Czytaj książkę: «The unseen souls»

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Delia Muñoz

The unseen souls

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Nico

2. Release me

3. Unsichtbare Seelen

4. Unerwarteter Besuch

5. Seelenjäger

6. Im Ausgang mit Nico

7. Zu jung

8. In der Kussecke

9. Unter sechs Augen

10. SMS von Nico

11. Teamwork

12. Pläne schmieden

13. Kampf um das Serum

14. Ein neuer Plan

15. In Gefangenschaft

16. Gegner und Freund

17. Das berüchtigte Serum bei Nacht

18. Zu guter Letzt

Extrakapitel: Eine Weihnachtsunterhaltung

Extrakapitel: Zeichenkünste

Danksagung

Impressum neobooks

1. Nico

Jennifer packte ihr Skateboard und rannte aus dem Haus. Sie war wieder einmal zu spät dran und hatte keine Lust, sich von ihrem launischen Englischlehrer zurechtweisen zu lassen. Also sprang sie mit ihrem Lieblingstrick auf das Skateboard und rollte beinahe so schnell wie ein Jaguar auf Höchstleistung den kleinen Hügel hinunter, auf dem sie wohnte. Der Wind pfiff ihr die schwarzen Haare aus dem Gesicht und zerrte an ihren Kleidern. Jen fixierte die leere Straße vor sich, als ihr plötzlich eine Idee kam. Naja, die Idee kam ihr, als sie an dem geheimnisvollen Haus vorbeifuhr, dank dem sie ihre Kräfte hatte. Aber wie auch immer, sie musste schnell zur Schule. Und glücklicherweise war die Straße leer, also würde es keiner merken, wenn Jen auf einmal verschwinden würde, oder? Das Mädchen riskierte einen Blick nach hinten - keine Menschenseele war zu sehen. Abrupt hielt sie an und nahm das Board in die Hand. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und stellte sich vor, wie sie stehen blieb, während sich die Erde unter ihr weiterdrehte. Der Schulhof würde auf sie zukommen und ihr die Möglichkeit bieten, dort zu landen. Unsichtbar, natürlich.

Jennifer spürte, wie sie den Boden unter den Füssen verlor und ein Kribbeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Es rauschte in ihren Ohren und für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Dann ließ das Rauschen nach und der Druck auf ihrem Körper verschwand. Sie prallte hart auf etwas auf und als sie die Augen wieder öffnete, stand sie mitten auf einer Bank im Schulhof, das Board immer noch umklammert. Sie musste aber auch genau auf einer Bank landen! Wütend über ihre Unfähigkeit zu teleportieren, stieg sie von der Bank runter und wich überrascht einem Mädchen aus, das auf ihr Handy schauend vorbei schlenderte. Hastig blickte sie an sich herunter und stellte erleichtert fest, dass ihr Körper spurlos verschwunden war, genauso wie ihr Board, das sie ja mit einer Hand festhielt. Das Mädchen hätte sie also auch nicht auf der Bank landen sehen, wenn sie ausnahmsweise ihr Handy beiseitegelegt hätte. Die Schulklingel riss sie aus ihren Gedanken. Panisch schaute sie sich nach einem verlassenen Platz um, an dem sie sich wieder sichtbar machen konnte. Ohne viel zu überlegen, rannte sie ins WC, das nun verlassen war und bloß von Schimpfwörtern verziert wurde, die die Schüler auf die Wände geschrieben hatten. Ein Kribbeln ging durch ihren Körper und sie merkte, wie sie wieder sichtbar wurde. Erleichtert eilte sie aus dem WC und rannte die Treppe hoch in ihre Klasse. Kurz vor der Tür kam sie jedoch schlitternd zum Stehen, als sie ihren verhassten Englischlehrer vor der Tür stehen sah. Seine ganzen hundertsechzig wütenden Zentimeter warteten mit zusammengekniffenen Augen, bis Jen angekommen war.

Jennifer seufzte. Ihr Englischlehrer hatte etwas gegen sie, seit sie ihm erklärt hatte, dass der Beamer nicht dank einer Fehlfunktion nicht funktionierte, sondern aufgrund seiner mangelnden technischen Fähigkeiten, da sich sein Studium nur darauf bezogen hatte, wie man Kinder mit Worten zu Tode ärgert, nicht aber darauf, moderne Beamer mit Worten anzuspornen. Dabei hatte Jen ihm nur helfen wollen! Das war doch kein Grund, jemanden zu hassen, fand sie.

