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Verwandte Lügen

Inhalt

1. KAPITEL EINS

2. KAPITEL ZWEI

3. KAPITEL DREI

4. KAPITEL VIER

5. KAPITEL FÜNF

6. KAPITEL SECHS

7. KAPITEL SIEBEN

8. KAPITEL ACHT

9. KAPITEL NEUN

10. KAPITEL ZEHN

11. KAPITEL ELF

12. KAPITEL DREIZEHN

13. KAPITEL VIERZEHN

14. KAPITEL SECHZEHN

15. KAPITEL SIEBZEHN

Epilog

ÜBER DIE AUTORIN

Die Handlung in diesem Buch ist frei erfunden. Alle Namen, Personen, Orte und Ereignisse sind Produkte der Fantasie der Autorin und existieren in Wirklichkeit nicht. Jede Ähnlichkeit mit realen Orten, Institutionen sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Verwandte Lügen 2019 Copyright © Dawn Brower

Cover-Grafik und Bearbeitung von Victoria Miller

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung elektronisch oder gedruckt benutzt oder reproduziert werden, es sei denn, es handelt sich um kurze Zitate, die in Rezensionen enthalten sind.

KAPITEL EINS

Amethyst schlenderte auf ein idyllisches Hotel zu; das malerische weiße Haus war von einer weiten Veranda umgeben. Es war eher eine Pension als ein echtes Hotel. Die Tatsache, dass es einen Privatstrand hatte, machte es noch verlockender. Als sie den Parkplatz überquerte, bewunderte sie die Wellen mit der weißblauen Gischt, die sich am Ufer brachen. Seen und alle Arten von Gewässern hatten auf sie irgendwie eine entspannende Wirkung. Sie schloss die Augen und atmete den Geruch des Wassers in der Luft ein. Ein Gefühl der Ruhe überkam sie und sie fühlte sich zu Hause, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Zuhause eigentlich bedeutete.

Sie öffnete die Augen wieder und setzte ihren Weg zum Haupteingang fort. Sie erreichte ihn und betrat ein klimatisiertes Büro. An der Rezeption saß ein Mann, dessen umwerfendes Aussehen sie so überwältigte, dass ihr die Luft wegblieb. Im Profil sah man sein ebenholzschwarzes Haar, das ihm in ungebärdigen Wellen in den Nacken fiel, ein dazu passender Dreitagebart zierte seine kantige Kieferpartie. Mit den Zähnen biss er sich leicht auf die Lippen, so als ob er gereizt oder vielleicht nur in Gedanken versunken wäre. Amethyst hasste es beinahe, ihn zu unterbrechen, aber sie hatte bereits eine längere Reise hinter sich und brauchte dringend eine kleine Pause auf ihrem Zimmer, bevor sie mit ihren Nachforschungen begann. Sie räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. „Bitte entschuldigen Sie …“

Der Mann drehte sich sofort zu ihr um. Er schenkte ihr jetzt seine ganze Aufmerksamkeit und wieder verblüffte sie die pure männliche Schönheit, die sie vor sich sah. Er blickte sie an, Überraschung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, seine Augenbrauen hoben sich. Im Handumdrehen überwand er seine Verblüffung. Ihre Lippen öffneten sich und ihr blieb die Luft weg. Männer, die so atemberaubend aussahen, sollten verboten sein … Er erhob sich von seinem Platz hinter dem Empfangspult und kam langsam auf sie zu, um sie zu begrüßen, als sei nichts Denkwürdiges passiert. Sie rang um Fassung und riss sich mühsam zusammen, bevor er sie ansprach. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Amethyst biss sich anerkennend auf die Lippen. Unter seinem indigofarbenen Hemd zeichneten sich die Muskeln ab und die Jeans saß tief auf den Hüften seiner schlanken Figur. Verdammt … Amethyst weigerte sich, auf seinen Charme oder das umwerfende Gesicht hereinzufallen. Sie legte beide Hände auf das Empfangspult und antwortete: „Ich habe reserviert.“ Du lieber Himmel, hatte sie je zuvor so überheblich geklungen? Was, zum Teufel, war los mit ihr?

„Wie heißen Sie?“

Amethyst, immer noch von seinem guten Aussehen geblendet, antwortete mit einem verwirrten „Wie bitte?“ Sie musste sich wirklich zusammennehmen, wenn ein schlichter Pensionsinhaber eine solche Wirkung auf sie hatte. Wenn ihm die Pension überhaupt gehörte … Er konnte ja auch ein einfacher Angestellter sein.

