Czytaj książkę: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 257»
Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-593-4
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
16. April 1592, einige Meilen vor der großen Nilschleife.
Die Kerls auf der „Isabella VIII.“ praktizierten eine neue Art der Seefahrt, vielmehr Flußfahrt. Sie verzichteten nämlich auf die Segel und ließen sich vom Strom schieben – genauso wie es die Nilfahrzeuge taten.
Das große Kreuz bei der Bergfahrt waren die windstillen Tage gewesen. Jetzt, bei der Talfahrt, kratzte sie das nicht mehr. Den Transport der „Isabella“ stromabwärts hatte der Nil übernommen.
Nilaufwärts hatten sie mit dem Nordwind segeln können – wenn er wehte. Selten hatte sich diese Windrichtung geändert, die es den Segelschiffen ermöglichte, platt vorm Laken stromauf zu segeln.
Stromab jetzt aber gegen den Nordwind zu kreuzen, das wäre eine elende Schinderei geworden, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, die Kreuzschläge über die ganze Nilbreite auszusegeln. Denn was an Backbord und an Steuerbord jenseits der Fahrwassermitte an Sandbänken und sonstigen Untiefen lauerte, das wußten sie nicht – und hatten auch keine Lust, es auszuprobieren.
„Alte Tante auf Schleichfahrt“, hatte der Profos diese Art von Fortbewegung getauft.
Das war mal wieder typisch Carberry, und Hasard hatte ihn höflich gefragt, ob er es lieber hätte, alle fünf Minuten eine Wende zu fahren, oder wie?
Da war das narbige Gesicht mit dem Hauklotz von Kinn ziemlich lang geworden, und der Profos hatte sich den Nacken gekratzt. Die Vorstellung, tatsächlich hintereinanderweg die Rahen herumholen und Brassen sowie Schoten loswerfen und wieder dichtholen zu müssen, verursachte bei dem Narbenmann nun doch ein gelindes Gruseln. Nilabwärts zu kreuzen, das hätte wirklich bedeutet, pausenlos in Trab zu sein.
Der wunde Punkt bei der Schleichfahrt war nur der, daß sich die Arwenacks bis auf den Rudergänger, die beiden Ausgucks im Vormars und Großmars und den Koch der totalen Faulenzerei hingeben konnten – ein Zustand, bei dem Carberry die Haare zu Berge standen.
Mann, wie ihn das wurmte! Wo er hinschaute, lümmelten die Kerle am Schanzkleid und grinsten dämlich. Dabei war ihnen vor zwei Tagen weiß Gott das Grinsen vergangen, als Al Conroys Flaschenbomben mit dem Teufelszeug hintereinander explodiert waren und nicht viel gefehlt hatte, daß auch die Pulverkammer hochgegangen wäre. Wenn das passiert wäre, hätte jeder von ihnen stückchenweise die letzte Reise angetreten, in den Himmel oder in die Hölle.
Und die Erlebnisse im Tal der Könige sowie der Überfall der Dorfbewohner auf die ankernde „Isabella“ waren ebenfalls nicht dazu angetan gewesen, bei der Crew Heiterkeit zu erzeugen.
In letzter Zeit häuften sich die Merkwürdigkeiten. Aber die Kerle grinsten.
Hasard kannte seinen Profos sehr genau, und darum hatte er gesagt: „Laß nur, Ed, sie freuen sich, daß es endlich dem Meer entgegengeht, wobei wir uns natürlich vorher noch den Kanal der Pharaonen anschauen werden.“
So blieb es also bei der Schleichfahrt, was aber ungerecht klingt, denn die „Isabella“ mit ihrer gewaltigen Rumpfmasse wurde prächtig vom Vater Nil vorangeschoben, ganz besonders dort, wo sich das Strombett verengte. Die Segel waren sauber aufgetucht, die Galeone fuhr also vor Topp und Takel, was sie sonst nur bei schwerem Sturm tat. Nur konnte von Sturm hier keine Rede sein.
Es war eben ungewohnt, so durch die Landschaft zu kutschieren. Keine Rahen knarrten, kein Wind pfiff durch Wanten und Pardunen, kein Tauwerk ächzte unter Preß, und eine Lage schob die alte Tante schon gar nicht.
Für den Kutscher war das sehr angenehm, denn er brauchte in der Kombüse keine Balancierakte und Töpfeakrobatik aufzuführen, sondern konnte „auf ebenem Kiel“ hantieren und werken, nichts geriet ins Rutschen oder knallte überschwappend gegen die Schlingerleisten.
