Czytaj książkę: «Zwischen zwei Feuern»

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Impressum

© 2020 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

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ISBN 978-3-7065-6096-2

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Studienverlag / Maria Strobl – www.gestro.at

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

Danksagung

Einleitung

Wurzeln des russischen Antisemitismus: Ein kurzer Abriss vom Mittelalter bis zum Bürgerkrieg

Die Schwarzen Hundertschaften

Exkurs: Der Beilis-Fall

Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen

Februarrevolution und Oktoberputsch

Der erste gesamtrussische Kongress der Jüdischen Gemeinden

Errichtung der Diktatur

Exkurs: Entwicklungen in der Ukraine 1917/1918

Enteignung, Unterjochung und Schließung jüdischer Organisationen

Die Lage in Kursk 1918

Zu wenig und zu spät: Maßnahmen der sowjetischen Behörden

Exkurs: Die Empfehlungen des Kommissars für Jüdische Angelegenheiten der Russischen Sowjetrepublik, S. M. Dimanschtein

„Leise Pogrome“

Die Lage in den westlichen Regionen, in der Ukraine und in Weißrussland 1919

Exkurs: Der Bericht von G. S. Moros

Reaktionen der Parteigrößen

Fluchtbewegungen als Folge des Terrors

Die Lage in Sibirien 1919

Der OSVAG: Propaganda für den Terror

Der Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche

Diskriminierung innerhalb der Weißen Armee

Exkurs: Aufstand der Jüdischen Einheit in Transbaikal

Die Lage in Tambow und Noworossijsk 1919

Die Lage in der Ukraine 1919

Exkurs: Hilfsfonds, „Joint“ und Unterstützungskomitees

Die Lage in Südwestrussland, Sibirien und im Fernen Osten 1920

Die Lage in Weißrussland 1919–1921

Bilanz des Terrors

Glossar

Anmerkungen

Denis Prodanov

Zwischen zwei Feuern

Antisemitismus, Judenverfolgung und Pogrome während des Russischen Bürgerkriegs

Danksagung

Ich danke dem Studienverlag, insbesondere Herrn Franz Kurz, Frau Valerie Meller und Frau Ilona Mader, für das Interesse an meinem Manuskript und das Vertrauen in dieses Projekt.

Besonderer Dank gilt Frau Olivia Lasser für ihre Unterstützung, die Hilfe bei der Übersetzung und das geduldige Lektorat.

Einleitung

Dieses Buch befasst sich mit einem Thema, das in der sowjetischen und postsowjetischen Geschichtsschreibung bislang weitgehend ignoriert wurde: Antisemitismus, Judenverfolgung und Pogrome zu Zeiten des Russischen Bürgerkriegs. Antisemitismus stellt auch heute in vielen europäischen Staaten, doch insbesondere in Russland ein unbequemes Thema dar.

Antisemitismus ist seit Jahrhunderten in der russischen Mehrheitsgesellschaft verankert, unter anderem durch aktive Unterstützung durch die Russisch-Orthodoxe Kirche. Bereits im Mittelalter kam es zu Übergriffen. Die Jahrhunderte der Zarenherrschaft gingen einher mit grausamer Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Im Gegensatz zur gängigen Geschichtsschreibung haben die Bolschewiken mit ihrer Machtergreifung 1917 nicht genug gegen den grassierenden Antisemitismus an allen Fronten des Kriegs und in allen Bevölkerungsschichten getan. Auch die Rote Armee und das Regime der Bolschewiken setzten dem Antisemitismus in der Gesellschaft kein Ende, wenn dieser auch im Vergleich zur aktiven Judenverfolgung durch das Weiße Lager das geringere Übel war. Jüdinnen und Juden sahen sich während des Bürgerkriegs, der zwischen 1917 und 1922 das Land verwüstete, also von beiden Seiten des politischen Spektrums Verfolgung ausgesetzt und beklagten fehlenden Schutz. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera, waren gefangen zwischen zwei Feuern.

Die Februarrevolution 1917 folgte auf 300 Jahre Herrschaft der Zarenfamilie Romanow. Die Revolution war die Konsequenz der volatilen Lage im Land, einer unzufriedenen Bevölkerung, die mit der Misere des Ersten Weltkriegs zu kämpfen hatte, mit einer Wirtschaftskrise, mit Nahrungsmittelunsicherheit und mit der durch den Krieg ausgelösten Flüchtlingskrise. Zehntausende Menschen flohen von den Frontgebieten im Westen in den Osten.