„Ich brauche den Namen, auf den Sie reserviert haben.“ Mit einem breiten, amüsierten Schmunzeln lehnte er sich jetzt über das Empfangspult. Er betrachtete sie mit unverhohlener Anerkennung, seine türkisfarbenen Augen schienen vor Interesse zu funkeln. Amethyst schluckte mühsam. Nein. Er war nichts für sie …

Sie bemühte sich nach Kräften, lässig zu wirken, als sie erwiderte: „Oh, tut mir leid, ich bin schon eine Weile unterwegs und ein bisschen zerstreut. Ich habe auf Amethyst S. Keane reserviert.“ Na prima, sie wirkte sowieso schon wie eine Idiotin und jetzt klang sie auch noch so. Der Typ wurde wahrscheinlich jeden Tag von allen möglichen Frauen angestarrt. Sie hatte sich gerade in die Schlange der Frauen eingereiht, die ihm zu Füßen lagen. Eine tolle Art, Eindruck zu machen. Gute Arbeit, Amethyst. Sie konnte nicht anders, sie ärgerte sich über sich selber. Meistens hatte sie alles im Griff. Sie hatte nämlich mit einer Mutter aufwachsen müssen, die Entscheidungen aus einer Laune heraus traf, aber aus irgendwelchen Gründen sorgte der Typ vor ihr dafür, dass sie unter kompletter Gehirnerweichung litt.

„Ihre Anfangsbuchstaben sind A.S.K.?“* (*ask: englisch für fragen) Der amüsierte Ausdruck kam in seine Augen zurück, als er sie genau betrachtete. „Heißt das, dass ich Sie alles fragen darf?“ Er klang unbeschwert, fast herzlich. Wahrscheinlich hörte sie nicht richtig oder sie wollte etwas heraushören. Eine schwierige Frage, sie war sich nicht sicher.

Vielleicht lag sie falsch, aber sie glaubte, dass er versuchte, mit ihr zu flirten. Amethyst hatte normalerweise nicht viel Freizeit, daher tendierten romantische Treffen mit potenziellen Partnern gegen Null. Der Mann könnte sich während ihres Aufenthalts als nützlich erweisen. Natürlich nur dann, wenn es ihr gelang, dass ihr Gehirn in seiner Gegenwart in die Gänge kam. Falls er ein Einheimischer war, könnte er ihr vielleicht bei den Nachforschungen behilflich sein. Dazu war es unbedingt geboten, zurückzuflirten. Sie klimperte so provozierend wie möglich mit den Wimpern und führte sein charmantes Wortgeplänkel fort. „Aber sicher, es steht auch so bei meinem Namen in der Zeitschrift, für die ich schreibe. Meine Mutter muss gleich gewusst haben, dass ich neugierig bin, also hat sie mir von Anfang an ein Warnetikett verpasst.“ Sie sagte ihm nicht, dass sie Chefredakteurin bei der Zeitschrift war, die ihr gehörte und von ihr geführt wurde … „ASK Magazine“ war ihr Kind, sie hatte es in ihren frühen Highschool-Jahren gegründet. Das war jetzt … drei Jahre her. Im Alter von siebzehn Jahren eine Zeitschrift ins Leben zu rufen war ein ehrgeiziges Unterfangen. Irgendwie war es ihr nicht nur gelungen, sondern sie hatte sie auch erfolgreich weiterbetrieben. Es bedeutete viel Arbeit, aber sie konnte sich nichts vorstellen, was sie lieber täte. ASK war ihr Leben und hatte sie, noch bevor sie achtzehn wurde, zu einer wohlhabenden Frau gemacht. Jetzt war sie fast zwanzig und konnte so ziemlich alles tun, wozu sie Lust hatte. Die Zeitschrift war hauptsächlich digital, aber man konnte sie auch gedruckt kaufen, falls das jemand lieber mochte. Im Zeitalter des Lustprinzips erzielte die digitale Ausgabe immer höhere Verkaufszahlen als die gedruckte Version jemals erreichen würde. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor ihr. Wenn sie seine Hilfe wollte, mussten ihre Flirtversuche besser werden. Sie war, ehrlich gesagt, eine Niete im Flirten und das war schon immer so gewesen.

„Wofür steht denn das S?” fragte er und lachte leise.

Sie seufzte, weil sie es wirklich hasste, ihren zweiten Vornamen zu gestehen, den Mutter ihr angehängt hatte. Die Anfangsbuchstaben waren lediglich praktisch aufgrund des Wortes, das sie bildeten. Amethyst hatte ihren Mittelnamen nie gemocht und konnte sich auch nicht vorstellen, ihre Meinung in absehbarer Zeit zu ändern. „Solstice“, gab sie widerwillig zu.