Überhaupt der Kutscher!
Für ihn war diese Nilreise ein Genuß höchster Qualität. Er bildete sich. Das hätte eine Quelle ständiger Frotzeleien seitens der Crew sein können, war’s aber nur bedingt, weil der Kutscher andererseits keine Möglichkeit ausließ, den Mägen der Arwenacks recht beachtliche Dinge anzubieten. Was das betraf, litten sie wahrhaftig keinen Mangel. In jedem Kaff auf beiden Seiten des Nils konnte der Kutscher in Hülle und Fülle einkaufen. Und was der Kutscher dann daraus zauberte, daran war nun wirklich nichts mehr zu meckern. Und, wie gesagt, sein Kombüsenherd blieb auf ebenem Kiel. Das war mal eine feine Flußfahrt.
Es ging auf den Mittag zu, jene Zeit, in der die Luft zu kochen schien. Darum auch stand das Schott zur Kombüse sperrangelweit offen und entließ Bratendüfte. Die wehte der Fahrtwind über die Kuhl und nach achtern.
Old O’Flynn schnupperte und kriegte verklärte Augen.
Gänsebraten!
Nach Hammel und Lamm und Brathähnchen war nun jenes Federvieh dran, das man auch in Cornwall zu schätzen wußte. Der Kutscher hatte im letzten Fellachendorf gleich eine Flottille von Gänsen gekauft, sie am Vortag geschlachtet und gerupft. Die Flottille hatte aus sechs Gänsen bestanden, was bedeutete, daß je vier Mann so eine gebratene Schnattertante verputzen konnten.
Old O’Flynn erinnerte sich – etwas wehmütig –, an die paar Male, an denen Bernice O’Flynn, seine Frau, Gänsebraten auf den Tisch gebracht hatte – eine Gans für zehn hungrige Mäuler, für sieben Söhne, eine Tochter, für Bernice selbst und für ihn.
Bernice – kurz nach der Geburt des Jüngsten, Donegal Daniel O’Flynn, genannt Dan, war sie im Kindbettfieber gestorben, und alles war anders geworden. Jetzt ruhte sie auf dem kleinen Friedhof von Falmouth unterhalb der Feste Arwenack, wo die verdammten Killigrews hausten.
Fast zärtlich schaute der Alte zu Dan hinüber, der mit einer Karte in der Hand beim Ruderhaus lehnte und mit seinen scharfen Augen die Flußufer an Backbord und Steuerbord abtastete und mit der Karte immer wieder verglich.
Dan war ihm geblieben – schlank, gerade gewachsen, helläugig, hellhaarig, zäh, hart und durchaus in der Lage, ein Schiff als Kapitän zu führen. Unheimlich viel hatte das „Bürschchen“ dazugelernt seit der Zeit, als er fünfzehnjährig aus Falmouth ausgekniffen war, um nicht Sargtischler werden zu müssen.
Nie würde Old Donegal nach außen hin zugeben, wie stolz er auf Dan war. Dieser Junge war unbeirrbar seinen Weg gegangen – zusammen mit Philip Hasard Killigrew, seinem späteren Schwager.
Ja, auch Gwendolyn Bernice O’Flynn, spätere Killigrew, lebte nicht mehr, Hasards Frau, Dans Schwester und seine, des Alten, einzige Tochter. Aber ihre Söhne lebten – Hasard und Philip junior.
Die Augen Old O’Flynns wanderten zur Kuhl. Na, wo steckten diese beiden kleinen Teufelsbraten? Natürlich am Schott der Kombüse, mit langen Hälsen und hungrigen Augen, genau wie seine eigenen Söhne damals, wenn sie auf den Gänsebraten ihrer Mutter spitzten.
Wie damals!
Old O’Flynn dachte, wo sind die anderen sechs Söhne geblieben? Er wußte es nicht. Einer nach dem anderen war aus dem Haus gegangen, das sie unten am Hafen von Falmouth bewohnt hatten. Zuletzt war Dan verschwunden. Nur Gwen war geblieben.
Der Alte seufzte und strich sich über das silbergraue Haar.
Hasard, vorn an der Schmuckbalustrade, drehte sich erstaunt zu ihm um.
„Hast du Sorgen, Old Donegal?“ fragte er lächelnd. „Oder hat dein Magen geseufzt? Ich meine, wegen des Gänsebratens.“
„Hab ein bißchen nachgedacht“, brummte Old O’Flynn.
