Czytaj książkę: «Im wilden Balkan»
Dr. Lars Hoffmann, Studium der Evang. Theologie in Erlangen und Münster sowie der Byzantinistik, der Geschichte und der Gräzistik in Münster und Wien. Ab 1988 Mitarbeiter am Projekt Lexikon der Byzantinischen Gräzität der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie zusätzlich ab 1990 Mitarbeiter bei der Neuausgabe der Predigten des Gregor von Nazianz für das Corpus Christianorum. Seit 1996 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. Seit 2001 Sekretär der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Byzantinische Studien.
Zum Buch
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich mehr und mehr an innerer Kraft. Wichtige, an den Rändern gelegene Regionen wie etwa Ägypten erklärten ihre Unabhängigkeit und in Südosteuropa gelang es zahlreichen Volks- und Sprachgruppen immer besser, sich gegen die osmanische Oberherrschaft zur Wehr zu setzen. Auf ein großes allgemeines Interesse stieß dabei der mühevolle griechische Unabhängigkeitskampf, und nicht von ungefähr prägte man in Europa damals mit Blick auf den Orient das Wort vom »Kranken Mann am Bosporus«. England sah sich durch eine mögliche Ausdehnung der russischen Interessensgebiete bedroht, sodass man sich in London eher für den Erhalt des Reichs einsetzte, das sich unter Sultan Abdulmecid I. und dessen Reformen wieder festigen konnte. Zur besseren Beurteilung der Lage brachen britische Gesandtschaften nach Konstantinopel auf, und auch Reisende sahen sich in den bedrohten Grenzregionen nach den aktuellen politischen Gegebenheiten um. Im Jahr 1830 unternahm der Schotte David Urquhart eine solche Reise, die ihn vom Peloponnes über Mittelgriechenland und Thessaloniki nach Skutari / Skodar im heutigen Albanien führte.
Eine der zugleich faszinierendsten wie auch zwielichtigsten Gestalten aus der großen Gruppe der europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts ist der Schotte David Urquhart (1805-1877). Er wurde im Jahr 1805 auf dem schottischen Braelangwell Castle unweit der Stadt Inverness geboren, das seine Familie im Jahr 1790 neu hatte errichten lassen. Die schulische Ausbildung erhielt er in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien. Nach seiner Rückkehr in die Heimat ließ er sich zunächst zum Agronomen ausbilden, bevor er zum Studium der Altertumswissenschaften an das St. John’s College in Cambridge wechselte. Aufgrund fi nanzieller Probleme seiner verwitweten Mutter konnte er dieses jedoch nicht mehr abschließen. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen war auch David Urquhart vom griechischen Unabhängigkeitskampf begeistert. Deswegen ging er im Jahr 1827 mit dem in Großbritannien in Ungnade gefallenen Admiral Thomas Cochrane in den Orient, der dort eine griechische Flotte aufzubauen versuchte. Allerdings scheiterte er mit diesem Unternehmen an der Disziplinlosigkeit und den mangelnden militärischen Fähigkeiten der Griechen. David Urquhart sollte jedoch für die kommenden zehn Jahre im Orient bleiben und entwickelte in dieser Zeit seine große Sympathie für die osmanisch-türkische Kultur und Lebensweise.