Er reagierte auf den ungewöhnlichen Namen nicht wie erwartet. Stattdessen schlug er eine völlig andere Denkrichtung ein und zeigte seinen eigenen Hang zur Neugierde. Ein ansteckendes Lächeln lag auf seinem gutaussehenden Gesicht, als er antwortete: „Das ist wirklich interessant. Ihre Mutter glaubte bei der Namenswahl an Kreativität. Haben Sie Geschwister? Tut mir leid, wenn das zu persönlich klingt, aber ich bin neugierig, ob sie den hohen Standard durchhalten konnte, den sie sich selber gesetzt hat.“

Amethyst schüttelte langsam den Kopf; sie war ganz benommen, weil sie direkt in die faszinierend blaugrünen Tiefen seiner Augen starrte. „Ich bin leider ein Einzelkind. Es war recht bald klar, dass sie kein zweites so tadelloses Kind wie mich produzieren konnte, also gab sie es auf. Warum noch mehr Versuche, wenn sie die Perfektion schon hinbekommen hat.“

Ihre Mutter war, ehrlich gesagt, äußerst flatterhaft, aber sie hatte keine Lust, ihre Tendenz zu Überreaktionen zu erklären. Sogar selbsternannte Melodramatiker verblassten oft beim Vergleich mit ihr.

„Ich kann nicht behaupten, dass sie da falsch liegt. Alles, was ich bisher sehe, ist ideal.“

„Was soll ich dazu sagen? Ich bin eben ziemlich perfekt.“ Bevor sie noch überlegen konnte, rutschte ihr dieser ironische Kommentar heraus, den sie nur gedacht hatte. Am Ende könnte diese Reise sogar Spaß machen. Immer vorausgesetzt, ihre Mutter würde nicht auftauchen und alles ruinieren. Lyoness Keane tat sich schwer, es länger an einem Ort auszuhalten.

„Ihre Mutter muss eine tolle Frau sein, wenn sie so eine wunderbare Tochter wie Sie hat.“ Seine Lippen zuckten leicht, als er dagegen ankämpfte, laut loszulachen.

Solche Kommentare zeigten, wie der äußere Schein trügen konnte. Als sie aufwuchs, hatte sie so viele verschiedene ‚Väter‘ gehabt, dass sie den echten nicht mal erkannt hätte, wenn er direkt vor ihr gestanden wäre. Sie wusste, dass ihre Mutter keine tiefen Gefühle für die Männer in ihrem Leben empfand. Sie waren einfach ein Mittel zum Zweck, um ihr über die Einsamkeit hinwegzuhelfen. Wenn die Beziehung ins Auge ging, nahm sie Amethyst und versuchte ihr Glück eben woanders. Leider wartete das Glück auch woanders nicht. Deshalb hatte Amethyst letztendlich keine Wurzeln und gehörte nirgendwohin.

„Äh, ja, Mutter sieht großartig aus.“ Das war keine Lüge. Lyoness Keane sah wunderbar aus und hätte Model werden können, wenn sie diese Laufbahn eingeschlagen hätte. Stattdessen wollte sie verwöhnt werden und fand reiche Männer, die sich ihrer annahmen.

„Bestimmt, da bin ich sicher“, antwortete er und sein Ton blieb freundlich. „Na gut, jetzt checken wir Sie mal ein.“ Er tippte auf ein paar Tasten des Computers. Dann blickte er auf und meinte: „Ich muss das jetzt fragen: Haben Sie einen Spitznamen? Amethyst ist schon recht umständlich.“

„Nein. Ich war schon immer Amethyst.“ Vielleicht sollte sie ja einen Spitznamen haben, aber das würde bedeuten, dass sie Freunde hätte, die sie so nannten. Was das anging war es nicht hilfreich, wenn man dauernd umzog. Daher gab sie nach einer Weile auf und blieb für sich. Das war teilweise auch der Grund, warum sie schon in sehr jungen Jahren ihre Zeitschrift gründen konnte. Sie tat nicht das, was normale Jugendliche machten; die Zeitschrift half ihr zu vergessen, wie einsam ihr Leben sein konnte.