„Und über was?“
Old O’Flynn schaute zu dem Riesen mit den eisblauen Augen hoch. Sein verwittertes, lederhäutiges Gesicht hatte einen seltsamen weichen Zug.
„Damals in Falmouth, als noch alle O’Flynns am Tisch beisammen waren – zehn O’Flynns –, da gab’s auch mal Gänsebraten. Bernice, meine Frau, bereitete ihn zu …“
Dan O’Flynn fuhr herum, lächelnd und mit blitzenden Augen. „Ja, genau – und mit Äpfeln gefüllt! Und später gab’s Schmalz! Mann, haben wir reingehauen, da blieben nur noch die Knochen übrig. Ich weiß noch, ich kriegte immer ein Beinchen – und Gwen kriegte das andere …“ Dan verstummte, ein Schatten huschte über sein braungebranntes scharfgeschnittenes Gesicht. Auch seine hellen Augen verdunkelten sich.
„Ja, Gwen“, sagte Philip Hasard Killigrew leise und drehte sich wieder zur Schmuckbalustrade um, die das Achterdeck zur Kuhl abgrenzte. Auch seine Augen suchten die Söhne – die Söhne Gwens und von ihm. Mein Gott, wenn Gwen sie jetzt sehen könnte, die beiden Kerlchen!
Und da war wieder der alte Schmerz um die verlorene Frau, die niemand ersetzen konnte – auch keine Siri-Tong. Nichts hatte die Zeit geheilt, gar nichts. Der Schmerz blieb, genau wie bei Old Donegal und Dan, die es eben wieder gezeigt hatten.
Gewaltsam befreite sich Hasard von den Gedanken an die Vergangenheit. Seine Überlegungen kehrten zurück zu jenem Problem, über das er schon seit Stunden nachgegrübelt hatte. Aber etwas Gescheites war ihm nicht eingefallen.
Fast schroff drehte er sich zu Dan O’Flynn um, der sich wieder mit der Nilkarte beschäftigte.
„Dan!“
„Ja?“ Dan schaute auf und blickte ihn an.
„Sag mal, ist dir in der letzten Zeit überhaupt nichts aufgefallen?“
„In welcher Beziehung?“ lautete Dans Gegenfrage.
Fast scharf erwiderte Hasard: „Du hast doch Augen im Kopf, sogar die besten hier an Bord. Vor etwa einem Monat sind wir diese Strecke nilaufwärts gesegelt. Damals hatte ich mir mehr aus Zufall ein paar Quader betrachtet, die am Ufer von Luxor aus dem Wasser ragten und wahrscheinlich ganz früher einmal zu einer Art Pier gehörten. Heute früh sind wir an ihnen vorbeigetrieben. Und da ist mir etwas aufgefallen, was ich unbewußt eigentlich schon seit Tagen registriere. Weißt du jetzt, was ich meine?“
„Bin ich Gedankenleser?“ fragte Dan etwas gereizt.
„Nein, bist du nicht, aber aufpassen solltest du. Diese verdammten Quader haben für mich die Funktion eines Pegels …“
„Ach so“, unterbrach ihn Dan, „das meinst du. Ja, es ist mir auch aufgefallen. Der Nil hat nahezu denselben Wasserstand wie vor einem Monat, nicht wahr?“
Hasard seufzte. „Na also. Und was hat unser Freund, der Hafenbeamte in Kairo, Othman Mustafa Ashmun gesagt? Er hat gesagt, jetzt um diese Zeit begänne der Nil mehr Wasser zu führen. Diese Quader bei Luxor aber ragen immer noch etwa anderthalb Fuß aus dem Wasser, genau wie vor einem Monat. Da hat sich überhaupt nichts verändert. Begreifst du das?“
„Nein.“ Dan schüttelte den Kopf. „Mir ist das nur an ein paar anderen Stellen aufgefallen, die ich mir beim Flußaufsegeln gemerkt hatte. Gewundert hab’ ich mich im stillen auch schon.“ Dan starrte nachdenklich zum Ostufer. „Wenn ich den Faden noch weiter spinne, dürfte es nahezu unmöglich sein, in der nächsten Zeit den legendären Kanal der Pharaonen zu befahren. Wenn der Nil kein Hochwasser führt, dann gilt das ebenso für diesen Kanal. Die nächste Frage lautet, ob das Rote Meer tatsächlich hinter der östlichen Wüste dort drüben liegt, oder ob das nur Phantastereien sind.“
„Hm“, brummte Hasard, „zumindest das könnte man feststellen.“
„Wie das?“ fragte Dan verblüfft.