ALTE ABENTEUERLICHE REISEBERICHTE
David Urquhart (1805 - 1877)
David Urquhart
IM WILDEN BALKAN
Vom Berg Olymp bis zur
albanischen Adriaküste
Um 1830
Herausgegeben und eingeleitet
von Lars Martin Hoffmann
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Der Text basiert auf der Ausgabe Edition Erdmann, Wiesbaden 2008
Korrekturen: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: Gemälde Café turc prè de Sarajevo von Franz Ruben eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0070-9
INHALT
Einleitung
Erstes Kapitel
Ritt in das Tal Tempe – Ankunft in Ambelákia
Zweites Kapitel
Aufstieg und Niedergang der Handel treibenden Ortschaft Ambelákia
Drittes Kapitel
Aufenthalt im Tal Tempe
Viertes Kapitel
Gegensätze zwischen England und der Türkei
Fünftes Kapitel
Ausflug von Salonika zur Verfolgung von Räubern
Sechstes Kapitel
Kassandra
Siebtes Kapitel
Die Helena von Kassandra
Achtes Kapitel
Altertümliche Nachforschungen in Átheto und Ólynthos – Fest der Räuber und Beraubten – Einfluss der Schulen – Manufakturen auf der Chalkidike – Pläne der Armatolis
Neuntes Kapitel
Bergbau treibende Ortschaft von Chalkidike
Zehntes Kapitel
Verhandlung mit einem Statthalter – Zur See kreuzende Bienen – Revenákia – Biwak – Gomáti – Europäische Sitten – Ein steifer Priester – Herrliche Aussicht – Ákanthos
Elftes Kapitel
Gefangennahme durch Banditen
Zwölftes Kapitel
Der Berg Athos
Dreizehntes Kapitel
Der heilige Berg und seine Bewohner
Vierzehntes Kapitel
Klephten, Piraten und Schmuggler
Fünfzehntes Kapitel
Ernährung – Fieberanfall – Rückkehr nach Salonika
Sechzehntes Kapitel
Zweiter Besuch in Albanien – Veränderte Umstände – Charakter und Wirkung der Ortsregierung – Argyrókastro – Munizipalschulden – Dragomans – Griechisches Verhalten
Siebzehntes Kapitel
Sitten und Erziehung orientalischer Kinder
Achtzehntes Kapitel
Türkische Literatur
Neunzehntes Kapitel
Tepelene – Aufnahme in Berat – Die Geghs
Zwanzigstes Kapitel
Mitternächtliche Abenteuer – Durazzo – Türkische Begriffe von Handel – Europäische Konsuln und Einwohner – Die Franzosen in Ägypten – Mehmed Ali Pascha – Nord-Albanien
Einundzwanzigstes Kapitel
Skodra
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Militärische Bewegungen – Niederlage des Paschas von Skodra
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Redschid Mehmed Pascha Sadrazem
Vierundzwanzigstes Kapitel
Einladung in einen Harem – Mein Wirt, der Imam – Islamkunde
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Leben im Harem
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Die Situation der Frauen – Ihr Einfluss auf häusliche Sitten und volkstümlichen Charakter – Vergleich der Sitten im Morgen- und Abendland
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Schluss
EINLEITUNG
Zweifellos ist das 19. Jahrhundert mit seinen schwerwiegenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen und der mit dem Jahr 1815 begonnenen Neuordnung Europas (und damit auch der Welt) ein faszinierender Zeitraum, in dem sich der Blick der Menschen mehr und mehr weitete. Den Raum, in dem man lebte, empfand man als zu eng, und nach einer dichten Abfolge von teils erfolgreichen, teils gescheiterten Revolutionen – wozu man auch die Industrialisierung und die fortschreitende Maschinisierung von bislang manuell bewältigten Arbeitsprozessen zählen muss –, verschlechterten sich im alten Europa die Bedingungen für viele Menschen. Insbesondere das Leben auf dem Land wird bei einer permanent steigenden Abgabenlast, durch Missernten und eine rasch anwachsende Bevölkerung erheblich schwieriger, und immer größere Gruppen weichen in die Städte der neu entstandenen wirtschaftlichen Ballungszentren aus. Auch die Auswanderung etwa in die Staaten der Neuen Welt oder in die überseeischen Kolonien der Großmächte veränderte das Leben nicht nur der unter Armut und sozialen Missständen leidenden Menschen, sondern auch der bislang führenden Schichten, die zu einem größeren Teil von den alten Verhältnissen abhängig waren und durch den Zusammenbruch bestehender Strukturen selbst in eine Notlage geraten konnten.