Er lächelte und zwinkerte ihr zu, als er in die Tasten tippte. „Das müssen wir ändern, während Sie bei uns sind.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er den Bildschirm betrachtete. „Ach, da sind Sie ja. Ich sehe, dass Sie ein paar Wochen bei uns bleiben werden. Wenn Sie nicht mehr wissen, was Sie unternehmen sollen, dann kommen Sie doch einfach zu mir.“

Amethyst bekam bei seinen Worten große Augen. Hatte er sie gerade angemacht? Niemand hatte jemals so offen mit ihr geflirtet. Ihre Art des Flirtens von vorhin erschien ihr jetzt plump und unbeholfen. Wollte sie wirklich wissen, wohin das führte? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ein Mann jemals so angezogen hatte. Er war fast zu gutaussehend, es schmerzte, ihn anzuschauen. Nach ein paar Minuten des Schweigens begann er draufloszureden und riss sie zurück in die Gegenwart.

„Ich wollte eigentlich sagen, dass ich schon immer hier lebe und wahrscheinlich mehr hiesige Sehenswürdigkeiten kenne, als man auf irgendwelchen Websites findet. Du lieber Himmel, ich vermassle alles mit meinem Gerede. Ich heiße Cooper und würde mich total freuen, wenn ich ein bisschen Zeit mit Ihnen verbringen könnte, während Sie hier sind.“

Wie charmant. Er dachte, er müsste alles erklären. Amethyst mochte ihn sofort und dachte, dass sie ihn gerne besser kennenlernen würde. Sie lächelte ihn kurz und ermutigend an. „Nett, dich kennenzulernen, Cooper.“ Sie war völlig durcheinander … „Ich bin Amethyst, aber das weißt du ja schon.“ Konnte man eigentlich einen noch konfuseren Eindruck machen? „Kann ich jetzt den Zimmerschlüssel haben?“

Er hatte ihn in der Handfläche gehalten. Wenn sie richtig riet, dann wollte Cooper ihn einfach nicht loslassen. Er sah auf seine Hand hinunter und murmelte erstaunt: „Ach ja, genau, das wäre wahrscheinlich nützlich. Du hast Zimmer dreizehn. Es ist oben, am Ende des Flurs.“ Er reichte ihr die Schlüssel und zeigte zum Treppenaufgang neben dem Empfangsbereich.

„Danke“, antwortete sie, als er den Schlüssel in ihre Hand fallenließ.

„Ich wünsche einen schönen Aufenthalt.“ Ein Schatten der Enttäuschung lag in seinen Augen.

Sie wollte ihn zwar besser kennenlernen, aber auch keinen falschen Eindruck erwecken. Sie stürzte sich nicht auf jede Gelegenheit, mit einem Mann etwas anzufangen. Sie respektierte sich selbst zu sehr, um sich in den erstbesten gutaussehenden Mann zu verknallen, der bei ihr Gefühle auslöste. Amethyst Keane würde sich nicht so verhalten, als ob sie leicht zu haben wäre. Wenn sie sich entschied, dieses Ding mit ihm weiterzuverfolgen … dann wäre es eine sorgfältig überlegte Entscheidung. Er war nett und sie wollte später seine Hilfe in Anspruch nehmen, also weckte sie in ihm eine kleine Hoffnung, an die er sich klammern konnte. „Vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück.“

„Wirklich?“ Er zog neugierig die Augenbrauen hoch.

„Ich melde mich später, wenn ich mich ausgeruht habe.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ließ ihn stehen. Amethyst hielt kurz inne und betrachtete den Raum. Ihr fiel der kunstvoll eingerichtete Hauptbereich der Pension auf. Ein kleines Sofa und zwei Plüschsessel neben einem Tischchen standen vor dem offenen Kamin mit Marmorsims. Die Marmoreinfassung des Kamins wies detailliert ausgearbeitete Schnitzereien auf. Sie hätte gerne die Finger darüber gleiten lassen und jede Einzelheit studiert, aber dazu war später noch Zeit. Erst mussten dringendere Dinge erledigt werden, bevor sie sich irgendwelche Launen erlauben konnte. Sie wandte sich um, schenkte Cooper ihre ganze Aufmerksamkeit und lächelte ihn an, bevor sie auf die Treppe zuging. Vor dem Treppenaufgang drehte sie sich noch einmal um und sah, dass er sie wieder anstarrte.

Aber ja doch, ich kann mich an dir auch nicht sattsehen, dachte sie.

Sie lächelte ihn zurückhaltend an und sagte: „Ich habe vergessen zu fragen, wo man gut essen kann.“

Er begann zu strahlen, als ob er gerade den größten Preis seines Lebens gewonnen hätte. In diesem Lächeln lag Coopers ganzer überwältigender Charme. Amethyst neigte den Kopf und wieder kam ihr der Gedanke, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn näher kennenzulernen.