Hasard wich aus. „Mal sehen“, sagte er orakelhaft.
Er sprach deswegen nicht weiter, weil Carberrys dröhnende Stimme verkündete, daß jetzt „Backen und Banken“ sei und die sehr ehrenwerten Gentlemen, die Faulenzer und Schnarchsäcke, die Rübenschweine und kalfaterten Kanalratten zu je vier Mann „eine gebratene Schnattertante“ an der Kombüse fassen könnten.
„Nur nicht drängeln!“ röhrte er. „Und wer mir von euch Filzläusen das Deck mit Schnattertantenfett verunziert, dem blas ich den großen Dudelsackmarsch!“
„Und wie geht der?“ fragte Blacky grinsend.
„Der geht nicht“, sagte der Profos grollend, „der pfeift wie hundert Windsbräute. Und wenn die dich küssen, meinst du, die Trompeten von Jericho zu hören. Spätestens dann ist dein Hals um den Kopf gewickelt und mit einem Stopperknoten versehen. Ist das klar?“
„Völlig“, murmelte Blacky beeindruckt und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl ausschauen mochte, was der Profos soeben verkündet hatte. Und dann noch mit Stopperknoten!
Jedenfalls war mal wieder Stimmung an Deck, teils wegen des „großen Dudelsackmarsches“, teils weil der Kutscher vom Kombüsenschott aus eine jeweils sauber tranchierte „Schnattertante“ an die Backschafter ausgab. Die Vögel ruhten auf länglichen Holzkummen, drapiert mit Fladenbrot – und gebratenen Äpfeln!
Old O’Flynn stöhnte herzerweichend. Bratäpfel! Die hatte Bernice ebenfalls ihrem Gänsebraten beigegeben. Heiliger Patrick! Der Kutscher war eine richtige Bernice. Und da war zwar auch wieder der Schmerz der Erinnerung, aber es war wie damals, wenn die O’Flynns ans Vertilgen gingen. Nur fielen über diese Gans, die Philip junior aufs Achterdeck brachte, jetzt vier her: Old Donegal, Dan und die beiden Zwillinge. Und Dan kriegte sein „Beinchen“.
Merkwürdig. Old Donegal Daniel O’Flynn rollten zwei Tränen über die lederhäutigen Wangen. Er wischte sie schnell weg, aber Hasard und Philip junior hatten sie dennoch bemerkt.
„Du freust dich, daß wir bald heimkehren, nicht wahr?“ fragte Hasard junior leise.
„So ist es“, sagte Old O’Flynn. Und er dachte dabei an Bernice, um deren Grab er sich kümmern mußte. Sicher war es völlig verwildert. Er würde es wieder in Ordnung bringen – und dann würde er ihr von dem Gänsebraten des Kutschers erzählen, den sie hier, irgendwo auf dem Nil, verspeist hatten – Dan, die beiden Enkel und er. Wie damals die zehn O’Flynns …
2.
Am Nachmittag dieses selben Tages schreckten sie alle hoch, als die Stimme ihres Kapitäns über die Decks schallte und befahl, den Anker zu werfen.
Den fuhren sie, seit sie sich nilabwärts treiben ließen, achtern, und zwar aus Zweckmäßigkeitsgründen, und weil sie es bei den anderen Nilseglern abgeschaut hatten. Die ankerten nämlich bei der Talfahrt einfach über den Achtersteven. Dann lagen sie beim Ankeraufgehen gleich in Fahrtrichtung und ersparten sich ein Drehen im Strom. Außerdem konnte man bei der Talfahrt, falls vor einem ein unerwartetes Hindernis auftauchte, mit dem nach achtern ausgeworfenen Anker sofort die Fahrt stoppen, ohne erst weit herumschwojen zu müssen.
Da sie die Ankertrosse nicht einrucken ließen, sondern über das vordere Spill führten und sanft lose gaben, bevor sie belegten, bestand auch nicht die Gefahr, daß der Anker aus dem Grund brach, wie es bei einem plötzlichen Einrucken und abrupten Steifkommen der Ankertrosse meist der Fall war.
Da stand auch sofort der Profos auf dem Achterdeck, den Blick nach achtern auf die Trosse gerichtet, und befahl, „sinnig zu fieren“.
