Der flüchtige Stern

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Der flüchtige Stern
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Denise Remisberger



Der flüchtige Stern



Ein Pfarrer Jacques Krimi





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Inhaltsverzeichnis





Titel







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Impressum neobooks







1



Das Fenster des Büros im Kirchgemeindehaus Kreis Fünf in Zürich stand sperrangelweit offen, der Duft nach Frühling strömte herein und die Vöglein trillerten fröhlich. Die Atmosphäre draussen war einfach himmlisch, was vermuten liesse, dass es drinnen genauso angenehm sein würde, doch dem war nicht so. Sabine Pfau, Mitglied der Frauensinggruppe, stand in voller Höhe neben Pfarrer Selris Arbeitstisch, bückte sich leicht nach vorne und schlug dann mehrmals mit der Faust auf das arme Holz, sodass sowohl die Kaffeetasse als auch der Pfarrer selber erzitterten.



„Sabine, reg dich doch nicht so auf“, versuchte Pfarrer Jacques, der, zusammen mit Marie Krug, einem weiteren Mitglied der Frauensinggruppe, Pfarrerin Rosamunde, Pfarrer Kinden und Pfarrer Sebastienne auf einem wirklich schmalen und auch noch wackeligen Sofa aus dem Brockenhaus sass, die aufgebrachte Dame zu beschwichtigen. „Wir werden schon ein paar neue Nasen finden.“



„Dafür müssen wir aber etwas tun!“, schrie die Angesprochene.



„Sie hat Recht“, meldete sich Marie Krug zu Wort.



„Ihr seid mal einer Meinung?“, staunte Sebastienne und hob seine Fersen aus den engen Damenschuhen, die wieder höllisch drückten, obwohl er sie schon seit einem Monat einlief.



„Ausnahmsweise“, betonte Marie und zog ihren karierten Rock, der im Stehen bis über die Knie reichte, zurecht. Sabine trug natürlich wieder etwas Kurzes, obwohl sie auch nicht mehr die Allerjüngste war.



„Wir können doch nicht mit einer Büchse auf der Strasse rumrennen, auf der steht: ‚Wir sammeln kein Geld, wir brauchen nur einige neue Mitglieder für den Frauensingchor‘“, war Selri am Verzweifeln.



„Wir könnten gezielter vorgehen“, fand Rosamunde, welche die Drögeligruppe betreute, befreite sich aus der eingeklemmten Position auf dem Kanapee und setzte sich auf einen Stuhl, nachdem sie die drei Ordner, welche Selri darauf platziert hatte, weggeräumt hatte.



„Nur zwei Sängerinnen machen tatsächlich keine Gruppe aus. Schade, dass die anderen gegangen sind“, sagte Sebastienne, der den Frauensingchor leitete.



„Na die arme Eleonore ist gestorben, da kann sie wirklich nichts dafür“, seufzte Kinden, Mitarbeiter in einer auswärtigen Kita.



„Roland, Margritte und Thea hätten aber bleiben können!“, schaute Sebastienne vorwurfsvoll.



„Ich würde vorschlagen, dass Sabine, Marie und Sebastienne gemeinsam überlegen, wo sie mit der Suche nach neuen Singvögeln anfangen wollen“, erhob sich Jacques mit Schwung vom Sofa, sodass die anderen fast nach hinten kippten. Und mit Jacques‘ Vorschlag waren alle einverstanden.






2



Alberta Flakes war gelandet. Sie hatte ein Taxi am Flughafen Zürich genommen und sich zu ihrer von den anderen angemieteten Wohnung bringen lassen. O.K. Nicht genau dorthin. Drei Strassen weiter weg. Niemand sollte wissen, wo sie wohnte.



Nun sass sie in ihrer bereits möblierten Stube und überlegte. Um die Person zu finden, musste sie den Mann zuerst suchen gehen. Dafür war es nötig, sich unter die Leute hier in dieser fremden Stadt zu mischen. Und dann war da noch die private Angelegenheit. Auch in dieser Sache musste sie jemanden finden.






3



Sabine, Sebastienne und Marie hatten bündelweise Flyer eingepackt und machten sich nun daran, diese zu verteilen. Überall, wo sie Schwarze Bretter vermuteten, stöpselten sie ein paar der kleinformatigen Zettel hin oder sie legten sie auf Tischchen aus, auf denen bereits für Yoga- und Kochkurse geworben wurde.



„Die Schulen mit ü18 haben wir alle bestückt. Bibliotheken und Reformhäuser auch. Wo gehen wir als Nächstes hin?“, fragte Pfarrer Sebastienne die beiden gähnenden Frauen.