„Im Dorf gibt es nur zwei Lokale. Wahrscheinlich bist du auf dem Weg hierher schon daran vorbeigekommen. Ein kleines italienisches Restaurant, das wirklich tolle Pizzen und Nudelgerichte macht. Es heißt Giovanni’s. Wenn du lieber etwas Bodenständiges willst, dann schlage ich das North Point Café vor.“

Nun, das war ja eine größere Auswahl, als sie erwartet hatte. Sie nickte ihm zu und erwiderte: „Danke.“

Cooper sah enttäuscht aus, vielleicht, weil ihrer Frage keine Aufforderung zum Mitkommen folgte. „Aber bitte, gerne.“

Er hatte bestimmt gedacht, sie würde ihn bitten, sie zu begleiten. Vielleicht ein anderes Mal, aber heute hatte sie keine Lust auf Gesellschaft. Sie brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten und einen Plan zu entwerfen. Sie wandte sich wieder der Treppe zu und stieg nach oben. Jeder Schritt brachte sie näher zu dem Zimmer, das für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein würde. Bisher nahm dieser Urlaub den Spitzenplatz auf der Liste ihrer Lieblingsorte ein, an denen sie je gewesen war. Sie hoffte nur, dass er all ihren Erwartungen entsprechen würde.

KAPITEL ZWEI

Amethyst stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Cooper konnte nicht wegsehen, selbst wenn er es versucht hätte. Es sandte ein stilles Dankgebet an seinen Schutzengel, der sie in seine Familienpension geführt hatte. Noch nie war eine so reizvolle Frau in der Pension abgestiegen. Ihr vertrautes Gesicht hatte ihn zuerst sprachlos gemacht und er musste seine ganze seine Beherrschung aufbringen, um wieder reden zu können. Als er das erste Mal aufgeblickt und sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, dass er sich diese Frau nur einbildete. Sie hatte herrliche Mitternachtslocken, die ihr über die Schultern fielen. Ihre durchdringenden olivgrünen Augen fesselten ihn sekundenlang. Während er sie betrachtete, fragte er sich, ob es in seiner Pension tatsächlich spukte, wie das einheimische Überlieferungen behaupteten. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er der Sprache wieder mächtig war. Er war entzückt festzustellen, dass diese Frau wirklich in Fleisch und Blut vor ihm stand und kein Produkt seiner Fantasie war. Sie wies eine unglaubliche Ähnlichkeit mit einer Person auf, von der jeder glaubte, dass sie vor vielen Jahren gestorben sei. Amethyst Keane war ein Rätsel und er beabsichtigte, alle ihre Geheimnisse zu lüften. Zum Glück würde sie einige Wochen im Dorf bleiben, das gab ihm die nötige Zeit, alles über sie herauszufinden.

Die Tür zur Pension flog auf. Cooper blickte hoch und sah seinen besten Freund Benjamin Anderson hereinkommen. Sie waren beide Einheimische und hatten die 21 Jahre ihres Lebens in North Point verbracht. Ihnen wurde auch beiden ein Teil des jeweiligen Familiengeschäfts übertragen. Sie hatten keine College-Ausbildung. Aufgrund der Erwartungen ihrer Familien waren solche Zusatzausgaben unnötig. Trotzdem hatte Cooper an einigen Business-Online-Kursen teilgenommen. Wie konnte sonst von ihm erwartet werden, dass er ohne wirkliche Kenntnisse eine profitable Pension betrieb? Seine Familie verließ sich zu sehr darauf, dass er den täglichen Betrieb schon in Schwung hielt. Sein Freund befand sich in einer ähnlichen Situation, hatte aber nie Anzeichen von Interesse an einer Weiterbildung gezeigt.