Mit einem Blick zu den Ufern war festzustellen, ob sich die Peilung veränderte, oder ob sie stand. Veränderte sich die Peilung nicht mehr, dann hatte der Anker gefaßt und schlierte nicht mehr über den Grund.
„Belege!“ brüllte Carberry nach vorn zur Back.
Smoky zeigte klar und ließ die Ankertrosse, die in mehreren Buchten über dem Spill lag, um den Fockmast herum an einem Deckspoller belegen.
Jetzt ankerte die „Isabella“, den Bug nilabwärts gerichtet, über das Heck im Strom. Sie lag mehr auf der Ostseite des Nils, querab von Kuft, genau dort, wo die große Nilschleife nach Westen ansetzt, bevor sie bei Kena ganz hart westwärts abknickt und auf Dendera zuführt.
Der Anker hatte also gefaßt. Das Nilwasser gluckerte gegen das Heck, teilte sich dort und floß an den Bordwänden entlang seinem fernen Ziel zu – dem Meer. Es würde schneller dort sein als die „Isabella“.
Fast die Blicke aller waren auf Hasard gerichtet, fragend, verwundert, aber auch etwas irritiert.
Warum jetzt, am Nachmittag schon, ankern? Bisher hatten sie es so gehalten, erst bei Beginn der Abenddämmerung den Anker zu werfen.
„Und was nun?“ fragte der Profos, und der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Hasard lächelte verhalten und deutete mit dem Kopf zum Ufer an Steuerbord hinüber, wo etwas nördlich von Kuft einige Tempel standen.
„Horustempel“, sagte er, „Stätten der Andacht für die Anhänger des Falkengottes Horus.“
„Was, wie?“ fragte der Profos verwirrt. „Wegen dieses vogeligen Dingsbums haben wir geankert?“ Er stemmte die Pranken in die Hüften. „Das kannst du uns nicht antun, Sir. Tempel stehen uns bis Oberkante Luke, Sir!“ Und der Profos zeigte, wo bei ihm die „Oberkante Luke“ war, nämlich quer über der Stirn.
Die Männer auf der Kuhl und dem Achterdeck nickten. Jawohl, auch ihnen standen die Tempel sonstwo – bis zum Großtopp standen sie ihnen. Und der Horus konnte ihnen mal. Überhaupt, dieses Vogelvieh, von dem gleich zwei Stück links und rechts des Tores zu dem einen Tempel standen, sah mit dem seltsamen Dings auf dem Kopf und der riesigen Hakennase alles andere als anbetungswürdig aus. Dieses falkenköpfige Gebilde sah aus, als wolle es jeden Moment loshacken und Löcher in die Decksplanken der „Isabella“ hämmern.
Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, fragte vorsichtig: „Sir, meinst du nicht, daß wir genug Tempel besichtigt haben?“ Er kratzte sich unbehaglich an der Wange. „Zum Teil hatten wir dabei auch eine Menge Ärger – wie zuletzt im Tal der Könige.“
„Eben, eben“, sagte Hasard, „wir hatten eine Menge Ärger. Vielleicht haben wir den Ärger selbst heraufbeschworen. Schließlich sind wir Fremde in einem Land, das uns selbst ebenfalls fremd ist. Dennoch, das sage ich ganz offen vor euch allen, gibt’s da einige Dinge, die mir nicht gefallen.“
„Aha!“ Das war Old O’Flynn, der dieses „Aha“ sehr laut und vernehmlich äußerte. „Hast du vielleicht auch gewisse Ahnungen, Mister Kapitän, Sir?“
„Gewisse Ahnungen?“ Hasard lächelte wieder. „Die nun eigentlich nicht, Old Donegal. Eher Feststellungen. Zum Beispiel, daß wir in einige Situationen gerieten, die so übel waren, daß man sich ganz nüchtern sagen mußte: jetzt ist es aus. Aber nichts war aus. Wir slipten auf seltsame Weise klar. Na gut, dagegen habe ich nichts, aber allmählich frage ich mich doch, ob das alles noch mit rechten Dingen zugeht. Ich gebe nichts auf Gefühle, aber seit einiger Zeit bedrückt mich das Gefühl, an irgendeinem Haken zu zappeln. Ich kann das nicht näher erklären – allenfalls in der Form, daß ich mißtrauisch geworden bin. Also, um mich kurz zu fassen: wir ankern hier nicht, um weitere Tempel zu besichtigen.“
„Sondern?“ fragte der Profos mißtrauisch.
