiden wollte, mit welchem Raum sie beginnen würde. Direkt nach dem Treppenabgang befand sich linker Hand der Zugang zu einer Garage, die bis auf einen Stapel Winterreifen an einer Seite des Raumes leer war. Das nächste Zimmer beinhaltete eine kleine Sauna, eine Dusche, zwei Saunaliegen und eine Sonnenbank.

Coco musste grinsen. Wenn das so weiterging, war sie mit ihrem Teil der Durchsuchung relativ schnell fertig. Ihr Grinsen verstärkte sich, als sie im nächsten Raum zwei große Regale mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs wie Toilettenpapier, Küchenrollen, Reinigungsutensilien und ähnliche Dinge fand. Sie hakte den Raum als Vorratskammer ab.

Das Grinsen verging ihr, als sie den nächsten, von einem kleinen Flur abgehenden Raum betrat. Bei diesem Zimmer handelte es sich ganz offensichtlich um ein Büro, das nicht nur einen großen Schreibtisch, Computer und Monitor, sondern auch an drei Wänden Regale mit umfangreichen Aktenordnern aufwies. Seufzend schloss sie die Tür wieder und setzte ihre oberflächliche Inspektionstour fort.

Nachdem sie aber lediglich noch einen Heizungskeller, eine Waschküche und eine kleine Rumpelkammer vorfand, begab sie sich wieder zurück in das Büro und begann die mühevolle Arbeit, den Schreibtisch und die Akten zu sichten.

Ganz in das Aktenstudium vertieft, hatte sie nicht bemerkt, dass jemand das Kellerbüro betrat, und ließ erschrocken den Ordner fallen, als hinter ihr eine Stimme ertönte.

„Ich dachte, du wolltest mich rufen, wenn es etwas Interessantes zu sehen gäbe?“

Coco atmete pustend aus. „Boah, hast du mich erschreckt. Mensch, Ulf, wie kannst du dich so anschleichen?“

Sie hatte sich umgedreht und funkelte Auer böse an. Der machte ein schuldbewusstes Gesicht, aber sie konnte erkennen, dass es ihm nicht wirklich leidtat. Er schien zu überlegen, was er ihr sagen sollte. Coco winkte ab und lächelte wieder.

„Okay, selbst schuld. Vielleicht hätte ich tatsächlich sofort Bescheid sagen sollen, als ich das Büro entdeckt habe. Aber vielleicht klopfst du das nächste Mal an, bevor du einen Raum betrittst, in dem sich eine schreckhafte Kollegin aufhält.“

Jetzt war es an Auer, zu lächeln. „Das ist eher unwahrscheinlich, aber egal, sorry, dass ich dich erschreckt habe. Und, hast du was Interessantes gefunden?“

„Das würde mich aber auch interessieren“, erklang die Stimme von Gerd Duben von der Tür.

Diesmal zuckte Auer erschrocken zusammen, und Coco musste laut lachen.

„Wir sind wohl alle ein wenig schreckhaft heute, was? Leute ... das ist doch kein Geisterhaus hier. Da wir nun alle hier sind, gehe ich davon aus, dass ihr beide in den oberen Stockwerken nichts gefunden habt. Wenn wir hier überhaupt etwas finden, dann sind es höchstens Unterlagen, die uns etwas über das Leben des Opfers sagen. An den Computer kam ich nicht ran, der ist mit einem Passwort geschützt. Da muss Fisch mal schauen, ob er das knacken kann. Aber ich habe unter all den Akten bisher lediglich eine gefunden, die uns zumindest einen Schritt weiterhilft.“

Sie sah, dass sie nun die volle Aufmerksamkeit von Duben und Auer hatte.

„Es handelt sich um einen Abrechnungsordner für seine Krankenkasse, und aus den Rechnungen ist ...“, sie musste sich zurückhalten, um nicht laut „Tataa“ zu rufen, „... der Name des Arztes ersichtlich, bei dem er in psychotherapeutischer Behandlung war.“

„Und das ist ...?“, fragte Duben ungeduldig.

„Ein gewisser“, sie blickte noch einmal in die Akte, die sie inzwischen wieder vom Boden aufgehoben hatte, „Doktor Heribert Rossbacher, ein Koblenzer Psychotherapeut.“

„Aha, na, dann haben wir ja jemanden, bei dem wir mal nachhaken können, woran unser Opfer gelitten hat und ob er vielleicht seinem Therapeuten etwas über andere Probleme erzählt hat.“

Coco hatte den letzten Teil von Dubens Aussage nicht mehr gehört, denn ihre Aufmerksamkeit war voll auf Auer gerichtet. Ihr war die dramatische Veränderung nicht entgangen, die mit ihm vor sich gegangen war, seit sie den Namen des Psychotherapeuten genannt hatte.

Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, sein Mund stand offen, und er starrte ins Leere. Er war so geschockt, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte.

Kapitel 9

Koblenz-Innenstadt, 10:00 Uhr

Christina hasste es, sich nach draußen zu begeben, aber es gab Dinge, die sie sich nicht liefern lassen konnte, und bestimmte Behördengänge konnte ihr auch niemand abnehmen. Es war nicht so, dass sie nicht nach draußen gehen konnte, Gott bewahre. Von Dr. Rossbacher hatte sie gelernt, dass man die Angst vor dem Aufenthalt unter freiem Himmel als Agoraphobie bezeichnete. Das waren wirklich arme Leute, die ihr Haus nicht verlassen konnten, und sie hatte Mitleid mit ihnen. Leider hatte kaum jemand Mitleid mit ihr, obwohl ihre Erkrankung ähnlich tragische Auswirkungen hatte.

Der manische Waschzwang war das eine, was aber kaum jemand mitbekam. Nun ja, sie hatte ihre Arbeitsstelle letztendlich verloren, weil sie alle zehn Minuten auf die Toilette gegangen war, um sich die Hände zu waschen. Dabei hatte sie allerdings auch jedes Mal Unmengen von Papiertüchern dazu verwendet, alle Oberflächen, die sie anfassen musste, vorher zu reinigen.

Ihr Arbeitgeber hatte sie anfänglich nur aufgefordert, das doch zu lassen, dann hatte er sie abgemahnt und sie letztlich auch auf Druck der Arbeitskollegen entlassen. Das war einerseits sehr ärgerlich, andererseits war sie heilfroh, diesem grauenvollen Ort entfliehen zu können, an dem es nur so vor Bakterien und Viren wimmelte.

Manchmal hatte sie den Eindruck, sie könne die Bakterien sehen, wie sie sich grünlich schimmernd auf allen glänzenden Oberflächen breitmachten. Ekelhaft, grauenvoll und absolut nicht zu dulden.

Mysophobie – so hieß laut Dr. Rossbacher diese panische Angst vor Ansteckung, die letztendlich auch der Auslöser für ihren Waschzwang war. Und er konnte sagen, was er wollte. Sie wusste, dass alles voller Bakterien war, davon konnte auch ihr Psychotherapeut sie nicht abbringen. Sie konnte sie riechen, sie konnte sie sogar sehen, und manchmal meinte sie auch, sie hören zu können.

Aber alle Therapieversuche hatten bislang keine wirkliche Besserung herbeigeführt, auch nicht die Gesprächstherapie in der Gruppe. Die fand Christina zwar recht interessant und teilweise spannend, manchmal aber auch ein wenig beängstigend. Unter den fünf anderen Teilnehmern befanden sich zwei Personen, die ihr regelrecht Angst machten. Sie waren so aggressiv und pöbelten in einer Tour die anderen Gesprächsteilnehmer an, bezeichneten sie als „Irre“, mit denen sie nicht in einen Topf geworfen werden wollten.

Christinas Gedanken wanderten in eine andere Richtung, nämlich zu Carlo Wagner, dem netten jungen Mann, der ganz anders war. Er war einfühlsam und scheinbar auf dem besten Weg, seine Zwangsneurose in den Griff zu bekommen. Vor allem war er aber sehr adrett, ordentlich und vermutlich auch sehr reinlich. Er wirkte immer frisch geduscht, roch angenehm, und sie hätte sich fast vorstellen können, ihm mal die Hand zu geben ... sogar ohne Handschuhe zu tragen.

Gedankenverloren schloss sie ihren alten Opel Kadett auf, den sie im hintersten Winkel auf dem obersten Parkdeck des Löhr-Centers geparkt hatte, also möglichst weit weg von anderen Fahrzeugen. Sonst hätte vielleicht die Gefahr bestanden, dass neben ihr parkende Personen beim Aussteigen ihr Auto berührten oder ihr bei der gleichzeitigen Annäherung an das Fahrzeug zu nahe kamen.

Sie hörte die Person nicht, die genau in dem Moment hinter dem Kofferraum hervortrat, als sie den Schlüssel in das Schloss der Tür ihres Wagens steckte. Die Anwesenheit eines weiteren Menschen bemerkte sie erst, als eine Hand von hinter ihrem Kopf auftauchte und ihr einen scheußlich riechenden Lappen auf den Mund drückte.

Noch bevor sie den Gedanken, ob das Tuch vor der Benutzung auch desinfiziert worden war, zu Ende denken konnte, wurde ihr zuerst schwindelig, und dann erloschen alle Lichter.