Zu letzteren gehörte der Schotte David Urquhart (Aussprache: Ö‘rqwart [beide Vokale kurz]), der im Jahr 1805 in Braelangwell nicht weit entfernt von Inverness geboren wurde. Seine Familie verfügte zwar nicht über ein grenzenloses Vermögen, doch war man wohlhabend genug, um dem Sohn eine angemessene Ausbildung zu sichern. Seinerzeit gehörte es sozusagen zum guten Ton, sein Kind in ein Schweizer Internat zu schicken, weswegen er in Lausanne oberhalb des Genfer Sees, aber auch in Frankreich und Spanien eine solide schulische Ausbildung erhalten sollte, in der alte und neue Sprachen sowie die Geschichte nicht fehlen durften. Gerade die Sprachkenntnisse, die er sich dabei aneignete, sollten Urquhart in seinem späteren Leben von großem Nutzen sein, zumal auf diese Weise auch die Fähigkeit hinreichend trainiert war, in kurzer Zeit weitere Sprachen zu erlernen. Zurückgekehrt nach England nahm er am St. John’s College in Oxford um das Jahr 1822 ein Studium der Altertumswissenschaften auf, das er jedoch recht bald schon abbrechen musste, weil sein Vater verstorben war und er sich nunmehr um den Familienbesitz zu kümmern hatte. Die wirtschaftliche Lage war jedoch keineswegs gut, weswegen man das Landgut aus den eingangs angedeuteten Gründen aufgeben musste.
Gleichwohl hinterließ bei ihm wie bei zahlreichen seiner Zeitgenossen das Studium der Altertumswissenschaften dahingehend Spuren, dass er sich von der allgemeinen Griechenland-Begeisterung seiner Zeit infizieren ließ, die insbesondere nach dem Tod seines berühmten Landsmannes Lord Byron bei Messolonghi im Jahr 1824 unter den durch den Geist der Romantik geprägten Altertumskundlern seiner Zeit vorherrschte. So schloss er sich der Mannschaft des britischen Seehelden Thomas Cochrane (1775-1860) an, der in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts zahlreiche glänzende Siege für England eingefahren und daraufhin eine politische Karriere begonnen hatte. Doch sollte Cochrane England im Jahr 1817 verlassen, nachdem man ihm drei Jahre zuvor wegen eines Börsenskandals, an dem er eigentlich unbeteiligt war, die Ritterschaft aberkannt hatte. Er übernahm daraufhin Seekommandos in der ganzen Welt und befehligte von 1826-1828 auf Ansuchen des späteren griechischen Ministers Aléxandros Mavorkordátos die neu gebildete griechische Flotte, deren Hauptaufgabe es war, die Piraterie im Bereich der Ägäis einzudämmen.
Urquhart gelangte 1827 nach Griechenland, wo er die letzten Ausläufer des Unabhängigkeitskampfes miterlebte. Nachdem Cochrane sein Kommando aus nicht mehr klar ermittelbaren Gründen aufgab und nach England zurückkehrte – Urquhart weist gelegentlich auf die erwiesene Unfähigkeit der griechischen Seeleute hin –, blieb unser Autor, der es bis zum Fregatten-Leutnant gebracht hatte und während des Angriffs auf Salona/Amphissa im Golf von Korinth schwer verwundet worden war, noch ein Jahr länger im Osmanischen Reich. Er reiste nach Konstantinopel, von wo er dann im Jahr 1829 nach England aufbrach und sich dort die Gunst König Williams IV. zu sichern verstand.