„Ich möchte etwas feststellen“, erwiderte Hasard. „Etwas, das drei, vier Tage dauern kann, aber dann weiß ich es. Dan, hol mal die Nilkarte, nach der wir uns zur Zeit orientieren!“
Dan O’Flynn hatte sie bei der Hand – jene Karte, die er in den letzten Stunden ständig mit der Landschaft links und rechts des Nils verglichen hatte.
Hasard nahm sie in Empfang, sprang zur Kuhl hinunter und breitete dort die Karte auf den Planken aus. Die Männer versammelten sich rings um ihn.
Hasard kniete sich hin und tippte auf eine Stelle der Karte, wo die Nilschleife nach Westen begann.
„Kuft“, sagte er. „Hier ankern wir zur Zeit.“ Sein Finger glitt nach rechts, also nach Osten, zu einem dünnen Strich, der fast parallel zum Nil nach Norden verlief. „Was dieser Strich hier bedeutet, wissen wir nicht, aber ich vermute, daß er eine Küste oder ein Ufer darstellt, wahrscheinlich das Westufer des Roten Meeres.“ Hasard schaute auf. „Ihr alle kennt unser letztes Ziel hier im Land der Pharaonen: Wir wollen den Kanal finden, der angeblich von einem Arm des östlichen Nildeltas über das Wadi Tumilât zu den beiden Bitterseen führt, die ja ihrerseits wieder eine Verbindung zum Roten Meer haben. Ihr wißt, was die Entdeckung dieses Kanals bedeuten würde – nämlich die Verbindung von Mittelmeer und Indischem Ozean. So, und jetzt will ich euch sagen, warum wir hier, geankert haben. Othman Mustafa Ashmun, der Hafenbeamte in Kairo, hatte damals im Februar, als wir ihm die Karten zeigten, erklärt, dieser legendäre Kanal sei erst in etwa zwei Monaten befahrbar, wenn der Nil Hochwasser führe. Diese zwei Monate sind um, aber der Nil hat nahezu den gleichen Wasserstand wie damals. Ich habe mich heute mittag mit Dan darüber unterhalten. Er hat meine Ansicht bestätigt.“
„Stimmt“, sagte Dan O’Flynn und nickte bekräftigend. „Der Wasserstand des Nils ist in den beiden letzten Monaten unverändert geblieben.“
„Dieser unveränderte Wasserstand hat mich mißtrauisch werden lassen“, fuhr Hasard fort. „Wir haben keine Karten, auf denen das Rote Meer dargestellt ist. Sicher ist allerdings, daß es existiert. Die Frage lautet nur, wo liegt es genau? Wenn dieser dünne Strich, der ja nur angedeutet ist, das Westufer des Roten Meeres darstellt, dann befinden wir uns zur Zeit etwa siebzig Meilen davon entfernt. Hier bei Kuft scheint mir der Nil am dichtesten an das Rote Meer gerückt zu sein – mit Ausnahme des Nildeltas, wo vermutlich ein ganz östlich liegender Nilarm noch näher am Roten Meer dran ist, was die Existenz eines Kanals durchaus glaubwürdig erscheinen läßt. Es geht mir um folgendes: Wenn bewiesen ist, daß wir hier bei Kuft nur siebzig Meilen vom Roten Meer entfernt sind, dann gilt das auch mit einer noch geringeren Entfernung für den östlichen Nildeltaarm und den Kanal, denn Nil und Rotes Meer liegen nahezu parallel zueinander, auch wenn der Nil im weiteren nach der großen Schleife nach Nordwesten ausholt. Oben bei Kairo hat er wieder Nordrichtung und im Delta mit seinen unzähligen Armen sogar Nordostrichtung.“ Hasard lächelte leicht. „Könnt ihr mir soweit folgen?“
„Alles klar“, verkündete Carberry großspurig. „Wir schieben unsere alte Lady über den Sand nach Osten und setzen sie im Roten Meer wieder ins Wasser.“
„Nicht schieben“, sagte Hasard grinsend. „Wir spannen sie hinter eine Kamelherde und lassen uns wie eine Kutsche ziehen!“
Smoky kicherte. Gelächter wurde laut.