Im Februar 1917 wurde im damaligen Petrograd (danach Leningrad, heute Sankt Petersburg) Zar Nikolaus II. gestürzt und die gesamte Zarenfamilie festgenommen. Der Volksaufstand, der dazu führte, war ein Ergebnis von Armut, Unzufriedenheit und Hunger in der Bevölkerung. Seit 1906 waren bereits vier Dumas eingesetzt worden, die aus Volksabgeordneten bestanden, sich jedoch als handlungsunfähig erwiesen, weil die Zarenfamilie sie nicht agieren ließ. Die Enttäuschung darüber ließ die Menschen zu Zeiten der vierten Duma endlich auf die Straße gehen.

Nach der Revolution sollte bis zum Herbst 1917 eine Interimsregierung an der Macht bleiben, um das Land zu verwalten. Für den Herbst 1917 waren demokratische Wahlen geplant, woraufhin die russische konstituierende Versammlung (das Parlament) die Macht übernehmen sollte. Die Übergangsregierung bestand nach dem Umsturz hauptsächlich aus Abgeordneten demokratischer Parteien, die bereits der vierten Duma vor dem Umsturz angehört hatten. Jedoch konnte die Übergangsregierung, die anfänglich über massiven Rückhalt im Volk verfügte, die volatile Lage im Land nicht entschärfen und der sich verschlimmernden humanitären Katastrophe nicht entgegenwirken. Die Lage verschlimmerte sich. Bald folgte ein Finanzkollaps. Armut, Bauernaufstände und Hungersnöte setzten der Bevölkerung ebenso zu wie Chaos und Gewalt, die Deserteure von den Fronten des Ersten Weltkriegs in die Gesellschaft zurückbrachten.

So spekulierten ab Frühling 1917 die Bolschewiken mit der Schwäche der Interimsregierung. Der größte Fehler der Übergangsregierung war, sich nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückzuziehen. Alle aus der Kriegsbeteiligung entstehenden Probleme waren also relativ einfach der Übergangsregierung in die Schuhe zu schieben. Nachdem diese zuerst sehr beliebt gewesen war, verlor sie sukzessive an Rückhalt in der Bevölkerung, obwohl ihre Politik zunehmend linksgerichteter gestaltet war. Die Sympathien, die zuerst noch bei der Übergangsregierung gelegen hatten, flogen nun den Bolschewiken zu.

Während des Oktoberputsches 1917 stürzten diese die Regierung. Wochenlang war dieser Putsch vorbereitet worden. Allein in Petrograd unterstützten 20.000 Mitglieder der Roten Garde die Bolschewiken. Soldaten, Matrosen und Arbeiter/Arbeiterinnen hatten der Agitation der Bolschewiken Folge geleistet und befürworteten die Absetzung der Übergangsregierung. Sobald die Bolschewiken die Macht im Land gesichert hatten, begannen sie mit der Errichtung einer Diktatur, die bis 1991 andauern sollte. Sie verkündeten, bis zur Neueinsetzung des Parlaments an der Macht bleiben zu wollen. Nachdem sie im Jänner 1918 das Parlament einberufen hatten, wurde es schon nach einem Tag wieder aufgelöst. Hunderte friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen, die in wichtigen Städten wie Kaluga, Kolomna, Saratow, Petrograd, Moskau und Koslow für die konstituierende Versammlung demonstrierten, wurden erschossen.

Der Russische Bürgerkrieg begann also im Oktober 1917 und dauerte offiziell bis 1922, inoffiziell bis 1923, als die Rote Armee endgültig die letzten lokalen Aufstände niederschlug. In den ersten Wochen des Kriegs starben in Moskau und in Irkutsk allein bereits um die 2.000 Menschen. Die Fronten des Bürgerkriegs teilten sich einerseits in die Bolschewiken und ihre Rote Armee, andererseits in alle Bewegungen und Armeen, die den Bolschewiken gegenüberstanden.