Das erste Londoner Protokoll vom 22. März 1829 sollte die Lage in Griechenland beruhigen. Die Großmächte hatten vereinbart, dass Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld die griechische Königskrone angetragen werden sollte, wobei ihn Urquhart als britischer Kommissar in seine neue Heimat begleiten sollte. Die Sache verlief jedoch im Sande, da Leopold, der spätere erste König von Belgien, das Angebot ablehnte. Denn nach dem Text des Protokolls dachte man an eine konstitutionelle Monarchie, wobei die europäischen Großmächte die wirkliche Souveränität über das Gebiet besaßen. Die Verhandlungen gingen weiter, und im Herbst 1831 wurde der Vicomte Stratford Canning zum britischen Sonderbeauftragten an der Hohen Pforte ernannt. Seine Aufgabe war es, strittige Grenzfragen zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich zu klären, die im dritten Londoner Protokoll vom 30. August 1832 Berücksichtigung finden sollten. Urquharts Kenntnisse der Region waren mittlerweile recht gut bekannt, und so verwundert es kaum, dass er von Canning damit beauftragt wurde, die fraglichen Gebiete zu bereisen.
Der griechische Unabhängigkeitskampf war also bis zu einem gewissen Status quo gelangt und die Staatsgründung stand unmittelbar bevor: Das heutige Nordgriechenland befand sich nicht zuletzt aufgrund der Unzuverlässigkeit der Albaner, die ihrerseits eine politische Eigenständigkeit anstrebten, unter osmanischer Oberherrschaft, während der noch neu zu etablierende griechische Staat das heutige Mittel- und Südgriechenland sowie zahlreiche Inseln umfasste. Urquharts erste Reise nach Konstantinopel führte ihn durch zahlreiche der heftig umkämpften Gebiete, die nun entvölkert und ausgeplündert waren. Eine wirtschaftliche Genesung des Landes schien ihm unmöglich zu sein, was alles in allem zu einer tiefgreifenden Revision seiner persönlichen Ansichten führte.
Bereits als Jugendlicher hatte er, der selbst vom Land stammte, massiv unter dem Wechsel der äußeren Bedingungen gelitten, denn ohne Personal und ausreichende Geldmittel konnte das elterliche Gut nicht mehr bewirtschaftet werden. Jetzt erlebte er wiederum, dass eine grundlegende Änderung der äußeren Umstände zum Schlechten führte, denn so beurteilte er nunmehr den griechischen Aufstand, der in seinen Augen einzig Vertreibungen, Raub, Tod und den wirtschaftlichen Niedergang ganzer Landschaften zur Folge hatte. Im hier vorgelegten Band deutet er jedoch an, dass er den Orient nach seiner ersten Reise noch mit einem tiefen Widerwillen gegen all das verließ, was er erlebt und gesehen hatte. Allerdings habe er zum damaligen Zeitpunkt das türkische Wesen noch nicht genügend begriffen, um zu einer angemessenen Bewertung des Gesehenen kommen zu können.
In den Jahren 1830 und 1831 hielt er sich noch zwei Mal in den umkämpften Gebieten auf, für die die europäische Diplomatie noch immer nach einer geeigneten Lösung suchte. Diese zweite und dritte Reise, über die er in dem hier vorgelegten sowie in dem ersten Band Reisen unter Osmanen und Griechen. Vom Peloponnes zum Olymp in einer ereignisreichen Zeit berichtet, finden nun in jener Übergangsphase zwischen dem Ende der großem Kämpfe und der offiziellen Gründung des Königreichs Griechenland statt. Hier tritt Urquharts Sinneswandel ganz offen zutage: Das schlechte, abzulehnende Ereignis ist der griechische Aufstand, bei dem es sich nur um ein Ränkespiel der vereinigten europäischen Diplomatie zu Lasten Englands und vor allen Dingen der Türken handeln könne. Die Osmanen hingegen werden als die guten, großherzigen Verwalter eines riesigen Reichs dargestellt, das von Konstantinopel aus unter dem leichten Los des Islam regiert worden sei. Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse werden idealisiert, erinnern ihn jedoch an die Tage seiner Kindheit auf dem Land, als sich die Welt noch in guter Ordnung befand. Die Kernaussage dabei ist, dass die Türkei trotz der gravierenden Einschnitte noch immer ein starker, lebenskräftiger Staat sei, an dem sich sogar England ein Vorbild nehmen könne. Als den eigentlichen Feind sowohl der türkischen als auch der britischen Interessen macht Urquhart nun Russland aus, das eine weltpolitische Hegemonie anstrebe und sich insbesondere in Südosteuropa sowie im Kaukasus zu Lasten des Osmanischen Reiches – und damit auch zu Lasten von dessen natürlichem Verbündeten, nämlich England, ausdehnen wolle. Doch darauf soll weiter unten noch einmal genauer eingegangen werden.