Hasard wurde wieder ernst und sagte: „Wenn aber das Rote Meer hundert und mehr Meilen von hier entfernt liegt, dann halte ich den Kanal der Pharaonen für eine Utopie – trotz der Geheimkarte, die Othman Mustafa Ashmun für uns entziffert hat und die den Kanalverlauf darstellen soll.“
„Wenn der Kanal eine Utopie ist“, sagte Old O’Flynn voll heiterer Hoffnung, „könnten wir ihn sausen lassen und gleich zum Mittelmeer durchstoßen. Richtig?“
„Richtig“, bestätigte Hasard. „Es sei denn, wir befinden uns hier tatsächlich nur siebzig Meilen vom Roten Meer entfernt. Ich betone noch einmal, daß mich diese Tatsache dann von der Wahrscheinlichkeit eines existierenden Kanals überzeugen würde. Oder ist jemand anderer Ansicht?“
Bedächtig sagte Ben Brighton: „Vielleicht hat uns Othman Mustafa Ashmun was vorgeflunkert. Ich erinnere, daß wir uns darüber bereits unterhalten haben, Sir. Jedenfalls stimmt seine Aussage über das Hochwasser nicht. Ich finde, das ist schon ein ziemliches Ding.“
„Könnte sein, ergibt bloß keinen Sinn“, sagte Hasard. „Was hat er davon, uns etwas vorzuschwindeln?“
„Deine Söhnchen waren damals keineswegs von ihm angetan“, sagte Big Old Shane nachdenklich. „Seine Augen gefielen ihnen nicht. Hasard junior verglich sie sogar mit den Augen des Zauberers Kaliban. Erinnerst du dich?“
Hasard wischte sich über die Stirn. „Ja, diese Augen. Merkwürdigerweise hatte ich in den letzten Wochen mehrfach das Gefühl, diesen Augen begegnet zu sein.“
„Wir treffen den Kerl ja in Kairo“, sagte Carberry. „Da sollten wir ihn ein bißchen ums Spill wickeln und fragen, wie das nun mit dem Hochwasser sei. Oder wir hängen ihn an ’ne Talje und ziehen ihn in die Länge …“
„Ed“, mahnte Hasard, „wir sind keine Folterknechte.“
„Ist doch wahr“, brummte der Profos. „Stell dir mal vor, der hat uns wirklich angeschmiert, Sir. Da sind wir zwei Monate auf dem Nil herumgegurkt, haben uns mit allen möglichen Kerlen herumprügeln müssen, die uns an den Kragen wollten, haben eingewickelte Leichen besichtigt, sind in finstere Grabkammern gestiegen – und dabei hätten wir diesen verdammten Kanal vielleicht schon vor zwei Monaten finden und befahren können.“
Die Männer nickten. Jawohl, vielleicht hatten sie zwei Monate verplempert und hätten längst zurück nach England segeln können.
Old O’Flynn scharrte mit dem Holzbein über die Planken und sagte etwas verbissen: „Fast genau vor einem Monat hatten wir diesen Lotsen Mohamed bei uns an Bord. Damals erklärte ich, dieser Kerl hätte sich die linke Visage maskiert, die so aussah, als hätte er damit auf glühender Holzkohle gepennt. Die Augen dieses Mannes erinnerten mich ebenfalls an die Augen des Hafenbeamten in Kairo.“ Der Alte blickte Hasard an. „Damals hast du mich angebrüllt und für verrückt erklärt, als ich empfahl, den Kopf des Kerls mal in eine Balje mit Seifenwasser zu tunken. Da wäre dieses Brandmal nämlich sehr schnell weg gewesen. Der Kerl war unecht, da gehe ich jede Wette ein.“
„Das nutzt uns jetzt auch nichts“, sagte Hasard. „Als Lotse war er jedenfalls hervorragend.“
„Ein unverschämter Kerl war das“, erklärte Old O’Flynn. „Den Lammbraten vom Kutscher hat er außenbords gefeuert, dieser Halunke. Außerdem ist mir aufgefallen, daß er unablässig jeden von uns beobachtet hat.“
„Und was soll er davon gehabt haben?“ fragte Hasard stirnrunzelnd. Entweder war Old O’Flynn mal wieder am Spinnen, oder er hatte tatsächlich etwas bemerkt, was niemandem sonst aufgefallen war.