***

Bin ich in der Badewanne eingeschlafen? Ich kann mich gar nicht erinnern, ein Bad genommen zu haben?

Die Benommenheit ging langsam zurück, und sie registrierte, dass sie fröstelte. Vielleicht war ja das Badewasser schon abgekühlt, dachte sie noch, bevor sie die Augen öffnete.

Der Schock raubte ihr den Atem, und gleichzeitig offenbarten sich ihr gleich mehrere Umstände ihrer Situation. Sie stand zur Bewegungslosigkeit verdammt in einem Bottich, in dessen Mitte sich eine Art Pfahl befand. Sie war voll bekleidet, und das kalte Wasser stand bis zu ihrer Brust. Über ihrem Kopf befand sich eine Art Pendelleuchte, die ihre nähere Umgebung erhellte. Gleichzeitig registrierte sie, dass sie mit einer Kette fest an den Pfahl gebunden war. Allerdings waren ihre Arme frei beweglich, was sie erleichtert zu dem Schluss brachte, dass sie sich vielleicht aus eigener Kraft aus dieser Situation würde befreien können.

Sie schüttelte sich voller Ekel, denn sie stellte sich sofort vor, dass es sich bei der Füllung des Bottichs wohl kaum um sauberes Wasser handeln konnte. Gleichzeitig erreichten immer wieder kleine Spritzer ihr Gesicht, die von einem in das Wasser plätschernden Strahl aus einem Rohr oberhalb ihres Kopfes stammten. Sie versuchte, sich von diesen Spritzern wegzudrehen, aber ihre Fesselung an den Pfahl war zu stramm.

Der obere Rand des Bottichs befand sich einige Zentimeter über Augenhöhe, wo auch das Rohr – mit den Händen nicht erreichbar – über den Rand ragte. Mit aufkeimendem Entsetzen realisierte sie, dass der Wasserpegel langsam aber sicher anstieg und angesichts der Höhe des Randes irgendwann über ihren Kopf reichen würde. In ihrer sofort einsetzenden Panik begann sie, mit den Händen an der Kette zu rütteln, die sie an den Pfahl fesselte. Vergeblich. Als sie sich von ihrem Schock etwas erholt hatte, registrierte sie das große Vorhängeschloss, mit dem die Kette vor ihrer Brust geschlossen war.

Da sie keine Haarklammern oder etwas Ähnliches vorzuweisen hatte, womit sie das Vorhängeschloss vielleicht hätte öffnen können, stieg ihre Panik für einen Augenblick in neue Höhen. Sie begann, aus vollem Hals zu schreien, und bemerkte erst, als sie völlig außer Atem das Schreien einstellen musste, dass es in dem Raum, in dem der Bottich stand, erstaunlich hallte. Da die Pendelleuchte nach unten strahlte, erhellte sie den Raum nicht so weit, dass Christina Wände hätte sehen können. Es musste sich um eine große Halle oder etwas in der Art handeln. Wo befand sich diese Halle, wenn niemand auf ihr Schreien reagierte?

Verdammt, was nützen mir freie Hände, wenn ich dieses verdammte Schloss nicht aufbekomme?

Wieder warf sie sich verzweifelt hin und her, konnte aber die Kette nicht im Geringsten lockern. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Art kleines Tablett, das an der Innenwand des Bottichs in Augenhöhe befestigt war. Sie schrieb es ihrer Panik zu, dass ihr das nicht vorher aufgefallen war.

Zuerst wollte sie ihren Augen nicht trauen, als sie entdeckte, was da auf dem Vorsprung in einem kleinen Berg einer undefinierbaren Masse steckte: Aus der Masse heraus ragte der hintere Teil von etwas, was ohne Zweifel ein Schlüssel sein musste.

Die Aufregung, verbunden mit der Erleichterung, ließ sie beinahe hyperventilieren. Der Schlüssel befand sich in erreichbarer Nähe, und sie musste nur nach ihm greifen, dann konnte sie sich sicherlich befreien. Ihre Todesangst war fast verschwunden, zumindest so weit, dass sie sich bei der Handbewegung hin zu dem rettenden Schlüssel fragte, was das wohl für eine Masse war, in welcher der Schlüssel steckte.

Sie drehte den Kopf so weit es nur ging, um die Masse so gut wie möglich sehen zu können.

Als sie sich noch ein wenig mehr in die Richtung neigte, erreichte sie ein Geruch, den sie sofort erkannte.

Oh nein ... bitte nicht ... das kann doch nicht wahr sein. Bitte, lieber Gott, warum strafst du mich so?

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