Im Jahr 1833 machte sich Urquhart neuerlich auf den Weg nach Konstantinopel, von wo er nach Tscherkessien an der Ostküste des Schwarzen Meeres reiste. Welche Ziele er dabei verfolgte, ist nicht ganz klar. Einiges spricht jedoch dafür, dass er im offiziellen Auftrag unterwegs war, um die politische Lage zu sondieren und abzuklären, inwieweit Russland zu einer Ausdehnung seiner Interessenssphären bereit wäre und den englischen Interessen ein weiterer Schaden drohe. Urquhart tarnte sich während dieser Reise als Kaufmann und vermied es peinlichst, seine wahre Existenz zu erkennen zu geben. Bald darauf kehrte er nach London zurück. Dort gründete er sein Portfolio, in dem er zwischen dem November 1835 und dem Mai 1837 in 45 Heften die wichtigsten russischen Dokumente und Akten zur sogenannten Orientalischen Frage publizierte, um damit die Alleinschuld Russlands am Niedergang des Osmanischen Reichs und der daraus folgenden internationalen Verwicklungen zu erklären. Auch in der Gründung des modernen Griechenlands müsse man das Ergebnis einer russischen Verschwörung sehen.
Allerdings blieb er nicht lange in England, und als man 1836 einen Botschaftssekretär für Konstantinopel suchte, der des Türkischen mächtig wäre, nutzte er diese Gelegenheit für eine Rückkehr in den so geliebten Orient und nahm diesen Posten gerne an. Allerdings wandelte sich Urquhart nun selbst zum Türken: Er kleidete und verhielt sich türkisch, gründete einen entsprechenden Hausstand und ließ sich David Bey nennen. Auch dem Vicomte John Ponsonby gegenüber, der die britische Gesandtschaft an der Hohen Pforte von 1832 bis 1841 leitete, verhielt er sich so schlecht, dass dieser sich nur mit weniger Nachdruck für Urquhart einsetzte, als dies notwendig gewesen wäre. Auslöser dafür dürfte unter anderem gewesen sein, dass Ponsonby zu den seinerzeit prominentesten Vertretern der sogenannten Whigs gehörte, also zu den politischen Gegnern Urquharts. Dieser stattete sozusagen als Nachtrag zu seiner Reise zu den Tscherkessen im Herbst 1836 auf eigene Kosten ein Schiff aus, das im Schwarzen Meer Handel treiben, aber auch die russische Blockade der kaukasischen Tscherkessen durchbrechen sollte. England hätte damit den die Waren verteuernden Transithandel durch Russland vermeiden können, denn der Suez-Kanal, der den Seeweg in das indische Kolonialreich so entscheidend verkürzen sollte, wurde ja erst im Jahr 1869 eröffnet. Vieles spricht dafür, dass Urquhart hier nicht ganz aus freien Stücken handelte, sondern dass er mit einer gewissen Rückendeckung aus London rechnen durfte. Oder sollte diese waghalsige Aktion gar einen russisch-englischen Krieg provozieren, bei dem die Türkei als natürlicher Verbündeter Englands hätte auftreten und sich einen neuen, stärkeren Einfluss auf die europäische Politik sichern können? Urquharts Unternehmung scheitert jedoch, da die russische Marine sein Schiff, das den bezeichnenden Namen Füchsin (engl. Vixen) trug, im Schwarzen Meer aufbrachte und festsetzte. Von London erwartete er nun eine Intervention der britischen Regierung, doch diese blieb aus, da der britische Außenminister Lord Palmerston zu diesem Zeitpunkt einem ernsteren Konflikt der beiden Großmächte aus dem Weg gehen wollte. Gleichwohl hatte die Sache für Urquhart persönliche Konsequenzen, denn wegen seines oft flegelhaften Benehmens und seiner offen gezeigten „Türkentümelei“ wurde er 1837 aus Konstantinopel abberufen, um sich dafür vor der britischen Regierung zu rechtfertigen. Auch der Tod seines königlichen Gönners in demselben Jahr, auf den die große Viktoria folgen sollte, trug dazu bei, dass unser David Bey über keine nennenswerte politische Unterstützung mehr verfügte und in offizieller Mission nicht mehr in den Orient zurückkehren durfte.