Dazu gehörte ein breites Spektrum von demokratischen Kräften bis hin zu den reaktionärsten rechtsgerichteten Bewegungen. Die wichtigsten Kräfte waren die Weiße Armee, die Grüne Armee und die Anarchisten. Die Weiße Armee war in sich ebenfalls nicht homogen, sondern bestand aus verschiedenen Einflüssen und Gruppierungen.

Wenn in diesem Buch von „Fronten“ die Rede ist, ist damit eine Mehrzahl gemeint: einerseits die Fronten des Ersten Weltkriegs, andererseits die Fronten des Bürgerkriegs. Auch kleinere Kriege und Auseinandersetzungen wie zum Beispiel der Sowjetisch-Polnische Krieg brachten Fronten mit sich, ebenso die Bürgerkriegsfronten in sowjetisch besetzten Ländern Zentralasiens. Die Fronten verschoben sich laufend. Zu unterschiedlichen Zeiten bestanden unterschiedliche Fronten. Die Bevölkerung des riesigen Gebiets lebte in einem ständigen Kriegszustand.

Der Bürgerkrieg tobte im Gebiet Russlands, aber auch in Weißrussland, in den Baltischen Staaten, im Kaukasus und in Zentralasien und vor allem in der Ukraine. Was letztlich ausschlaggebend für den Sieg der Roten Armee war, waren Uneinigkeit und innere Aufsplittung des Weißen Lagers. Die internen Streitigkeiten führten trotz Unterstützung der Weißen durch die Alliierten dazu, dass die Bolschewiken den mehr als fünf Jahre andauernden Krieg gewannen.

In diesen Jahren des Bürgerkriegs, der mit allen Mitteln klassischer und moderner Kriegstechnologie geführt wurde (von Bajonetten über Kavallerie bis hin zu Bombardierung und dem Einsatz von Maschinengewehren), wurden Millionen Menschen getötet, vergewaltigt und vertrieben, Dörfer niedergebrannt und ausgeraubt. Der Bürgerkrieg zerstörte das Land. Millionen wurden zu Opfern, vor allem angesichts des zeitgleich stattfindenden Ersten Weltkriegs und der Hungersnot von 1921 bis 1922 in den südwestlichen Regionen.

Eine Bevölkerungsgruppe litt während dieser Jahre noch mehr als alle anderen: die jüdische.

Wie erwähnt, ist Antisemitismus in der russischen Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten tief verwurzelt. Die Jahre des Bürgerkriegs stellten hier keine Ausnahme dar, und, wie sich herausstellte, auch die Machtübernahme durch die Bolschewiken nicht. Wenn von Antisemitismus die Rede ist, sprechen wir von diesem in all seinen Ausformungen: Diskriminierung am Arbeitsmarkt, Diskriminierung am Wohnungsmarkt, Diskriminierung im Bildungsbereich, die Schaffung bestimmter Ansiedlungsgebiete, außerhalb derer Jüdinnen und Juden nicht leben durften, Diskriminierung innerhalb der Armeen, Diskriminierung im Geschäftsleben und im politischen Leben. Gewalt und Übergriffe gab es in der Form von Schikanen, Beschimpfungen, Beleidigungen, Vergewaltigungen, Raub, Mord, Folter, Misshandlungen, Brandanschlägen und vielem mehr. Pogrome, die dieses Buch beleuchtet, stellten organisierte Gewaltausschreitungen, legitimiert durch die Mehrheitsbevölkerung, an der jüdischen Minderheit dar. Zumindest geduldet, teilweise offen gutgeheißen wurden diese durch Politik und die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Dieses Buch soll mit mehreren Mythen aufräumen. Es soll aufzeigen, dass Antisemitismus und Judenverfolgung auch zu Zeiten des Bürgerkriegs (d. h. auch nach Absetzung der Zarenfamilie) und während der Herrschaft der Kommunisten das Leben Zigtausender Jüdinnen und Juden zur Hölle machten. Es soll aufzeigen, dass Pogrome von allen Seiten und von allen Armeen verübt wurden, nicht nur vonseiten der Weißen. Antisemitismus und Judenhass bestanden auch in der Sowjetunion weiter, nur schwächer ausgeprägt als davor. Niemand war frei, keine ethnische Gruppe. Allerdings wurden den verschiedenen nicht russischsprachigen ethnischen Gruppen, seien es Jüdinnen und Juden oder andere, darüber hinaus ihre Sprache und ihre Religion verboten, wodurch ethnische und religiöse Minderheiten wiederum mehr zu leiden hatten als die russische Mehrheitsbevölkerung.