„Das Tragen von Kopfbedeckungen ist im Schulgebäude nicht erlaubt“, begrüßte er sie, die Arme verschränkt.

Jen wollte schon empört erwidern, sie trüge keine Kopfbedeckung, bis ihr einfiel, dass sie tatsächlich einen Cap trug. Sie mochte den Cap sogar sehr, vorne stand mit weißer Schrift „Enjoy the moment“ drauf, der Cap selbst aber war größtenteils schwarz. Nur ganz fein waren violett die Umrisse der Gebäude New York City's auf den Cap gedruckt – eigentlich nicht ganz passend, wo sie doch in London wohnte. Hastig nahm sie ihn ab und drehte ihn nervös in den Händen umher.

„Tut mir leid“, behauptete sie. Für sie war der Cap jedoch beinahe lebenswichtig. Denn nur wenn sie ihn trug, konnte sie ihre Magie nutzen. Genau genommen ginge auch eine andere Kopfbedeckung, aber zum Beispiel ein Zylinder war doch um einiges weniger stylisch, dachte sich Jen. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass ihr Englischlehrer, genannt Gollum oder, offizieller, Herr Miller, sie immer noch wütend anfunkelte.

Jen hob die Augenbrauen. „Darf ich nicht rein?“ Sie deutete auf die weiße Zimmertür, die sie immer ein wenig an ein Krankenzimmer erinnerte.

Herr Miller überhörte die Frage, dachte aber nicht daran, die Tür freizugeben. Jen deutete das als ein Nein. „Du bist schon wieder zu spät! Bist du dir dessen bewusst, Jennifer?“ Er schimpfte so laut, dass bestimmt alle Schüler und Schülerinnen ihn hören konnten.

„Ja.“ Natürlich wusste sie, dass sie zu spät war. Sonst würde sie doch nicht so hetzen!

„Das geht absolut nicht! Das ist jetzt bereits das dritte Mal in drei Wochen. Was hast du dazu zu sagen?“

„Mein Wecker ist kaputt. Die Batterie läuft manchmal plötzlich nicht mehr und die Uhr wird langsamer.“

Gollum lachte, aber es klang nicht fröhlich, sondern spöttisch. „Natürlich! Dein Wecker ist kaputt. Ich möchte, dass du bis zur nächsten Englischstunde einen vierseitigen Aufsatz über die Zeit schreibst. Vielleicht bekommst du dann ein bisschen mehr Gefühl dafür“, erklärte er ihr.

Jen starrte ihn entgeistert an, doch bevor sie protestieren konnte, fügte er noch hinzu: „Und jetzt verlass bitte den Unterricht.“

Das war ja wohl die Höhe! Und überhaupt war sie ja nicht einmal bis ins Klassenzimmer gekommen. Okay, sie war ein paar Mal zu spät gekommen, aber deswegen einen 4-Seitigen Aufsatz schreiben?! Trotzig setzte sie den Cap wieder auf und antwortete, um Selbstbeherrschung ringend: „Aber natürlich.“ Dann drehte sie sich um, warf sich ihr langes Haar über die Schulter und stolzierte den Gang entlang aus der Schule raus. Immerhin musste sie jetzt zwei Englischlektionen weniger in der Schule herum sitzen. Sobald sie vor dem Schulgebäude angekommen war, stellte sie sich wieder auf ihr Board und fuhr in Richtung ihres Hauses. Vor dem Hügel hielt sie an, plötzlich unsicher.

„Ich gehe jetzt ganz bestimmt nicht nach Hause!“, sagte sie leise zu sich selbst - die Gefahr, dass ihre Mutter noch dort war, war zu groß. Sie wollte ihr nicht erklären müssen, warum sie schon wieder nach Hause kam. Also eilte sie auf ihren Lieblingsort zu: Das Haus Lupos.

Jen hatte sich bis jetzt nicht erklären können, weshalb das Haus einen Namen trug, aber das war noch das Normalste am Ganzen. Während sie auf Lupos zuging, konnte sie wie immer den Blick nicht von dem alten Gruselhaus lassen. Die Fenster waren verbogen und schmutzig, die Türe war alt und klemmte seit längerem und die Wände waren einst von einem hellen Weiß gewesen, jetzt aber von Spinnenwaben überzogen, mit Sprüngen im Beton verziert und so grau wie die Haare ihres Großvaters Martin. Aus irgendeinem Grund schien die Sonne jeweils von einem bestimmten Winkel aus, sodass das Haus gespenstisch aufleuchtete.