Eigentlich hätte Urquhart mit der politischen Entwicklung jener Jahre zufrieden sein können, denn Palmerston, den man wegen seiner rigiden Politik in England auch Lord Bimsstein oder Lord Brandstifter nannte, schlug seinen Kabinettskollegen immer wieder eine finanzielle und militärische Unterstützung der Türkei vor. Insbesondere die türkisch-russische Annäherung, die in den Vertrag von Hünkar Iskelesi mündete (1833) und die die Passage der Dardanellen und des Bosporus für Kriegsschiffe fremder Nationen erheblich einschränkte, betrachtete er mit großem Misstrauen – etwas, was in jener Zeit übrigens auch schon für Urquhart selbst galt. Dessen Abenteuer mit der Vixen könnte man vor diesem Hintergrund vielleicht auch als einen britischen Versuch bewerten, den Vertrag von Hünkar Iskelesi auf mögliche russische Reaktionen zu testen. Bis zum Ende der 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts konnte Palmerston jedoch seine Kabinettskollegen nicht wirklich von der Notwendigkeit solcher Maßnahmen überzeugen.
Erst die großen militärischen Erfolge Mehmed Ali Paschas von Ägypten, der nach dem Tod des Sultans Mahmud II. im Jahr 1839 schon im Folgejahr Syrien quasi im Handstreich einnahm und nach Konstantinopel vorzudringen drohte, führten zu einer gemeinsamen europäischen Reaktion zugunsten des Osmanischen Reichs, bei der nur Frankreich auf Mehmed Alis Seite verblieb. Diese Intervention führte nun dazu, dass Mehmed Syrien wieder räumen musste, auch wenn er Ägypten als erbliches Vizekönigtum, das nur formell unter der Oberherrschaft des Padischahs stand, behalten durfte. Abdülmecid I. (1839–1861), dem Sohn und Nachfolger Mahmuds, gelang es, das von seinem Vater eingeleitete Reformwerk fortzusetzen und das Osmanische Reich mit Hilfe seines Urquhart verhassten Großwesirs Chosrew Pascha vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Den politischen Status quo sicherte einstweilen die Londoner Konvention vom 13. Juni 1841. Übrigens hatte Mahmud II. den preußischen Generalstabsoffizier Helmuth von Moltke (1800–1891) in sein Land geholt und diesen mit der Reform seines Heeres betraut. Moltke war es auch, der die stehende Wendung vom Kranken Mann am Bosporus prägte. Die von ihm eingeleiteten Maßnahmen, die etwa zur Einrichtung eines größeren stehenden Heeres, zu einer modernen militärischen Sicherung der Grenzen, aber auch zu einem Wechsel des äußeren Erscheinungsbildes führen sollten – statt der traditionellen Gewänder trug man nun preußisch-blaue Uniformen –, kommentiert Urquhart dabei in seinen Reiseberichten mit Abscheu und fragt sich, wo denn die gute alte Zeit geblieben sei, in der Soldaten noch Helden gewesen wären.