Dieses Buch handelt großteils von Russland, doch auch andere Gebiete, vor allem die Ukraine, werden immer wieder behandelt. In der Ukraine war nicht nur Antisemitismus in besonders erschreckenden Ausmaßen ausgeprägt. Vielmehr verbinden Russland und die Ukraine Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte und Tradition, da die Ukraine bis 1917 zum Russischen Reich gehörte und als unabhängiger Staat in der heutigen Form erst seit 1991 besteht. Dies macht eine Trennung in bestimmter Hinsicht schwierig. Vor allem aber wurde die Ukraine während des Bürgerkriegs zu einem Schauplatz für die russischen Weißen und Roten Truppen. Besonders viele Gräueltaten wurden dort von ukrainischen Nationalisten, Banden und eben auch russischen Armeen verübt, so auch Pogrome. Aus diesen Gründen behandeln etliche Seiten dieses Buches spezifisch die Lage in der Ukraine.

Hunderte Zeitzeugenberichte dienen für dieses Buch als Quelle. Briefe, Tagebücher, Notizen, Berichte und Memoiren wurden zur Beschreibung der Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung während des Bürgerkriegs herangezogen. Ebenso wurden Regierungsdokumente und Veröffentlichungen der Kommunistischen Partei zu Nationalitäten-, Bildungs- und sonstigen Fragen berücksichtigt, um ein möglichst umfassendes Bild der Lage von Jüdinnen und Juden während des Bürgerkriegs zu schaffen.

Was noch für die Leser und Leserinnen zu beachten ist, ist die extrem bürokratisierte Sprache der Originaltexte, die sich auch in der Übersetzung durchschlägt. So absurd strukturiert und bürokratisch das bolschewistische Regime stratifiziert war, so lesen sich auch dessen Erlässe, Dekrete und Gesetze. Begriffe wie Komitee, Kommissariat, Rat, Konzil usw. hageln auf die Leserinnen und Leser ein, was aber niemanden entmutigen soll. Sie dienen eher dem Verständnis, wie kompliziert und bürokratisch die Gesellschaft und das Regime aufgebaut und verwaltet wurden. Den hohen Stellenwert von Bürokratie zu veranschaulichen, ist besonders wichtig, da vielen Lösungsansätzen hinsichtlich des Problems der Judenverfolgung bürokratische Hürden im Weg standen und diese Ansätze dementsprechend zu Zeiten des Kriegs nicht zielführend waren.

Ortsbezeichnungen haben sich im Laufe der russischen Geschichte immer wieder geändert. Als Beispiel dient Sankt Petersburg. Da dieses zu Zeiten des Bürgerkriegs Petrograd hieß, ist Petrograd auch die Bezeichnung, die in diesem Buch zum Einsatz kommt.

Begriffe und Namen, die für ein besseres Verständnis des Buches wichtig sind, werden im Glossar, das sich am Ende des Buches befindet, erläutert.

Die folgenden Kapitel liefern Eindrücke diverser Vorfälle und Pogrome in unterschiedlichen Gebieten Russlands und anderer Gebiete wie der Ukraine oder Weißrussland. Historisch besonders wichtige Ereignisse wie der Beilis-Fall, besondere Berichte und Empfehlungen der Behörden oder ein militärischer Aufstand jüdischer Kämpfer werden in Exkursen beleuchtet. In eigenen Kapiteln wird die Rolle der faschistischen Organisation der Schwarzen Hundertschaften, des Propagandaorgans OSVAG oder der Russisch-Orthodoxen Kirche dargelegt. Verschiedene Geschehnisse an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten des Bürgerkriegs sollen ein umfassendes Bild liefern, welchem Leid und Schrecken die jüdische Bevölkerung ausgesetzt war.

