Albtraumland

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Albtraumland
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Daniela Zörner

Albtraumland

Zehn querhirnige Grübelstories

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Die Welt ist ein Buch

Der Todesnarr

Harmonia

Klub der Egoganten

Requiem für Dornröschen

Waldemar passt auf

Wolfsland

Die Zuckerprinzessin

Madenschmaus

Interview mit einem Drachen

Deeplook

Gestern und davor

Lesertalk

Schmökerliste zu der Autorin

Impressum neobooks

Inhalt

Daniela Zörner

Albtraumland

Zehn querhirnige Grübelstories

und

ein wahres Gedicht

Band 1

Die Welt ist ein Buch

Wir lesen, wandeln, träumen darin

In jeder Sekunde unseres Seins.

Der Todesnarr

Es war einmal ein alter Mann, seines öden, einsamen Rentnerdaseins überdrüssig. Selbst den geringsten Luxus, ein allabendlich genossenes Bier, hatte ihm der Arzt nun verboten.

Eines trübgrauen Wintertages saß der Alte deprimiert, wie meist, in seinem Ohrensessel am kalten Kamin. Er starrte in das schwarze Loch, als befände sich dort sein Privatzugang in die Hölle, und sinnierte über den Tod. Doch diesmal kroch zu seinem Erstaunen aus morbiden Tiefen dunkelster Seele plötzlich die verwegenste Idee seines Lebens hervor. Sie quoll aus seinem schmallippigen Mund: „Wenn der Tod mich nicht will, dann will ich den Tod spielen. Da mag er was von lernen.“

Sein langes Leben hatte der Alte damit zugebracht, den Leuten zu verkaufen, was politische Versager an Dummheiten und Grausamkeiten unter das Volk zu bringen gedachten. Um sich ein wenig Abwechslung zu verschaffen, spann der Alte damals nebenher genüsslich Pläne, trat Konkurrenten weg und zelebrierte Intrigen. Er fühlte sich zu Höherem berufen, was ihm, dem genialen Kopf, jedoch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verwehrt wurde. Immer wieder ging er bei Postenschachereien am Ende leer aus und versauerte bis zum Rentenalter fernab der begehrten Hauptstadt. „Und was haben sie mir damals zum Abschied geschenkt? Ruhm? Ehre? Anerkennung?“, brummte er. „Eine lächerliche Krawatte!“

Der Tod lehnte im Türrahmen und gähnte. Zynisch ließ er den Alten in Ruhe, sollte der Langweiler doch bei lebendigem Leib verrotten.

Trotzig wie ein alter Narr beschloss der Mann, seine Künste ein letztes Mal zu erproben. Zu lange schon brodelte Zorn in seinem Hinterkopf über den Sittenverfall und das hohle Geschwätz über Moral. Und dann die ketzerische Idee seiner Regierung, anstatt die Bevölkerung zu ausreichendem Nachwuchs zu verdonnern, Wilde in Heerscharen in sein Land, seine Heimat zu lassen. Er fühlte, er wusste, dass er bereit war, das gemeine Volk gegen solchen Wahnsinn aufzuwecken. „Ja, dieses schläfrige, denkfaule, stumm geblubberte Volk, so nölig und gierig wie ein Kind“, sinnierte der Alte laut. „Aber Kinder lassen sich gerne locken und verführen.“ Oh ja, er würde sie locken und verführen, sie wecken und wütend machen.

Von da an absolvierte er jeden Tag sein einpeitschendes Hirntraining für die rechte Gesinnung zu seinem Vorhaben. „… gedemütigte Verlierer, verlorene Versager, versagende Zweifler, zweifelnde Heuchler, heuchelnde Faulpelze, faulpelzige Nesthocker, nesthockende Absahner, absahnende Neider, neidische Asoziale, asoziale Dumpfbacken …“ Genau die würde er umgarnen. Stück für Stück und mit größter Disziplin entwarf der Alte seinen perfiden Plan.

Mit beelzebübischem Grinsen lauschte der neugierig gewordene Tod den ketzerischen Gedanken des Alten. „So, so.“

Der Alte öffnete seinen Kleiderschrank, griff nach biederem Sakko mit Weste und der lächerlichen Krawatte. Fertig angekleidet betrachtete er sich im Spiegel. „Opa Harmlos legt los“, versprach er seinem Spiegelbild mit wölfischem Grinsen.