Damit ist eigentlich auch Urquharts weiteres Geschick schon angedeutet, denn er lebte in dem, was war, und nichts lehnte er so sehr ab wie politische und soziale Neuerungen. Was seine weitere Laufbahn betraf, fuhr er sich auf diese Weise selbst auf ein Abstellgleis, und Russland wurde für ihn mehr und mehr zum Prinzip des Bösen, das für jede schlechte Entwicklung in Europa verantwortlich gemacht wurde. Diese Ansichten vertrat er mit einem echt britischen Starrsinn bis zu seinem Tod, und es verwundert kaum, dass man ihn im Großen und Ganzen nicht weiter ernst nahm. Auch politisch verlor er seine Freunde, da er sich sozusagen mit Haut und Haaren zu dem streng konservativen Flügel der Tories bekannte, der britischen Hofpartei – er sagte einmal über sich selbst, er sei ein Tory im reinsten Sinn des Wortes, ein Tory wie zu Zeiten von Anne Stuart –, die sich unter anderem für einen weitgehenden wirtschaftlichen Liberalismus und für eine Beschneidung der Macht der Parlamente einsetzte. Als es Ende der 50er-Jahre des 19. Jahrhunderts zu einer politischen Annäherung zwischen den liberalen Teilen der Tories und den Whigs kam und man im Jahr 1859 die Liberale Partei gründete, lehnte Urquhart all dies entschieden ab.
Zwischenzeitlich sollte er jedoch noch einmal in geheimer Mission auf Reisen gehen, denn es ist gewiss kein Zufall, dass er Spanien (und Marokko) ausgerechnet in jener Zeit besuchte, als der sogenannte erste Carlistenkrieg (1833–1840) zu Ende ging. Nach dem Tod des spanischen Königs Ferdinand VII. war es 1833 zu Thronstreitigkeiten zwischen Maria Cristina von Neapel-Sizilien und dem Prätendenten Karl V. gekommen, die in einen langjährigen Bürgerkrieg münden sollten. Offenbar lag es nun in Palmerstons Interesse, doch etwas mehr über die Lage auf der Iberischen Halbinsel zu erfahren, und ob wirklich mit einer nachhaltigen Befriedung der Region zu rechnen sei. Denn mit Gibraltar, das seit 1830 britische Kronkolonie war, galt es auch englische Interessen in der Region zu wahren. Über diese Reise hat Urquhart einen Bericht hinterlassen, der im Ton und in der allgemeinen Bewertung der Dinge und der menschlichen Natur durchaus mit den orientalischen Reiseberichten übereinstimmt. Welche Nachrichten Urquhart nun an seinen Chef, den Außenminister Palmerston übermittelte, geht aus dem vorliegenden Text natürlich nicht hervor.
In den folgenden zehn Jahren sollte Urquhart jedoch noch einmal eine gewisse politische Karriere machen. Im Jahr 1847 zog er nämlich für die Stadt Stafford in das britische Unterhaus ein und behielt dieses Mandat bis 1852. In dieser Zeit steigerte sich sein Hass auf Russland ins Pathologische, was ihn und seine Anhänger schließlich die politische Glaubwürdigkeit kosten sollte. Insbesondere nach dem Ausbruch des Krim-Krieges (1853–1856) betrieb er eine heftige Opposition gegen die Regierung, der er eine Verharmlosung der russischen Gefahr zu Lasten der britischen Interessen vorwarf. Auch lehnte er als überzeugter Tory die Einmischung Englands in den Krieg ab und wies vehement darauf hin, die Türkei sei stark genug, um sich selbst zu verteidigen und ihre Interessen zu wahren. Alles andere sei eine Beleidigung dieses Landes. Seine nach wie vor bestehenden Verbindungen zu den Tscherkessen nutzte er dahingehend, dass er im Mai 1854 ein allgemeines Schreiben an zahlreiche Stammeshäuptlinge verfasste, in dem er ausdrücklich vor der Hilfe Englands warnte – mit dem Erfolg, dass die entsprechenden Hilfsangebote tatsächlich auch allesamt abgelehnt wurden. Damit hatte Urquhart jedoch den Bogen eindeutig überspannt, und bei der einen