Die Anzahl an jüdischen Opfern des Bürgerkriegs ist noch immer umstritten. Realistisch geschätzt, müssen wir von etwa einer Million Betroffener ausgehen. Dieses Buch trägt dazu bei, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Einhundert Jahre später stellen die Pogrome während des Bürgerkriegs noch immer ein unbequemes Thema für die Geschichtsschreibung dar. Sie werden nicht genug erforscht, nicht genug gelehrt. Einhundert Jahre später ist Antisemitismus in Russland noch immer ein großes Problem. Er besteht fort, ebenso wie andere Formen des Rassismus. Jüdinnen und Juden haben Angst, als solche erkennbar auf die Straße zu gehen. Es kommt zu Anschlägen auf Synagogen. Rechtsextreme Horden ziehen ungestraft durch Russlands Städte.

Wieder kann der Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht genug betont werden. Wie schon in Zeiten der Zaren arbeitet der russische Staat eng mit der Kirche zusammen. Eine durch ein autoritäres Regime gespaltene Gesellschaft schürt ethnischen Hass, sei es im Russland der Bolschewiken 1920 oder im Russland Putins 2020.

Zur Veränderung all dieser soziopolitischen Missstände, die auf Mythen, Ignoranz und mangelnder Bildung beruhen, muss das Thema Antisemitismus offen diskutiert und erforscht werden. Geschichtliche Forschung kann sich hier einbringen, um die Wurzeln der heutigen Gesellschaft zu verstehen und Probleme, die seit mehreren Hundert Jahren gleichermaßen die Gesellschaft prägen, in Angriff zu nehmen. Dieses Buch soll ein Beitrag zur europäischen Antisemitismus-Forschung sein, die nicht nur in Russland relevanter denn je erscheint.

Wurzeln des russischen Antisemitismus: Ein kurzer Abriss vom Mittelalter bis zum Bürgerkrieg

Der Russische Bürgerkrieg war in den Regionen des ehemaligen Zarenreichs von extremen Ausformungen von Antisemitismus geprägt. Dazu gehörten Angriffe auf die jüdische Bevölkerung, Massenmorde, Folter, Vergewaltigungen, Pogrome und Brandanschläge auf Häuser und Synagogen. Die Behauptung, dass die jüdische Bevölkerung unter dem Bürgerkrieg litt, wäre eine Untertreibung. Litten Russen und Russinnen, Ukrainer und Ukrainerinnen, Weißrussen und Weißrussinnen und andere ethnische Gruppen oder Nationalitäten unter dem bewaffneten Konflikt, dann litten Jüdinnen und Juden doppelt oder sogar dreifach, da sie methodisch und vorsätzlich als religiöse und ethnische Minderheit verfolgt wurden.

Während im Bürgerkrieg ganze Landstriche in einen Abgrund aus Chaos und Blutvergießen stürzten, ging die Bevölkerung ganz wie in den alten Zeiten dazu über, Jüdinnen und Juden pauschal die Schuld zu geben und Angst, Frust und Aggressionen an ihnen auszulassen. Die Einwohner und Einwohnerinnen der Schtetl wurden zur Zielscheibe wahren Terrors – zuerst vonseiten Deklassierter, Hooligans, Straßenkrimineller und gehässiger Nachbarinnen und Nachbarn durch die Zivilbevölkerung, dann auch durch die verschiedenen Armeen, bewaffnete Streitkräfte, Meuten und Banden. Gegen solche Willkür existierten keine Schutzmechanismen. Bis zum Ende des Bürgerkriegs war die jüdische Gemeinde vollständig sich selbst überlassen.

Die Straflosigkeit, die auf das Töten der jüdischen Bevölkerung an der Kriegsfront folgte, war absolut. Darüber hinaus wurde das Töten wehrloser Menschen durch die Weiße Armee und auch durch andere Armeen perverserweise als „Tapferkeit“ oder sogar „Heldenmut“ angesehen. Dementsprechend schrieb der Militär A. A. Walentinow in seinem „Krimepos“ über einen der Adjutanten der Freiwilligenarmee, der berüchtigt dafür war, 1919 innerhalb von zwei Stunden 168 Juden erhängt zu haben. Laut Walentinows Aufzeichnungen „rächte [der Adjutant, Anm.] seine Verwandten, die auf Anweisung eines jüdischen Kommissars abgeschlachtet oder erschossen worden waren“1.