Der Tod, bequem auf seine Sense gestützt, musste sich eingestehen, den Alten möglicherweise unterschätzt zu haben. „Das könnte ein lohnendes Abenteuer werden.“

So zog der Alte los in Kneipen, Festzelte und auf Marktplätze. Dort traf er sie in Scharen, die Überdrüssigen und die Planlosen mit ihrem Neid, ihrer Angst, ihrer Gier und ihrem brodelnden Hass auf alles und jeden. Mehr Leidenschaft trugen sie nicht in sich. Diese Leute langweilten sich fast zu Tode zwischen Job, Fernseher und Bierbauchpflege. Selten hoben sie ihren Blick, nur um nach Aufregbarem zu schielen. Das trieb die innere Fäule. Stieg eine Oma umständlich mit ihrem Rollator in den Bus, sprangen sie keinesfalls zu Hilfe. Stattdessen geiferten sie, warum sich die fremde Oma solch einen Rollator leisten konnte, die eigene Oma jedoch nicht. Erblickten sie im Schwimmbad ein tolles Tattoo, greinten sie vor Empörung, selbst kein solches Tattoo zu tragen. Fuhr der Arbeitskollege mit einem neuen Wagen vor, unterstellten sie ihm krumme Geschäfte. Zumindest lästerten sie derb über das Hüftgold ihrer Nachbarin, die von ihren köstlich duftenden Kuchen nie ein Stück anbot. Doch das schönste Spiel war, den Hund beim lästigen Gassigehen nicht anzuleinen, in grimmig-freudiger Erwartung provozierten Ärgers. Tat der Hund seinen Job und schnappte nach Schuhen oder Hosenbeinen ahnungsloser Fußgänger, war deren Empörung natürlich groß. Dann spien sie den Gepeinigten lustvoll ins Gesicht: „Spielen Sie sich hier nicht auf. Sie sind ja auch nicht angeleint. Gehen Sie doch in Behandlung!“ Für einen lustvollen Augenblick fühlten sie sich herrisch, großartig und stark.

Genau für solche Armseligen besaß der Alte ein feines Gespür. Bald füllten sich Säle und Plätze, wenn er angekündigt wurde, um große Reden zu schwingen. In väterlicher Umarmung betonte er unermüdlich, was für wichtige Bürger sie doch seien in einer Zeit, da ihre Heimat vor die Hunde ging.

Genussvoll suhlte sich der Alte im Narrenpfuhl der Gedemütigten aus eigener Überzeugung, der Antriebslosen oder Selbstversessenen, der Gesternträumer und Fleckkleber, Radikalempfänger oder Geschmacksabstinenzler, Fairnesssaboteure oder Seelenkrepierer, die nun an seinen Lippen hingen und nach eigener Bedeutung lechzten. Oh ja, der Alte hatte ihre Eigenarten studiert wie die Maden an einem ranzigen Huhn. Welch ein Potenzial, welch ein Sumpf morbider Gelüste.

Er verkündete mit großen Gesten seine erlangte Weisheit über den wahren Grund all ihres Übels: „Fremde strömen in unser Land. Sie werden hierher kommen und euch alles nehmen, Hopfen, Malz und Korn, all eure Bräuche!“ Da stellten sich die Leute mit Grausen vor, wie Schwarze und Verschleierte ihr geliebtes Schützenfest, ihre Stammkneipe, ihren China-Imbiss stürmen und die Zapfhähne zerstören würden. Sie erschauderten bei ihrem schalen Bier und redeten sich um den letzten Funken an Herz und Verstand. Einer erhob sich schwankend und brüllte: „Das Bier gehört uns!“

Heimlich wurden Bier und Schnaps gehortet in Kellern oder Garagen. Die eingeflüsterte Saat des Alten ging auf.

Der Tod aber staunte über solch genialen Irrsinn, so simpel gestrickt. „Sieh an, du weißt Lunten zu legen, alter Mann. Aber kannst du auch zündeln?“

Als ob der Alte die teuflische Herausforderung vernommen hätte, gründete er eine Partei. Dort scharte er jene um sich, die wortgewandt Zorn wie Hohn im Übermaß versprühten, Fremdenhasser aus Prinzip. Jeder wollte der Lauteste sein, jeder noch eins draufsetzen.