„Ich brauche ein kühles Glas Rosé, irgendwo, wo es mehr Schatten hat als hier“, hielt sich Sabine Pfau eine Hand auf den Kopf, um ihn vor weiterer Sonnenhitze zu schützen.



„Heute ist es ausgesprochen heiss, ja“, zog Marie Krug ihr Wolljäckchen aus und stopfte es in ihre überdimensionale Handtasche.



„Wie wär’s mit der Bar dort“, zeigte Sebastienne auf einen der vier beschirmten runden Tische, die vor einem Lokal auf der Gasse draussen, in der sie gerade standen, auf Gäste warteten.



„Au ja!“, fand Sabine und auch Marie liess sich erschöpft nieder.



Nach der Bestellung der Flasche Rosé des Hauses legten sie ihre übrigen Flyer auf dem Tischchen zusammen - viele waren es nicht mehr - und weckten die Aufmerksamkeit einer etwa fünfzigjährigen Frau, die sich eines nahm und lachte: „Ich bin auf der Suche nach einem neuen Hobby. Kann ich da auch mitmachen, wenn ich nur ab und zu im Garten beim Jäten singe?“



„Ja, klar!“, rief Sebastienne sofort begeistert.



„Ich bin Sabine, das ist Marie und das unser Chorleiter Pfarrer Sebastienne“, stellte Sabine alle vor und hielt der Frau die Hand zur Begrüssung hin, eine inzwischen ungewohnte Geste.



„Ich heisse Gundula“, freute sich die Frau und schüttelte allen ausgiebig die Hände. Und nein, es rannte niemand zum nächsten Brüneli.



„Jetzt sind wir schon drei. Nochmals drei wären schön“, meinte Marie.



„Alles braucht seine Zeit“, lächelte Sebastienne weise.



„Das ist leider so, ja“, sagte Gundula. „Wir können noch so strampeln, nichts geschieht vor seiner Zeit.“






4



Alberta Flakes war am Zürichsee entlangspaziert, vom Bellevue aus Richtung Zürichhorn, und sass nun auf einer niedrigen breiten Treppe. Sie schaute aufs nachmittäglich in der Sonne glitzernde Wasser, über sich Baumkronen, die im leichten Wind raschelnde Töne von sich gaben. Rechts von ihr, eine Stufe unterhalb ihres Ausgucks, hockten zwei Männer, die beide, anscheinend unverrückbar, an ihrem jeweiligen Standpunkt festhielten.



„Eine Tetanusimpfung ist eine sinnvolle Sache, bevor du nach Nepal reist“, sagte der eine, der braune Locken bis zur Taille wallen liess und echte Ethnokleidung trug.

 



„Nein, Mik, ich will mich nicht anstechen lassen. Vielleicht breiten sich danach Nebenwirkungen aus und ich kriege einen richtigen Impfschaden.“



„Ein Impfschaden einer Tetanusimpfung ist aber weniger schlimm als Wundstarrkrampf, Anbert. Dort gibt’s nicht an jeder Ecke einen Spital, wo du im Notfall was kriegst.“



„Vielleicht verletze ich mich ja gar nicht.“



„Und vielleicht eben doch!“



„Die Tetanusimpfung ist erprobt. Seit Jahrzehnten. Nicht wie der neue Mist, von dem sie alle reden“, mischte sich Alberta ein, sodass sich die beiden Debattierenden nach ihr umdrehten.



„Den anderen unausgegorenen Mist würd ich auch nicht wollen“, sagte Mik und stellte sich und seinen Freund vor.



„Ich heisse Alberta.“



„Bist du aus den USA? Du hast einen lustigen Akzent.“ Das kam vom erfreuten Anbert, denn das Mädchen, ebenfalls mittelalt wie die beiden Jungs, war nett anzusehen und schien eine offene Art zu haben.



„Ja, aus Kansas“, erfand Alberta, denn dass sie in Washington D. C. wohnte, ging nun wirklich niemanden hier etwas an.



„Hast du Lust, mitzukommen? Ich muss Essen vorbereiten bei mir zuhause. Heute Abend kommen ein Haufen Gäste“, lud Anbert die interessante Fremde ein.



„Ja, wieso nicht“, lachte sie und alle drei machten sich zu Fuss auf ins Quartier Wiedikon, das gar nicht so nahe war.