Monat später anstehenden Neuwahl zum Unterhaus erhielt er keine einzige Stimme. Um seinen Forderungen einen gewissen Nachdruck zu verleihen, hatte Urquhart eine Reihe von außenpolitischen Komitees gegründet und eine Schar von Aktivisten um sich versammelt, die in England recht bald schon den Namen der Urquhartisten (engl. Urquhartites) erhielt. All diese Gruppen standen der konservativen Partei nahe, auch wenn sie sich zum Teil gegen diese Bezeichnung zur Wehr setzten, da eine zu große Nähe zum Namensgeber sämtliche Bemühungen in Misskredit zu bringen drohte. Dennoch war die Furcht vor Russland auch in den folgenden Jahren kein unbekanntes Thema: Palmerston, der es von 1855–1858 noch als Whig und von 1858–1865 als Liberaler zum britischen Premierminister brachte, wurde von Seiten der Urquhartisten offen als russischer Agent bezeichnet, und Urquhart selbst lieferte 1866 mit seinen Materials for the True Story of Lord Palmerston die scheinbar unwiderlegbaren Belege für diese These. Auch die europäischen 48er-Revolutionen hätte allein Russland initiiert, der amerikanische Bürgerkrieg galt dort als ein Machwerk russischer Geheimagenten und noch Benjamin Disraeli sollte nach Urquharts Tod in England die russophobischen Gefühle schüren.
Urquhart selbst hatte nach seinem Scheitern bei der Wahl zum Unterhaus im Jahr 1854 die alte Idee seines Portfolios wieder aufgegriffen und zur Verbreitung seiner politischen Ideen die Free Press gegründet, die nach 14 Jahrgängen 1866 den Titel Diplomatic Review erhielt. Zu den Autoren und Beziehern der Free Press gehörte übrigens auch Karl Marx, und im Februar 1854 trafen sich die beiden in London – äußerlich vereint in ihrer fundamentalen Kritik an Russland sowie in der strikt ablehnenden Haltung gegenüber Lord Palmerston. Aber während Marx in Russland eher den übelsten Hort einer politisch und gesellschaftlich reaktionären Gesinnung sah, ging es Urquhart nur darum, den russischen Großmachtbestrebungen ein Ende zu setzen, damit der Rest der Welt in Ruhe und Frieden leben könne. Karl Marx erkannte dies recht bald, hatte er doch bereits 1853 in der New Yorker Zeitung Die Reform Urquharts Buch Das Vordringen Russlands im Westen, Norden und Süden kritisiert und dabei auf die fixen Ideen des Autors hingewiesen, der dieselben skurrilen Thesen nunmehr schon seit 20 Jahren propagiere. Und auch das persönliche Treffen führte dazu, dass man sich zwar recht höflich unterhielt und Urquhart ernsthaft glaubte, einen neuen Mitstreiter gefunden zu haben – dass sich Karl Marx nachher jedoch über die krankhaft verteidigten und immer wieder neu untermauerten alten Thesen seines Gegenübers zur Weltpolitik amüsierte. Der Einstieg in das Gespräch unterstreicht dies auf eine sehr plastische Art und Weise: Urquhart begrüßte Karl Marx mit hoher persönlicher Anteilnahme, doch die als großes Lob gemeinte Bemerkung, er schreibe wie ein Türke, fasste Marx eher als Beleidigung auf, und entgegnete seinerseits, er sei Revolutionär und nichts anderes. Allerdings gab es noch einen weiteren Verbindungspunkt zwischen beiden, denn Urquharts grundsätzliche Kritik an der Geldwirtschaft, die von einem imaginären Eigenwert des Goldes ausgehe, obwohl zur Umsetzung dieses Wertes doch ein bestimmtes, beliebig manipulierbares Maß von außen angelegt werden müsse, fand Einzug in das Kapital, also in die nach wie vor bekannteste Schrift von Karl Marx. Mehr Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch beim besten Willen nicht feststellen, denn Urquharts Bestrebungen zielten auf alles andere ab als auf eine grundsätzliche Umwälzung der Gesellschaft.