Nun wiederholte der Alte vor den herbei strömenden Massen gebetsmühlenartig seine Prophezeiung: „Die Fremden werden unser Nationalgetränk vernichten! Sie werden unsere stolzen Brauer in Arbeitslosigkeit und Ruin treiben!“ Und stets schloss er mit dem Satz: „Unser Bier gehört uns!“ Die Menge skandierte wie im Rausch: „Unser Bier! Unser Bier! Unser Bier!“

Zuvor durch Neid und Missgunst entzweit, machten die Leute nun gemeinsame Sache. Sie marschierten und skandierten mit lautem Gebrüll durch die Straßen, dass das Land erbebte. Und sie fühlten sich mächtig. Der Alte rieb sich die Hände, sein Heer formierte sich.

Die Fremden kamen wahrhaftig, wie der Alte es prophezeit hatte. Eine Handvoll hier, eine Handvoll dort. Doch den Leuten wurde weder angst noch bange. Nein, geschult durch den weisen Alten umstachelte Hass ihre mickrigen Herzen. Mit Geheul und Gebrüll entlud sich ihre Wut in abgemagerte Gesichter von gestrandeten Verstörten, Gequälten und Erschöpften. Die Fremden gewahrten in den Augen der wilden Meute die gleiche Mordlust, die sie aus ihrer geliebten Heimat hatte flüchten lassen. Und ihr Hoffnungsschimmer auf Frieden erlosch.

 

Kein Mitleid wollte keimen im Angesicht von ein paar Elenden. Hatten sie, die Einheimischen, nicht selbst Elend genug? Lauwarmes Bier in der Sommerglut und leere Schnäppchenregale im Supermarkt? Mussten sie nicht in Schwerarbeit den Dreck vor der eigenen Tür zu der ihres Nachbarn schieben? War das nicht der Plage genug? Also marschierten sie unermüdlich hin, die Fremden zu begaffen und zu beschimpfen. Schnell erschallten Rufe aus der hasserfüllten Menge: „Die sollen verschwinden!“ Andere schrien: „Das Bier bleibt hier! Das ist unser Land!“ Ihre Kakophonie vereinigte sich schließlich. „Unsere Heimat! Unser Bier!“ Im Rausch des Hasses schritten sie fanatisch mit Benzin und Fackeln zur Tat.

Aber der Alte erhob seine Hände in einer abwehrenden Geste der Unschuld. Sein köstliches Triumphgefühl verbergend bekundete er: „Von Gewalt habe ich niemals gesprochen.“

Solch feige Worte missfielen dem Tod gewaltig. „Narr! Du willst mich um meine reiche Ernte betrügen?“

Nachts kam er den Alten holen.

Harmonia

Vater Biber, du hast da etwas auf deinem Kopf“, begrüßt ihn Frau Biber mit kritischem Blick, als er triefend aus ihrem kleinen Stausee in die Biberburg klettert. Der rosafarbene Plastikfetzen klebt wie eine lächerliche Haube auf des Bibers dunkelhaarigem Haupt. Mit seinen scharfen schwarzen Krallen langt er zu. „Dreck nochmal! Kein Bad, keine Arbeit vergeht mehr ohne diese widerwärtige Menschennahrung dazwischen. Sollen sie an ihren Speisen verrecken.“ Herr Biber redet sich in Rage, wie es nun beinahe täglich geschieht. „Ich wandere aus, mir langt es.“ Manches Mal träumt er davon, gelegentlich schwadroniert Herr Biber auch im Familienkreis darüber, ein fernes, wildes Land zu erobern. Frei von Menschen und deren gefährlichen, allgegenwärtigen Nahrungsresten. „Nicht schon wieder“, murmelt seine Frau in ihren dichten Pelz. Des Gatten erfundene Geschichten über sein glückseliges Land Harmonia verursachen ihr mittlerweile Albträume. Sie leckt weiter an dem tiefen Schnitt unter ihrer Pfote. Energisch verlangt Mutter Biber: „Vergrabe schleunigst die menschlichen Hinterlassenschaften am Ufersaum, bevor sich unsere Jungen ernsthaft verletzen. Ich habe mir auf dem Weg zum Frühstücksbaum bereits eine aufgeschlitzte Pfote geholt.“ „Ja, ja. Eins buddle ich weg, zwei liegen neu. Und das tagein, tagaus.“

Missmutig schwimmt Vater Biber dem Ufer an der Waldwiese entgegen, wo Glasscherben, Kronkorken, Aluschalen, Kaugummis, Taschentücher, Plastikreste und Zigarettenkippen liegen. Im Wasser dümpeln Flaschen, Getränkedosen und noch mehr Plastik. Den halben Morgen hat Herr Biber damit verbracht, genau solch verstopfendes Zeug aus seinem Damm zu zerren, damit wieder mehr Wasser des Baches hindurch strömen kann.