Aber im Laufe der Zeit hatte sich Jen an das mysteriöse Aussehen gewöhnt und empfand es nicht mehr als bedrohlich. Sie betrat das Erdgeschoss und eilte die verstaubte Wendeltreppe hinauf, bis sie beim Dachboden ankam. Der Dachboden war vollgestellt mit alten Möbeln und grässlichen Bildern, aber das störte Jen nicht mehr. Das verlassene Haus bot ihr seit fünf Jahren einen Zufluchtsort, der einzige Ort, an dem sie in Ruhe gelassen wurde. Die ursprüngliche Besitzerin des Hauses war vor fünf Jahren gestorben, scheinbar war es in den Besitz eines Enkels übergegangen. Aber Jen hatte seither noch nie jemanden hier angetroffen, mal von Ratten abgesehen. Für gewöhnlich hielt sich keine Menschenseele hier auf.

Bis heute.

Vor ihr saß ein Junge und starrte sie an.

Jen starrte zurück.

Und auf einmal war der Junge weg.

Jen erschrak und blinzelte, und als sie wieder hinsah, war der Junge auf einmal wieder da. Er saß an der genau gleichen Stelle und starrte sie an. Jen holte tief Luft, plötzlich verspürte sie leichte Kopfschmerzen. Wahrscheinlich war das nur ein Nebeneffekt von ihrer Wut auf Gollum und der Junge war gar nie weg gewesen. Doch die eigentliche Frage war, was machte der Junge überhaupt hier?

„Hallo“, sagte Jen, ausnahmsweise nicht so vorlaut und beäugte die Kiste, auf der er saß.

Der Junge nickte ihr zu, sagte jedoch nichts. Das Erste, was Jen auffiel, war, dass er stechend blaue Augen hatte.

„Was machst du hier genau?“, fragte Jen, da er nicht sonderlich gesprächig wirkte.

„Siehst du doch.“ Seine Stimme war tief und weich, doch das milderte die abweisende Antwort nicht.

„Wie kommst du darauf, einfach hier rein zu gehen? Wer bist du überhaupt?“ Jen wurde langsam wütend.

Der Junge fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. „Wie kommst du auf die Idee, einfach hier rein zu kommen?“

„Das ist seit 5 Jahren mein Ort!“, entrüstete sich Jen, wohlwissend, dass sie keinen rechtlichen Anspruch auf das Haus hatte.

„Tja, jetzt bin ich halt auch hier.“ Der Junge zuckte mit den Schultern und Jen hätte nie gedacht, dass man diese Geste so arrogant hinbekommen konnte.

„Pfff“, machte Jen wütend. Ihr fiel beim besten Willen nichts Intelligenteres ein.

„Wie heißt du denn?“, fragte der Junge beinahe schon amüsiert. Okay, Punkt für ihn, das war etwas intelligenter.

„Jen.“

„Ich meine deinen richtigen Namen.“

Punkt wieder abgezogen. „Jennifer“, schnaubte sie. „Aber allen nennen mich Jen.“

„Aha.“ Er nickte, als hätte er dadurch die Weisheit des Lebens erlangt.

„Wie heißt du?“ Jen funkelte ihn an.

„Nico.“

Für einen Moment war sie sprachlos. Nico?! Das war doch auch eine Abkürzung!

„Ich meine deinen richtigen Namen“, äffte sie ihn nach.

Er lachte, was Jen ziemlich überraschte. Sie hätte nicht gedacht, dass er etwas anderes als ein arrogantes Mundwinkelzucken hinbekommen würde. Andererseits kannte sie ihn auch erst seit zwei Minuten. „Nico ist mein voller Name. Das ist keine Abkürzung.“

Überrascht fuhren Jens Augenbrauen in die Höhe. Als Mr.-keine-Abkürzung wieder weg schaute und die Unterhaltung offenbar für beendet hielt, setzte sich Jen auf eine andere Kiste und begann missmutig, ihre Sachen auszupacken und machte sich an den Englischaufsatz.

„Hausaufgaben?“ Nico hatte offenbar doch beschlossen, dass sie interessanter sei als das misslungene Ölfarbenbild einer alten Frau. Das war aber nett von ihm.