Beinahe schockierender als die Morde selbst ist die Tatsache, dass ein solcher Mörder im Hauptquartier der Weißen Armee toleriert und nicht exekutiert wurde. Weiters war das Motiv jener Zeit charakteristisch: die Rechtfertigung von Hinrichtungen „aus Rache“ für die Familie, was für sich ein hässliches antisemitisches Klischee darstellte. Zur Zeit des Bürgerkriegs beruhte dieses Klischee auf dem Mythos, dass die bolschewistische Macht in Händen jüdischer Kommissare lag. Da auch die Bolschewiken mordeten, hatten die Freiwilligen der Weißen Armee ihrer Wahrnehmung nach keine andere Wahl, als kommunistische Kommissare zu töten, die wiederum laut ihren Hirngespinsten großteils Juden waren.

All dies war antisemitischer Unsinn. Aber wo lagen dessen Wurzeln? Der offizielle Grund für den Mythos jüdischer Bolschewiken stand damit in Zusammenhang, dass viele der Bolschewiken in Führungspositionen jüdischen Familien entstammten und ein Pseudonym angenommen hatten. Leo Trotzki wurde zum Pseudonym für Leib Bronstein. Lew Kamenews wirklicher Name war Lew Rosenfeld. Karl Radeks Name war Karol Sobelsohn, und W. Wolodarsky hieß in Wirklichkeit Moisei Goldstein. Wie dem auch sei, im Gegensatz zu den simplen Theorien der Antisemiten hatten die Bolschewiken mit ihren Wurzeln gebrochen und waren zu eingeschworenen Marxisten, Atheisten und Internationalisten geworden.

Der Prozentsatz von Juden und Jüdinnen zuerst in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und danach in der Kommunistischen Partei war tatsächlich sehr gering. Die Februarrevolution und der darauffolgende Oktoberputsch hatten politische, soziale, wirtschaftliche und historische Gründe, die mit Judentum, Ethnizität oder Religion nichts zu tun hatten.

Der antisemitische Mythos jüdischer Kommissare hielt sich dennoch hartnäckig. Grund dafür war, dass Antisemitismus in Russland tief verwurzelt war. Seine Anfänge sind bis in die jüdische Siedlung im Kiewer Rus zurückzuverfolgen, wo Ritualmordlegenden gang und gäbe waren, laut denen Juden Nicht-Juden ermordeten, um Blutopfer zu bringen. Bereits im Jahr 1113 kam es im Judenviertel Kiews zu Ausschreitungen und Pogromen sowie zu weiteren Exzessen. Die Problematik von Antisemitismus wurde damals in mehreren alten Quellen dokumentiert.2

Die feindselige Haltung der herrschenden Klasse, der Fürsten und der Orthodoxen Kirche führte zu Misstrauen, Schikanen und Hass Fremden gegenüber, und als fremd wurde auch die jüdische Bevölkerung wahrgenommen. Diese Indoktrinierung hatte die Verfolgung von Juden und Jüdinnen, den Kampf gegen die „Ketzerei der Judaisierer“, Diskriminierung und die skrupellosen Pogrome des Kosakenführers Bohdan Chmelnyzkyj im 17. Jahrhundert zur Folge.3

Über viele Jahrhunderte hinweg kann in der Politik der Großfürsten und in weiterer Folge der Zaren – von Iwan dem Schrecklichen bis zu Nikolaus II. – ein klares antisemitisches Motiv verfolgt werden. Die Folgen waren legalisierte Verfolgung durch die Verwaltung, erhöhte Steuern, Verbannungen, die Schaffung eines Ansiedlungsrayons und vielerlei juristische Verfolgung basierend auf falschen Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden. Sie wurden immer wieder der Ritualmorde bezichtigt, wie zum Beispiel im Straffall des Ritualmords von Welisch (1823–1835), der sich elfeinhalb Jahre hinzog. 42 jüdische Angeklagte wurden bis zu neun Jahre in Haft gehalten, gefoltert, kamen teilweise zu Tode und wurden letztlich freigesprochen.4

1882 nahmen nach der Ermordung von Zar Alexander II. und dem Aufstieg des antisemitisch geneigten Alexander III. antijüdische Verfolgungen und Pogrome zu. Die „Maigesetze“ traten in Kraft.5 Diese restriktiven Gesetze verboten Juden und Jüdinnen, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, Land zu pachten, an christlichen Feiertagen Handel zu betreiben und außerhalb von Schtetln und Dörfern Grund und Boden zu erwerben. Gewalt und Unterdrückung auch durch die Verwaltung führten zur Abwanderung Tausender Jüdinnen und Juden aus den westlichen Grenzgebieten.