„Oh nein, solch ein Elend“, stöhnt Vater Biber, als er den toten Herrn Bisam zwischen all dem Schlamassel am Ufer entdeckt. „Oh, mein armer Freund.“ Herrn Bisam hängt die Zunge heraus, seine toten Augen voller Panik, um seinen malträtierten Hals rostiger Stacheldraht gewickelt. Überall Blut. „Oh – oh, unser Untergang naht.“ Da packt Vater Biber eine Wut, dass er sich wild herum wirft und wie besessen zu seiner Burg schwimmt.

„Frau! Söhne!“, befiehlt Herr Biber seine Familie herbei. „Wir brechen auf. Jetzt!“ Verzweifelt, da sie glaubt, er habe tatsächlich den Verstand verloren, keucht Frau Biber: „Aber, wo willst du denn hin?“ „Den Bachlauf hinauf, nach Harmonia suchen“, verkündet Vater Biber mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldet. „Freund Bisam wurde ermordet.“

Köteralarm! Köteralarm!“ Vater Schwan spreizt erbost seine imposanten weißen Schwingen und zischt den Hund wütend an, der es gewagt hat, mit einem Satz in den Schwanensee zu springen. Mutter Schwan paddelt eilig mit ihrer Kükenschar davon. „Tag für Tag der gleiche Stress“, schimpft sie, „wir sollten auch auswandern.“ Während Herr Schwan erfolglos versucht, den Hund zu verscheuchen, nörgelt Frau Schwan lauthals weiter. „Nirgends sind wir mehr sicher. Keinen Schritt kann man mehr in Ruhe auf unserer saftigen Waldwiese machen. Sollen unsere Küken verhungern?“

Zwei weitere Hunde platschen in den See. Herr Schwan gibt es dran und flüchtet zu seiner Familie bis in die Mitte des Sees.

„So beruhige dich, Frau. Dein Gezische ist unerträglich“, nörgelt Vater Schwan. „Warum sollte ich? Alle Vernünftigen sind bereits fortgewandert aus dieser Hölle. Nach Harmonia!“, plustert sie sich auf. „Du übertreibst.“ „Ach ja? Wo sind denn Entens, Haubentauchers, Eichhörnchens, Hasens und wer noch alles abgeblieben?“ Schwerfällig watschelt Frau Schwan auf ihre winzige Insel im See, gefolgt von ihren sechs Küken. „Mama, mir ist schlecht.“ Mit sehnsüchtigem Blick schaut Frau Schwan zu ihrer geliebten Wiese hinüber, die gerade von Menschen zertrampelt, mit noch mehr Müll und Hundekot übersät wird. „Mama, mir ist so schlecht.“ Das Küken beginnt zu würgen, würgt und würgt, bis ein weißes Plastikknäuel vor den gelben Füßen von Mutter Schwan landet. „Küken! Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihre keine Menschennahrung essen dürft?“ Das Küken würgt weiter. „Da hast du es. Unsere Kinder werden krank und ich kann nicht mal mehr die kräuterkundige Frau Hase um Rat fragen. Falls überhaupt noch Kräuter auf der geschundenen Wiese gedeihen.“ Das Küken röchelt, torkelt und fällt tot um. Da erschallen trompetenlaute Klagerufe über den See. „Tod! Tod und Verderben!“ Frau Schwan erhebt sich mit schweren Flügelschlägen. „Mein Küken ist tot!“ In größter Verzweiflung fliegt sie immer höher hinauf, beginnt den See zu umkreisen. „Menschenmörder! Menschenmörder!“ Begeistert zeigen die Menschen zu dem großen, trompetenden Vogel hinauf, dessen weißes Gefieder so prächtig im Sonnenlicht leuchtet.