„Ja.“

„Hast du keine Schule?“

„Hast du keine Schule?!“

„Doch. Aber heute nicht. Lehrersitzung oder so.“

„Hm“, machte Jen und fragte sich, in welche Schule er wohl ging. In dem Vorort von London gab es viele gute Schulen – selbst wenn es nicht Internate waren – und Jen wusste knapp die Namen der anderen, also könnte sie noch lange raten, wo Nico in die Schule ging.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, bemerkte Nico nach einer Weile.

„Gut beobachtet“, knurrte Jen und wünschte sich mit einem Mal, dass sie wieder in die Schule zurückkonnte. Sie warf sich die rabenschwarzen Haare über die Schulter und schrieb den Titel des Aufsatzes auf das Blatt.

Zeit... Hm, was gab es da zu sagen?

Jen kaute ungeduldig auf ihrem Bleistift herum und starrte Löcher in die Luft. Aber ihr fiel einfach nichts Gutes zur Zeit ein. Sollte sie über die Aufteilung der Stunden am Tag reden, die Tage im Monat und die Monate im Jahr? Oder etwas ganz anderes? Vielleicht über Stress und kaputte Wecker? Ihr Blick huschte zu Nico, der immer noch an derselben Stelle saß, und sie überlegte sich, ob sie vielleicht ihn um Hilfe bitten sollte.

Er begegnete ihrem Blick und hob fragend eine Augenbraue, sodass diese unter seinem dichten schwarzen Haar verschwand, das ihm ins Gesicht fiel. Wieso konnte er eine Augenbraue hochheben? Jen hatte dies tagelang geübt, aber außer Muskelkater am Auge - dass es das überhaupt gab?! - nichts erreicht.

Schnell sah sie wieder auf ihr Blatt, konnte aber immer noch Nicos Blick auf ihr spüren. Nein, ganz bestimmt würde sie ihm nicht gestehen, dass sie nicht wusste, was sie schreiben sollte. In Mangel einer Beschäftigung nahm sie ihr Etui aus der Schultasche und spitze ihren Stift. Dabei rutschte ihr das lose Pensum aus dem Notizblock, das auf ihrem Schoß lag. Und es segelte ausgerechnet vor Nicos Füße.

Er hob es auf, und für eine Sekunde war Jen überrascht, dass er es ihr zurückgeben wollte. Doch dann merkte sie, dass er es bloß ansah.

„He, das ist meins!“, protestierte sie.

„Ich weiß.“ Er reichte es ihr und Jen riss es ihm aus der Hand.

„Danke... Was ist?“ Jens Vermutung war doch nicht so fehl am Platz gewesen, was sein Lächeln betraf. Er hatte arrogant den einen Mundwinkel hochgezogen und schüttelte sich nun eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Schwänzt du etwa Englisch?“, fragte er belustigt. „Dabei gehst du doch ziemlich frei mit Wörtern um.“

Irgendwie schien dieser Nico die Fähigkeit zu besitzen, sie innert wenigen Sekunden auf 180 zu treiben. Trotz allem musste Jen zugeben, dass er gut aussah. Er hatte breite Schultern und trug ein ärmelloses blaues Shirt, das einen Blick auf seine muskulösen Arme freigab. Und es ließ sich nicht leugnen, dass seine Lippen voll waren und dass das amüsierte Grinsen Grübchen an den Mundwinkel erscheinen ließ. Er war irgendwie... attraktiv.

Jen kniff die Augen zusammen und verscheuchte den Gedanken sofort wieder. „Ich schwänze nicht. Ich bin nur zu spät gekommen“, erklärte sie und versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.

„Was machst du denn hier?“ Es klang beinahe so, als würde er sie am liebsten aus dem Fenster werfen und nie wieder sehen.

„Mein Lehrer Gollum mag mich nicht besonders...“

„Dabei bist du doch ein so reizendes Mädchen“, unterbrach Nico sie und legte dabei den Kopf schräg.