Ben schlenderte auf das Empfangsspult zu und stützte sich auf. „He, Coop, kannst du hier weg? Wir könnten mit dem Boot rausfahren.“

Cooper schüttete den Kopf. „Würde ich gern, aber ich habe hier zu viel zu tun. Olivia hat heute frei, also bin ich den ganzen Nachmittag im Einsatz. Vielleicht können wir das morgen machen. Du weißt ja, mein Vater kommt nicht mehr oft bis hierher zur Pension.“

Benjamin runzelte die Stirn, dann meinte er: „Verdammt, das ist echt schade. Es hätte Spaß gemacht. Ich habe in diesem Jahr noch keine Chance gehabt, das Boot zu nutzen. Die Arbeit war mörderisch. Jetzt habe ich endlich mal einen freien Nachmittag und mein bester Kumpel lässt mich hängen.“

Bens Familie gehörte die einzige Baufirma des Dorfes. Es verging kein einziger Tag ohne Aufträge, die nur so hereinströmten und erledigt werden mussten. Monate oder Jahreszeiten spielten keine Rolle, weil in der Umgebung so viel Arbeit anfiel. Die Aufträge waren so zahlreich, dass sie oft Probleme hatten, Schritt zu halten. Zum Glück hatte Anderson Construction mehrere Angestellte, die halfen, das Arbeitspensum zu bewältigen. Ben war der jüngste von fünf Brüdern, jeder von ihnen hatte eine Stellung in der Baufirma. Als Nesthäkchen der Familie verhielt sich Ben jedoch manchmal wie ein leicht verzogenes Kind.

Cooper und Ben waren Freunde seit Kindergartenzeiten. Cooper hatte sich so sehr an Bens narzisstische Persönlichkeit gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Ben verkörperte die Aussage: Ich und perfekt? Aber sicher! Kommt gefälligst klar damit. Ben fand trotz der Arbeit immer freie Zeit, um abzuschalten. Cooper konnte es ihm kaum übelnehmen. Sie waren jung und sollten auch ein bisschen Zeit für Spaß haben. In dieser Sommerperiode brauchte Ben mit Sicherheit etwas Auszeit. Zu dieser Jahreszeit war am meisten los …

Aber Cooper trug Verantwortung und konnte sich nicht einfach „verziehen“, um abzuhängen, wie Ben das mal so prägnant formuliert hatte. Es gab niemanden, der für ihn einsprang, wenn er nicht in der Pension war. Zeit mit seinem Freund auf dem See zu verbringen klang wunderbar, aber es war einfach nicht zu machen. Egal, wie sehr Ben drängte, nichts änderte die Tatsache, dass er als Einziger in der Pension anwesend war, um sich um die Gäste zu kümmern. Er war nicht einmal sicher, ob er mitkommen würde, selbst wenn er könnte. Nicht, wenn Amethyst Keane eine der neuesten Hausgäste war. Sie hatte sich zu einer fixen Idee entwickelt und er wollte zur Verfügung stehen, falls sie beschloss, sein Angebot anzunehmen. „Ich wollte, ich könnte mitkommen.“ Er warf Ben sein nettesten, aber bedauerndes Lächeln zu. „Ich habe einfach zu viel zu tun.“

„Wann sind wir eigentlich so erwachsen und wie unsere Väter geworden?“ fragte Ben mit Abscheu in der Stimme.

„Gleich nach der High-School – und wir haben uns sogar kopfüber hineingestürzt.“ Cooper lachte leise. Das Lachen musste sein, sonst würde er nachgeben. Er hasste sein Leben nicht, es war einfach so, dass … er manchmal wünschte, er hätte andere Möglichkeiten.

Ben schüttelte angewidert den Kopf. „Wir sind einundzwanzig Jahre und mir geht es so, als hätten wir diese Stadt und die Erwartungen an uns total verinnerlicht. Ich denke ans Aufhören.“

„Nein, das geht nicht. Ohne dich wäre es hier nicht mehr dasselbe.“ Aus den Augenwinkeln nahm Cooper eine Bewegung wahr und wandte sich um, er wollte sehen, was los war.

Amethyst kam mit einem kleinen Tragebeutel die Treppe herunter. Ihre ebenholzschwarzen Locken waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, ein paar Strähnen hingen hinten heraus. Sie hatte eine Sonnenbrille auf den Kopf geschoben und trug schneeweiße Shorts zu einem grünen Top, das exakt dieselbe Farbe wie ihre Augen hatte. Sie sah Ben und Cooper und lächelte. Ben war von ihrem charmanten Grinsen genauso hingerissen wie Cooper, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Amethyst war merkte es zwar nicht, aber die beiden waren bereits Wachs in ihren Händen. Cooper richtete sich neben dem Empfangspult sehr gerade auf und als sie näherkam fragte er: „Machst du dich auf den Weg, unser schönes Dorf zu erkunden?“

„Oh ja, ich kann es kaum erwarten, alle Geheimnisse zu entdecken.“ Amethyst nickte begeistert.