Guten Morgen, Frau Nachbarin“, grüßt Herr Schwan die Maulwürfin, als sie eben ihren Kopf aus dem frisch aufgeworfenen Hügel auf der taufeuchten Wiese steckt. Mit heftig zuckender, schnuppernder Nase kommt: „Sind Sie es, Herr Schwan?“ „Ja, ja. Darf ich Sie um Rat bitten?“ „Es ist mir eine Ehre. Worum geht es?“ „Harmonia.“ „Nicht schon wieder“, stöhnt Frau Maulwurf. „Meine Frau hat es sich in den Kopf gesetzt auszuwandern.“ Mutter Maulwurf bläht ihre Backen und versetzt: „Ihre Küken können nicht fliegen, meine Jungen nicht buddeln, so einfach ist das. Wir bleiben, habe ich Vater Maulwurf gesagt.“ „Überaus weise. Sagen Sie, ist Ihnen mehr zu Ohren gekommen als dieses ,Harmonia ist der Baumwipfel aller Harmonien‘?“ „Alles Grunz, wenn Sie mich fragen.“ „Guten Morgen!“, piepst ein herbei trippelnder Igel. „Vernahm ich gerade Harmonia?“ Entrüstet gibt Mutter Maulwurf zurück: „Opa Igel, du willst doch wohl nicht? In deinem Alter.“ Der Igel kichert. „Nein, nein, solche Torheiten überlasse ich den Jungflüggen.“ „Aber wissen Sie mehr darüber?“, begehrt Herr Schwan zu erfahren. „Nun“, sagt der Igel gedehnt, „im Gebüsch wispern so manche Gerüchte.“ Bedächtig legt er eine Pause ein. „Was, was, was, waaaas?“, ruft Frau Maulwurf atemlos. Und Vater Schwan wirft ein: „Nie kehrte jemand von dort zurück.“ Dennoch neigt er seinen Kopf neugierig tiefer. „Wer der Morgensonne folgend den Bach entlang wandert“, hebt Opa Igel an, „der soll auf einen herrlichen, unendlich großen See stoßen, umgeben von üppigen Wiesen und uraltem Wald, wo kein Mensch mit und ohne Köter je gesehen wurde.“ Prompt zischt Herr Schwan: „Das ist doch ein Märchen.“ Davon unbeeindruckt fährt der Igel fort: „Dort soll ein mächtiger Biberkönig herrschen.“ „Unsinn!“, schnaubt Frau Maulwurf. Plötzlich saust Mutter Schwan im Tiefflug über die Drei auf der Wiese hinweg. „Das Wasser steigt! Das Wasser steigt! Wir versinken!“ „Also haben mich meine alten Augen keineswegs betrogen.“ Opa Igel deutet auf eine Königskerze, deren untere Blätter im Wasser stehen. „Ach was, das passiert manches Mal, wenn der Bach etwas anschwillt“, winkt Mutter Maulwurf ab. Doch Herr Schwan wirft ein: „Ohne Regen? Bevor Herr Biber im Frühjahr verschwand, hatte er oft betont, wieviel Arbeit es sei, den Damm zu reinigen. Der Bach müsse unbedingt fließen.“ „Ach, der alte Wichtigtuer“, grummelt sie nur. Nun verabschiedet sich Herr Schwan hastig, um seine Frau zu beruhigen.

Am folgenden Tag paddelt Vater Schwan, tief in sorgenvolle Gedanken versunken, dem alten Biberdamm entgegen. Wieder ist ein Küken qualvoll erstickt. Den toten Frosch, dessen ganzer Körper in merkwürdige Fäden verstrickt am hinteren Waldufer lag, hat er seiner gepeinigten Frau Schwan verschwiegen.