„Halt die Klappe!“, fauchte sie. „Ich bin voll nett!“

Nico lachte herzlich und Jen sah sich nach etwas um, das sie nach ihm werfen konnte. Als er ihren Blick sah, hörte er auf zu lachen und meinte: „Okay, sorry, erzähl weiter.“

Ohne es zu wollen, spürte Jen, dass ihre Miene weicher wurde, irgendwie besänftigte es sie, dass er sich entschuldigt hatte. Und zum ersten Mal seit ihrer Konversation zeigte er Anteilnahme an ihren Worten; er beugte sich ein wenig vor und hatte ausnahmsweise mal keinen selbstgefälligen Blick drauf. Jen schluckte. „Jedenfalls hat Gollum mir gesagt, ich solle einen vierseitigen Aufsatz über die Zeit schreiben, weil ich schon dreimal zu spät gekommen bin. Und dann warf er mich aus dem Unterricht.“

Nico schaute sie fragend an. „Gollum? Der heißt wirklich wie diese Kreatur aus Herr der Ringe?“

Jen lachte. „Nein, meine Freundin und ich nennen ihn nur so. Eigentlich heißt er Herr Miller.“

„Ach so, verstehe“, meinte Nico. „Aber ist das nicht ein wenig übertrieben, dich gleich aus dem Unterricht zu werfen, bloß weil du zu spät kamst?“

„Wem sagst du das“, brummte Jen.

„Was hast du ihm denn angetan?“

„Wieso denken immer alle, ich sei unhöflich?“, rief Jen aus. Wo sie sich vor zwei Sekunden noch verstanden gefühlt hatte, hatte sie nun wieder große Lust, Nico das misslungene Ölbild anzuschmeißen.

„Das muss an deiner natürlichen Zurückhaltung liegen“, erwiderte Nico trocken und erntete einen weiteren erzürnten Blick von Jen. Diese Unterhaltung war echt anstrengend! Hastig beendete sie die Erklärung. „Ich habe ihm gesagt, dass der Beamer nicht kaputt sei, sondern dass er ihn einfach nicht bedienen könne, weil er in seinem Englischstudium gelernt hat, wie man Schüler schikaniert und nicht Beamer“, erwiderte sie trocken.

Nico lachte ein wenig, wandte dann aber kommentarlos den Blick wieder ab und stierte auf das Ölgemälde der alten Frau. Seine Haltung war von einer Sekunde auf die andere von interessiert zu abweisend gewechselt, Jen wusste wirklich nicht, was sie davon halten sollte. Seufzend schaute sie wieder auf ihr Blatt und ignorierte den Stich, den ihr diese Reaktion erteilte.

Die Zeit verging, Nico starrte das Ölbild an, Jen starrte ihr Blatt an. Aber außer dem Wort „Zeit“ gab es da nicht viel zu lesen.

„Du musst gehen. Sonst kommst du wieder zu spät“, sagte Nico auf einmal.

Jen zuckte zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass er plötzlich zu sprechen begann. Sie warf einen Blick auf die Uhr: 9:20 Uhr.

„War das grad eine Hilfe?“, fragte sie erstaunt. „Oder willst du mich einfach loswerden?“

Nico zuckte mit den Schultern und Jen sackte das Herz in die Hosen.

Okay, kein Problem, er will mich loswerden. Was kratzt mich das? Er ist nur ein arroganter Mistkerl.

Was auch immer der Grund war, er hatte recht, auch wenn es Jen nicht gefiel, zugeben zu müssen, dass Mr. Asozial recht hatte. Also packte sie schnell ihre Sachen zusammen und eilte gerade noch rechtzeitig zur Schule.

Es war kurz nach vier, Jen fuhr auf dem Skateboard nach Hause. Als sie sich der kleinen Hütte am Rand der Stadt näherte, zog sich ihr Magen ängstlich zusammen. Was war, wenn Gollum mit ihrer Mutter telefoniert hatte und gesagt, dass Jen zum dritten Mal zu spät gekommen war? Sie stieg ab ihrem Board und ließ sich Zeit, die Treppe zur Haustüre hinaufzugehen. Gerade als sie ihren Schlüssel ins Schloss stecken wollte, öffnete sich die Tür schwungvoll und ihre Mutter stand teufelsgleich im Türrahmen. Jen zuckte zusammen. Bingo.

„Hi Mom. Wie war's bei der Arbeit?“

„Spar dir die Höflichkeiten“, fuhr sie ihre Tochter an und ließ sie hinein.

Eingeschüchtert trat Jen in den Gang und stellte das Board an die Wand.

„Herr Miller hat angerufen“, erklang Moms eisige Stimme hinter ihr.

Jen sackte das Herz erneut in die Hose. Gollum hatte schon mehrmals angedroht, ihrer Mutter anzurufen, aber wirklich getan hatte er es noch nie. Und Jen hatte es auch nicht für nötig gehalten, ihrer Mutter von ihren Absenzen und Unterrichtsverweisungen zu erzählen. Sie hielt den Atem an und drehte sich um.