Cooper grinste, dann sagte er: „Ist das alles? Na, dann wirst du in etwa fünf Minuten wieder da sein. Richtig, Ben?“

Ben hatte vor Überraschung einen ganz glasigen Blick. Wenn Cooper es nicht besser wüsste, würde er denken, sein Freund hätte noch nie zuvor eine schöne Frau gesehen. Er hatte große Lust, ihm einen Schlag auf den Kopf zu versetzen. Vielleicht sollte er diesem Drang ja nachgeben …

„Was?“ Bens starrte Amethyst weiterhin völlig überwältigt an.

Cooper schüttelte ungläubig den Kopf. Sobald Amethyst weg war, wollte er ein ausführliches Gespräch mit seinem besten Kumpel führen. Es kam überhaupt nicht in Frage, ihm zu erlauben, in einen Bereich einzudringen, den er als sein Revier betrachtete, bester Freund oder nicht. Er hätte gern mit der Faust auf das Pult geschlagen und kindisch geschrien: „Besetzt!“ Er fand Amethyst wirklich nett und wollte nicht, dass Ben ihm jede Chance ruinierte, sie besser kennenzulernen. Jetzt würde er Ben erstmal aus seinem Schwebezustand reißen und das aktuelle Gesprächsthema erläutern.

„Es geht um Dorfgeheimnisse. Die aufzudecken sollte nicht lange dauern.“ Er sprach langsam und deutlich, damit seine Worte in das umnebelte Gehirn seines Kumpels eindringen konnten.

Ben starrte ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Dann kratzte er sich am Kopf und betrachtete ihn, als hätte er den Verstand verloren. „Was denn für Geheimnisse? Bist du auf den Kopf gefallen?“

Amethyst lachte und erklärte: „Oh, jeder Ort hat Geheimnisse. Man muss nur wissen, wem man Fragen stellt.“

„Ach, und wie willst du das wissen, wenn du nicht von hier bist?“

Cooper verstand nicht ganz, was sie andeuten wollte.

Amethyst zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich habe ja noch niemanden getroffen außer dir – und deinem Freund, nehme ich mal an. Obwohl ich seinen Namen noch nicht weiß.“ Sie starrte ihn an und wartete, dass er ihn vorstellte.

Eigentlich wollte Cooper ihr Ben nicht vorstellen. Vielleicht machte ihn das zu einem gemeinen Freund, aber er kannte Ben zu gut, als dass ihn das gestört hätte. So, wie die Dinge standen, wollte er mit Ben ein privates Gespräch führen und dazu musste Amethyst gehen. Er war höchste Zeit, mit dem Freund die zukünftige Sachlage zu klären. Je schneller, umso besser. Er würde seinen Jugendfreund nur sehr ungern umbringen, weil er aufdringlich war. Aber jetzt durfte er nicht so unhöflich erscheinen wie ihm zumute war.

„Das ist mein bester Freund Ben Anderson. Ben, das ist Amethyst Keane. Sie ist erst heute Nachmittag angekommen.“

Ben schien endlich die Spinnweben aus seinem Gehirn zu wischen und lächelte Amethyst an. Er streckte die Hand zur Begrüßung aus. „Schön, dich kennenzulernen. Wohin genau willst du? Vielleicht kann ich dir helfen? Immerhin bin ich der Beste im Dorf, was Führungen angeht, meine ich.“

Cooper musste sich zusammenreißen, um seinen besten Freund nicht zu erdrosseln. Seine Mordlust wurde geradezu überwältigend. Er biss die Zähne zusammen und seine Finger umklammerten die Ecke des Empfangspults. Er hoffte inständig, dass sie ihm nicht erzählte, was sie geplant hatte.

„Oh, ich möchte keine Begleitung, aber danke für das Angebot. Wenn ich das erste Mal an einen Ort komme, entdecke ich ihn gerne ganz allein. Ein andermal – vielleicht brauche ich irgendwann einen Stadtführer, während ich da bin.“

Ein listiges Grinsen glitt über Bens Gesicht. Seine Absichten waren glasklar. Er verbeugte sich vor Amethyst und erwiderte: „Ich stehe dir zur Verfügung, wenn du Spaß haben willst. Bitte, so wird dir gegeben werden. Gib Bescheid und ich stehe dir ganz zur Verfügung.“

Aber sicher. Cooper beschloss, dass er nach Amethysts Abgang seinen besten Freund definitiv ermorden musste. Überhaupt, wer brauchte schon einen besten Freund?