Old O’Flynn kniff die Augen zusammen. „Es sah aus, als versuche er, jeden einzelnen von uns einzuschätzen. Er hat uns sozusagen studiert.“
„Dich auch?“
„Mich auch, aber ich hab zurückgestiert, und da hat er immer schnell weggeschaut“, brummte Old O’Flynn. „Wenn ich nach unserem Krach damals noch einen Verdacht gegen diesen Kerl geäußert hätte, wärst du wahrscheinlich vor Wut geplatzt. Du warst ja nicht mehr ansprechbar.“
„Na gut“, sagte Hasard, „vielleicht hätte ich auf dich hören sollen, Old Donegal, aber mir will auch jetzt absolut nicht in den Kopf, warum uns dieser Lotse ‚studiert‘ haben sollte, wie du es genannt hast. Er ist in Karnak von Bord gegangen, und wir haben ihn nie wiedergesehen.“
„Ich kann mir nur vorstellen, daß er herumspioniert hat“, erklärte Old O’Flynn. „In den drei Tagen, die er an Bord war, hat er alles mitgekriegt, was sich hier so tut. Auf diese Weise hat er alles über unser Schiff und die Crew erfahren.“
„Er hat immer vor dem Ruderhaus gesessen“, sagte jetzt Ben Brighton, „und sich kaum von der Stelle gerührt. Von unserer Ladung kann er nichts mitgekriegt haben.“
„Meinst du?“ Old O’Flynn schüttelte den Kopf. „Da braucht nur einer von uns etwas Unbedachtes über unsere Ladung geäußert zu haben, und schon hätte er’s mitgehört.“
„Er kannte unsere Sprache ja gar nicht“, sagte Dan O’Flynn. „Ich glaube, du siehst das ein bißchen zu schwarz, Dad.“
„Und wer sagt dir, daß er unsere Sprache nicht kennt?“ fragte Old O’Flynn. „Wir haben lediglich angenommen, daß er uns nicht versteht, aber wir wissen es nicht. Würde ich auf dem Schiff eines fremden Landes herumschnüffeln und die betreffende Landessprache verstehen, würde ich das der Crew auch nicht auf die Nase binden.“
Hasard seufzte und sagte: „Das bringt uns jetzt alles nicht weiter, obwohl ich zugebe, daß mich Old Donegals Beobachtungen nachdenklich stimmen. Mich erinnerten die Hände des Lotsen an jemanden, den ich kenne. Aber bis heute ist mir nicht eingefallen, wer das sein könnte. Bei allem, was wir bisher am Nil erlebt haben, ist sehr viel Verwunderliches geschehen, wobei auffällt, daß uns in gefährlichen Situationen absolut nichts passiert ist. Wir sind immer so eben klargefahren und mit einem blauen Auge davongekommen. Das ist ja gerade das Verrückte. Was diesen Lotsen betrifft, könnte er geschnüffelt haben, da gebe ich Old Donegal recht. Aber weiter: als einzelner hat er gegen uns keine Chance. Hat er dann vielleicht im Auftrag eines anderen gehandelt? Wenn ja, können wir nicht vorsichtig genug sein. Anders ausgedrückt: Wir haben noch etwas zu erwarten. Ein Auftraggeber bedeutet immer, daß er Macht hat. Oder Einfluß und Geld, vielleicht beides. Also sperrt die Augen auf, Männer! Wir wollen unsere ‚Isabella‘ wohlbehalten nach England zurückbringen – und uns auch. Ich bin ehrlich genug, jetzt zu sagen, daß mich Old Donegal bei dieser Nilfahrt oft genug mit seiner Schwarzseherei und seinen dunklen Andeutungen geradezu wild gemacht hat …“
„Du nanntest es ‚Gänsegeschnatter’“, sagte Old O’Flynn voller Genugtuung. „Und zusammengeputzt hast du mich, daß mir mein Holzbein nicht mehr paßte.“
Die Männer grinsten verstohlen.
„Ich bitte ja um Verzeihung“, sagte Hasard, „und laß mich bitte zu Ende sprechen. Von jetzt ab möchte ich, daß auch Vermutungen geäußert werden – und seien sie noch so vage. Was irgendwie Verdacht erregt, muß der Schiffsführung gemeldet werden. Alles kann wichtig sein. Jeder von euch hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Augen und Ohren aufzusperren. Ich behaupte: Irgend etwas stimmt nicht mehr. Ich sagte zwar, daß ich auf Gefühle nichts gebe. Das revidiere ich jetzt. Da wir zur Zeit nichts wissen, sind wir auf Instinkte und Gefühle angewiesen.“
Darmowy fragment się skończył.