„Spaziert ihr immer so weit?“, erkundigte sich Alberta, nachdem sie sich erschöpft auf den erstbesten Küchenstuhl in Anberts Parterrewohnung fallen gelassen hatte.



„Meistens zu Fuss, ja. Manchmal auch mit dem Fahrrad“, erzählte Mik und schenkte allen Chai-Tee ein, der bereits diesen Morgen von Anbert, alles selbstgemacht, vorbereitet worden war.



„Der schmeckt aber vorzüglich“, lobte die Fremde und erntete damit ein Plätzchen im Herzen des Kochs. Und diesmal musste sie nicht mal lügen, der Gewürztee war tatsächlich vorzüglich.



„Willst du eine rauchen?“, fragte Mik und holte ein buntes Döschen aus der Innentasche seiner Jacke hervor, die er anbehielt, obwohl es recht warm war.



„Bloss nicht!“, rief Alberta.



„Wieso nicht?“



„Weil ich eiskalte Füsse davon kriege.“



„Das ist der Tabak, nicht das Haschisch“, sagte Anbert, während er weiter in seinen Töpfen rührte.



„Das ist möglich. Doch trotzdem. Ich muss einen klaren Kopf behalten.“



„Was hast du denn vor?“, fragte Mik, der inzwischen einen Joint gedreht hatte und ihn nun anrauchte.



„Ich muss zwei Leute finden.“



„Auch aus Kansas?“, setzte sich Anbert für einen Moment an den Küchentisch, um mitzurauchen.



„Der eine, ja.“ Diesmal war es tatsächlich so.



„Und die andere Person?“, wollte Mik wissen.



„Eine Frau. Von hier. Aus Zürich, glaube ich.“



„Du bist dir nicht sicher?“, war der Koch wieder aufgestanden, um sich seinem Mango-Chutney zu widmen.



„Nein. Die Grosseltern der Frau waren aus Zürich. Hatten ein Ferienhaus im Tessin. Irgendwo in den Bergen.“



„Und warum suchst du nun deren Enkelin?“, spürte Mik, dass da etwas ganz Tragisches dahinter steckte.



„Die Grosseltern der Frau haben meinen Grosseltern das Leben gerettet. 1943. Ab September. Als sie aus Italien flohen, kurz bevor die Nazis in ihrem Dorf einmarschierten.“






5



Heute Nachmittag, als Merle im Reformhaus einkaufen ging, hatte sie die Flyer unter die Lupe genommen, so, wie sie es immer tat, in der Hoffnung, etwas zu finden, um ihr Leben freundlicher zu gestalten.



„Das nehm ich mit!“, hatte sie erfreut ausgerufen und das Papierchen in ihren grossen, selber gestrickten Beutel gelegt.



Nun, es war schon dämmerig, machte sie sich auf den Weg zu ihrem guten Freund Anbert, um dort zu Abend zu essen. Nachdem sie also ihre antike Wohnung im obersten Stock, direkt an der Limmat, Nähe Gemüsebrücke, verlassen hatte, an diversen Läden vorbei und dann über die Sihlbrücke spaziert war, langte sie bei Anbert in der Küche an, wo sie von den beiden Jungs freudig begrüsst und der fremden Frau vorgestellt wurde.



„Seht mal, was mich angezogen hat“, holte Merle den Flyer aus ihrem Beutel und zeigte ihn herum.



„Ein Frauensingchor. Ich wusste gar nicht, dass du singen kannst“, staunte Mik.



„Ein bisschen. Ist nur so ein Zeitvertreib von mir.“



„Bist du reformiert?“, fragte Alberta.



„Ja. Eigentlich schon. Und du?“



„Ich bin Jüdin. Auch eigentlich schon. Praktisch ungläubig.“



„Wir sind Buddhisten“, zeigte Mik auf sich und Anbert. „Und auch nur eigentlich. Ich mag den Gedanken der Reinkarnation.“



„Ich weiss nicht“, seufzte Merle, „ich find schon dieses eine Leben furchtbar anstrengend.“



„Was tust du denn so, in deinem Leben?“, lächelte Alberta aufmunternd.



„Ich war Ehefrau. Seit zehn Jahren bin ich Witwe. Noch früher, vor meiner Ehe, Obstpflückerin. Mitten im Thurgau. Das ist auf dem Land. Dann hab ich einen reichen Schiffswerftbesitzer aus Italien geheiratet, nach seinem Tod alles verkauft und jetzt mach ich mir ein schönes Leben. Ist nur manchmal etwas eintönig. So mit nichts zu tun.“



„Und wo in Italien hast du gelebt?“, fand Alberta die Frau ziemlich spannend.