Dessen volles, kehliges Lachen erfüllte den Raum. Amethyst grinste ihn etwas verwirrt an. „Bis nächstes Mal dann.“

Ben konnte nicht wollüstiger aussehen, selbst wenn er es versucht hätte. „Ich warte mit angehaltenem Atem, dass du mich anforderst – wenn du wünschst, dass ich mich dir widme, frage einfach Coop, wie du mich erreichen kannst.“

Sie nickte und machte sich auf den Weg zur Eingangstür. „Ich werde es mir merken. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss unbedingt meinen Dorfbummel machen. Einen schönen Nachmittag noch.“

Amethyst ging zur Tür und verließ die Pension. Cooper und Ben starrten ihr nach, beide konnten einfach nicht wegsehen, bis sie außer Sicht war.

Ben presste die Hand auf sein Herz und pfiff. „Das ist das tollste weibliche Wesen, das ich je gesehen habe.“

„Sie gehört mir, halt dich gefälligst zurück. Ich habe sie zuerst gesehen.“ Cooper gelang es nicht, den Frust in seiner Stimme oder die Verärgerung auf seinem Gesicht zu verbergen, als er Ben wütend anstarrte.

„Versuch’s doch, Junge. Die Dame hat die Wahl, und ich werde dafür sorgen, dass diese Wahl auf mich fällt.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.

Cooper kam der Gedanke, dass Ermorden zu gnädig für ihn wäre. Er sollte auf jede erdenkliche Art leiden. Sie hatten vorher noch nie um eine Frau gekämpft, aber für alles gab es bekanntlich ein erstes Mal. „Gut – möge der Bessere gewinnen. Wir wissen beide, dass ich das bin. Also, wenn du den Schaden in Grenzen halten und das Gesicht wahren willst, dann verstehe ich das.“ Er trat einen Schritt vom Pult zurück und zeigte ein selbstzufriedenes Lächeln.

„Auf keinen Fall, Coop. Das Spiel läuft. Vergiss nicht, Amethyst meine Nummer zu geben. Ich weiß, dass sie mich irgendwann erreichen will.“

„Du bist dir deiner so sicher? Ich glaube es nicht“, antwortete Cooper, erstaunt über seine Arroganz. „Ich bin nicht dein Lakai. Wenn du willst, dass Amethyst deine Nummer hat, dann gib sie ihr selber.“

Ben nickte Coop zu, als er zur Tür ging. Als er sie erreicht hatte, hielt er inne und blickte Coop über die Schulter direkt in die Augen. „Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung … Diese Frau ist geradezu dekadent schön. Ich brauche deine Hilfe nicht, um sie zu erobern. Sie gehört mir schon. Bis später, Coop“. Ben lachte und verließ die Pension.

Konnte es noch schlimmer kommen? Da hatte er endlich seine Traumfrau getroffen und sein bester Freund hechelte ihr hinterher. Es musste doch möglich sein, Ben davon abzubringen, sie aufzureißen. Zur Hölle, wem machte er etwas vor? Ben gab nie auf, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er würde auch jetzt nicht damit anfangen. Außerdem hatte er in einem recht: Es war Damenwahl. Cooper musste nur sicherstellen, dass sie die richtige Wahl traf und er der Auserwählte war.

Als erstes wollte Cooper alles, was möglich war, über Amethyst S. Keane in Erfahrung bringen. Beim Check-in hatte sie erwähnt, dass ihr Name in einer Zeitschrift zitiert wurde, für die sie irgendwelche Artikel verfasste. Er hoffte, das würde ihm einen ausgedehnten Einblick in ihre Vorlieben und Abneigungen verschaffen. Außerdem, und das war noch wichtiger, könnte es erklären, warum sie für den Urlaub gerade seine Pension gewählt hatte. Er brauchte nicht lange, bis er sie online fand. Er entdeckte etliche Artikel, die in der Zeitschrift ASK von ihr verfasst worden waren … Die meisten beschäftigten sich mit Pop-Kultur, aber jede Ausgabe hatte eine Reiserubrik mit der Beschreibung eines Ortes oder Landes, wo Amethyst gewesen war. In jedem Artikel schrieb sie über die Geschichte eines Ortes und über Dinge, die sie dort faszinierend oder verlockend fand. Den Grund, warum sie sich in North Point und im Trenton-Hill Inn aufhielt, fand er jedoch nicht. Er wusste aber etwas Faszinierendes, was ihn für sie attraktiv machen könnte …

64,31 zł
Ograniczenie wiekowe:
0+
Data wydania na Litres:
04 października 2021
Objętość:
162 str. 5 ilustracje
ISBN:
9788835427773
Właściciel praw:
Tektime S.r.l.s.
Format pobierania:

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