Abseits dieser Entwicklungen bemühten sich die Rechtsgerichteten im Russischen Reich, Revolution und Sozialismus mit angeblichem jüdischem Einfluss in Verbindung zu bringen. Einer der Ersten, der die Idee eines „fremden“ Charakters der revolutionären Bewegung in Russland formulierte, war der konservative Historiker D. I. Ilowajskij. Der Autor zahlreicher Geschichtsbücher argumentierte, dass russische Revolutionäre nichts weiter als ein blindes Werkzeug in der Hand der Polen und Juden seien.6 Andererseits, wie auch Sozialrevolutionär und Journalist Mark Wischnjak festhielt, war es wohl kaum nur die extreme Rechte, die behauptete, dass die Russische Revolution das Werk von Ausländern und Außenstehenden sei.7 Etliche politische Strömungen behaupteten dies. Wie dem auch sei, diese Vorstellung eines Imports der Revolution aus dem Westen etablierte sich in konservativen Kreisen, da sie der Elite und ihrem angeblichen Patriotismus schmeichelte.

Trotzdem ist der Hauptgrund für die erfolgreiche Etablierung von Antisemitismus in Russland anderswo zu verorten. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die Monarchie und in den rechten Flügel der Russisch-Orthodoxen Kirche, die aktiv dem Judenhass und dessen aktiver Verbreitung verschrieben war. Insofern unterschied sich die Russisch-Orthodoxe Kirche kaum von der Katholischen Kirche und ihrer jahrhundertealten Dichotomisierung von Christen und Juden, der Aufhetzung von Christen/Christinnen gegen Juden/Jüdinnen und daraus resultierenden Kreuzzügen, mittelalterlichen Pogromen, Zwangskonvertierung zum Christentum und Verstoßung.8

Hier sei angemerkt, dass außer orthodoxem Christentum und Katholizismus auch der frühe Protestantismus von Antisemitismus durchsetzt war. Ein berühmtes Beispiel findet sich in Martin Luthers Traktat „Über die Juden und ihre Lügen“ aus dem Jahr 1543. Er hielt es für ebenso aussichtslos, Juden zu bekehren, wie zu versuchen, den Teufel zu bekehren. Dieses Traktat ist durchzogen von blutrünstigen Forderungen nach der Verfolgung von Juden und Jüdinnen sowie dem Niederbrennen von Synagogen und Schulen, dem Abriss von Häusern, der Konfiszierung heiliger Schriften wie der Tora und dem Verbot von Predigten durch Rabbis bei Todesstrafe sowie dem Verbot des Umherziehens von Juden und Jüdinnen auf Landstraßen.9

Der Autor Felix Rachlin schrieb hinsichtlich der den Juden auferlegten Rolle des Krämers und Wucherers über den Unmut und sogar Hass, den diese Rollen in der Bevölkerung hervorriefen. Laut seinen Ansichten stammte diese Zuschreibung, die den traditionellen religiösen Judenhass anheizte, vom evangelikalen Gleichnis der Kreuzigung Christi. Rachlin schrieb:

„Die Tatsache ignorierend, dass Christus selber Jude war und dass das Evangelium von Juden geschrieben worden war, haben Generationen von Christen jahrhundertelang Hass und Verachtung für ‚das Volk Judas‘, ‚Heuchler‘, ‚Selbstsüchtige‘, ‚Verräter Christi‘ genährt. Heutzutage hat sich zu all diesen Bezeichnungen der Gedanke an Juden als ‚feine Pinkel‘, ‚Intellektuelle‘, die nichts dagegen haben, ‚unseren russischen Iwan‘ an der Nase herumzuführen, hinzugesellt.“10

Tief verwurzelt und genährt durch Mythen und Legenden, Zuschreibungen an „das Fremde“, „das Andere“, waren Antisemitismus und Judenhass in Russland also seit dem Mittelalter sowie während der jahrhundertelangen Herrschaft der Zarenfamilien. Und auch das 20. Jahrhundert sollte keine Veränderung der Lage bringen.

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9783706560962
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