„Was hat er gesagt?“ Schließlich wollte sie nicht mehr verraten als nötig.

„Du bist zum dritten Mal zu spät gekommen! Er hat dich vom Unterricht verwiesen!“, schrie ihre Mutter auf einmal los und Jen blinzelte verwundert. Ihre Mutter verlor selten die Beherrschung, aber wenn, dann war es gar nicht lustig. Und dummerweise kam das in letzter Zeit immer öfters vor.

„Ich hab dir doch gesagt, dass mein Wecker kaputt ist!“, rief Jen. Ihre Mutter war nicht der Typ, der nie gespickt oder geschwänzt hatte, warum fand sie also Verspätungen so schlimm?

„Einen Wecker kann man flicken! Und das war nicht das erste Mal!“, erzürnte sich Mom.

„Mom, ich bin ja nur zu spät gekommen. Es gibt Schlimmeres“, versuchte Jen sie zu besänftigen - eine völlig falsche Taktik, wie sie jetzt bemerkte.

„Nur zu spät gekommen?!“, wiederholte Mom und ihr Gesicht lief rot an. „Er hat dich vom Unterricht geschickt!“

Das hast du schonmal gesagt.

Jen blickte zu ihr und überlegte sich, weshalb sie so zornig darüber war. Vielleicht hatte sie doch erfahren, was Jen ihm über den Beamer gesagt hatte. Aber dann hätte sie das wohl schon gesagt und sie gerügt, dass man so nicht mit einem Lehrer sprach. Das hieß, sie wusste tatsächlich nur von den Verspätungen. Musste sie deswegen so herumschreien, dass Nico im Haus Lupos das sogar hören könnte? Jen wurde immer wütender und wollte ihre Mutter am liebsten anschreien, dass sie bestimmt auch schon mal zu spät gekommen war und das nun mal passieren konnte – es war ja keine Absicht! Sie setzte zu sprechen an.

Aber dann sprach, beziehungsweise schrie, ihre Mutter schon weiter: „Und statt dass du nach Hause gekommen bist, wie es jedes normale Kind getan hätte, hast du irgendwo in der Stadt herumgelungert! Du hättest weiß-Gott-wo sein können und keiner hätte es gemerkt!“

Das brachte ein ganz anderes Licht in die Sache! Sie reagierte offenbar nur so übertrieben, weil sie sich Sorgen gemacht hatte! „Mom, du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!“, rief Jen halb lachend und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Daher wehte also der Wind!

Ihre Mutter schloss und öffnete den Mund und schnappte wie ein Fisch am Land nach Luft. Offenbar hatte sie nicht erwartet, dass Jen ihren Grund zur Schelte erriet. Erschöpft lehnte sie sich an das dunkle Geländer der Treppe, die nach oben führte.

„Es tut mir leid. Das nächste Mal schreibe ich dir eine SMS, okay?“, fuhr Jen schnell fort, bevor ihre Mutter sich fassen konnte.

Diese senkte den Blick. „Okay, mein Schatz“, sagte sie leise. „Tut mir leid, dass ich so geschrien habe. Aber du musst wirklich deinen Wecker flicken! Es geht nicht, dass du dich mit Herrn Miller zerstreitest“, fügte sie wieder etwas strenger hinzu.

„Okay, ich kauf mir einen neuen Wecker. Die Batterie habe ich nämlich schonmal ausgewechselt und es geht trotzdem nicht.“

Ihre Mutter nickte zufrieden und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Komm um sechs Uhr wieder, dann gibt es essen, ja?“

Jen nickte und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Ihre Mutter und sie verstanden sich meistens wieder recht schnell, vielleicht lag es auch daran, dass sie zu zweit eine glückliche Mutter-Tochter-Familie bildeten. Jens Vater war abgehauen, noch während ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen war, und hatte sich nie mehr gemeldet. Auch wenn diese Aktion eigentlich genug daneben war, dass Jen ihn getrost hassen könnte, hatte sie anfangs versucht, ihn per Telefon oder Email zu erreichen, aber er ignorierte sie geflissentlich. Nicht einmal auf ein Geburtstagsgeschenk, das sie ihm mit fünf Jahren gemalt hatte, hatte er reagiert. Also hatte Jen das, wie so vieles anderes auch, aufgegeben. Auch Jens Mutter war danach nie mehr eine ernste Beziehung mit einem anderen Mann eingegangen, was Jen jedoch sehr schade fand. Sie hatte Besseres verdient!

10,63 zł