„Zwischen Genua und der Grenze zu Monaco.“



„Wie schön!“, klatschte Alberta in die Hände.



„Ja, das Meer direkt vor der Nase. Das war wirklich toll.“






6



September. 1943. Giuditta erwachte schweissgebadet aus einem grässlichen Traum. Sie wurde erschossen. Im Traum. Hinter der Waffe stand ein uniformierter Mann. Und er starrte sie aus kalten Augen an. Der Traum würde sich erfüllen, wenn sie nichts dagegen tat. Das wusste sie. Das wusste sie ganz genau. Also rüttelte sie ihren Mann Beniamino wach.



„Wir müssen gehen!“



„Was?“, fragte er schläfrig.



„Wir müssen gehen. Die Deutschen kommen.“



„Hierher? Nach Maccagno?“



„Ja. Ich habe es geträumt. Und es ist wahr.“



Beniamino kannte diesen Blick. Den hatte sie nicht oft. Wenn sie ihn hatte, dann war es ernst.



„Und wohin?“



„In die Schweiz.“



Beniamino klopfte an die Türe des nächsten Nachbarhauses, und als der Sohn öffnete, sagte er ihm, dass die Deutschen kommen würden. Doch dessen Eltern, weder jüdisch noch partisanisch, glaubten dem Kleinen nicht. Giuditta und Beniamino packten einige wenige Erinnerungen ein, verliessen ihr Heim, verliessen die Holzwerkstatt, die gleich an das Häuschen anschloss, verliessen den Lago Maggiore, verliessen ihr altes Leben. Ihre Heimat, ihre Arbeit, die Menschen, alles. In Windeseile, durch die Schlucht des Val Veddasca, wanderten sie von Maccagno nach Graglio hinauf, vorbei an den Dörfern Veddo, Caviggia, Garabiolo und Cadero, wo sie wenige Leute antrafen, die sie fröhlich grüssten und die noch nichts wussten von dem Unglück, das bald schon über die Dörfer am See unten hereinbrechen würde. Vergewaltigung, Mord, Plünderung. In Graglio angekommen, hämmerten sie an die Türe von Alberto, einem guten Freund der beiden.



„Was macht denn ihr hier oben? Ich bin grad am Mittagessen. Wollt ihr auch was?“



„Nur kurz. Wir sind am Verdursten. Und Hunger haben wir auch. Dann müssen wir in die Schweiz. Alberto, bringst du uns hin?“, fragte Beniamino.



„In die Schweiz?“



„Ja, die Deutschen kommen.“



„Badoglio hat doch gerade mit den Alliierten den Waffenstillstand geschlossen. Ich hab’s im Radio gehört. Vor einer halben Stunde. Die beschützen uns jetzt vor den Deutschen.“



„Trotzdem. Wir müssen weg. Giuditta hatte einen Traum.“



Alberto schaute von Beniamino zu Giuditta. Den Blick kannte er. Sie hatte ihn nicht oft. Nur ganz selten. Und dann war es ernst.



„Gut. Ich bring euch rüber. Auf die Alpe Cedullo. Und dann hol ich was zum hierher schmuggeln. Etwas Kaffee, etwas Tabak, etwas Alkohol. In Vairano unten.“



„Und was machen wir auf dieser Alpe Cedullo?“, fragte Beniamino, der noch nie in der Schweiz gewesen war.



„Dort kenn ich Leute. Aus Zürich. Die haben ein Ferienhaus auf der Alm. Sind vielleicht gar nicht da, doch ich weiss, wo der Schlüssel ist.“



„Wir sollen einbrechen?“, war es Beniamino gar nicht recht.



„Nein, nein. Sie erlauben es mir. Ich darf ihr hübsches Natursteinhaus benutzen, wenn ich unterwegs bin. Zum Schlafen. Essen ist immer da. Und Wasser auch.“



Nach der kurzen Rast liefen sie los, an Armio vorbei, an Lozzo und Biegno.



„Nun müssen wir aufpassen“, warnte der Schmuggler. „Hier streicht der Zoll herum. Der italienische mag mich nicht, vor allem, wenn ich mich auf dem Rückweg befinde, und der schweizerische mag uns alle drei nicht.“



Sie kletterten die Hügel rauf und runter und huschten durch das Valle del Ri, wo sie direkt in Richtung Alpe Cedullo abbogen und zum Grenzübergang kurz vor Indemini grosszügig Abstand hielten.



„Das ist es?“, lächelte Giuditta durch die Trauer

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