Erst kurz vor dem Damm entdeckt Herr Schwan die seltsame Versammlung am rechten Ufer. Frösche, Mäuse, Nattern, Eidechsen und sogar mehrere Fische, die ihre Köpfe aus dem Wasser stecken, scheinen voller Aufregung. „Ich sage euch, der See wird überlaufen.“ „Und ich sage, der Damm wird brechen.“ Herr Schwan paddelt nahe heran und fragt: „Darf ich den erlauchten Kreis um Auskunft bitten, worum genau es hier geht?“ „Sie dürfen“, quakt der dickste Frosch. „Herr Biber hielt seinen Damm stets sauber von Menschennahrung. Doch die Biberburg steht seit Langem leer. Sie sehen es ja selbst, Herr Schwan, inzwischen ist der gesamte Damm verstopft.“ Von der Seeseite aus könnte man glauben, der Damm sei aus Müll erbaut worden, so bunt verfangen reichen die menschlichen Hinterlassenschaften bis zur Dammkrone hinauf. Ein dicker schwimmender Müllteppich staut sich davor an. „Nur Rinnsale dringen noch hindurch, der Bach dahinter fällt trocken“, klagt eine Eidechse. Und Frau Mäuserich piept ängstlich: „Wenn der See weiter steigt, sind unsere Nester in Gefahr!“ „Wenn der Damm bricht, stirbt unsere Brut“, jammern die Fische. „Und kein neuer Dammbauer weit und breit.“ Ein zweiter Frosch überlegt laut: „Meine Cousine ist nach Harmonia unterwegs. Vielleicht war sie doch klüger.“ Die Nattern nicken. „Auch unsere Brüder schlängelten sich des Weges.“ Nun reden alle durcheinander, ob angesichts der drohenden Katastrophe ein baldiger Aufbruch angeraten sei. Panische Rufe werden laut. „Aber was wird aus unseren Jungen?“ „Was wird aus unserer Brut?“ Herr Schwan paddelt davon. Sein Entschluss steht fest. Am nächsten Morgen wird er einen Erkundungsflug starten.

In der Nacht zieht ein gewaltiges Unwetter auf. Schwere Sturmböen knicken Äste ab und wirbeln Plastiktüten durch die Luft. Sintflutartige Regengüsse prasseln herab. Der Bach schwillt schnell an, seine reißenden Fluten nehmen alles mit, was lose an den Böschungen hängt. Tosend drückt das Wasser mitsamt Ästen, Schlamm und Müll gegen den alten Biberdamm. Höher und höher steigt der Schwanensee. Die Fluten dringen auf der Wiese in Maulwurfgänge und Wespenbau ein. Auch die Schwaneninsel wird überschwemmt. Am Waldsaum erreicht das Wasser ein erstes Igelnest, nacheinander versinken Krötenheim und Ameisenhügel in den Fluten.

Knackend und krachend zerbirst der Damm. Wer noch lebt, wird hilflos von den tosenden Wassermassen aus dem See heraus- und mitgerissen. Die verlassene Biberburg, letztes Zeugnis meisterlicher Baukunst, hinfort gespült.

Als der Morgen dämmert, existiert kein Schwanensee mehr. Aus dem schlammigen Grund ragen ein rostiges Mofa, Fahrradteile und ein paar Autoreifen zwischen Bauschutt, Eimern und anderem Unrat hervor. In die unheimliche Windstille hinein erschallen vereinzelte Klagerufe nach Kindern, Vater, Mutter, Verwandten oder Nachbarn, ohne Hoffnung auf Lebenszeichen. Von Grauen und Verzweiflung gezeichnet, schleppen sich wenige Überlebende, als würden sie einem Ruf folgen, zu der mit Matsch überzogenen Wiese. Ohne ein einziges Küken kommen Mutter und Vater Schwan, ohne Brut schleichen zwei Nattern und drei Frösche heran, ohne Familien treffen ein blutjunger Igel, Vater Maulwurf, Mutter Wiesel und noch einige andere Überlebende ein.

Als sich die Sonne erhebt, setzt sich die kleine Schicksalsgemeinschaft in stummer Übereinkunft in Bewegung.

Nach vier Tagen der Wanderung voller Gefahren und Entbehrungen trifft die Notgemeinschaft auf einen grob gezimmerten Lattenzaun, der Land und Bach überspannt. Die kleineren Tiere schlüpfen unterdurch, Schwans fliegen darüber hinweg. Als sie einige Zeit ihren Weg am Bach entlang fortgesetzt haben, fragt Herr Maulwurf staunend: „Fällt euch gar nichts auf?“ Seine Begleiter blicken sich müde um. Doch dann erscheint ein Leuchten in ihren verblüfften Gesichtern. Und Herr Schwan trompetet: „Keine Menschennahrung weit und breit!“ „Unglaublich!“, rufen alle durcheinander. „Einfach unglaublich!“ Voller Zuversicht strebt die Gemeinschaft nun voran.

 

Einige Stunden später erreichen die Flüchtlinge tatsächlich einen kolossalen Biberdamm. Doch zwei Biberwachen stellen sich den Ankömmlingen bedrohlich in den Weg. Der eine entblößt seine furchteinflößenden Schneidezähne. Der zweite Biber feindet sie an: „Kehrt um! Wir nehmen euch nicht auf. Hier herrscht Hunger! Zu viele kamen vor euch und erbaten Schutz in Harmonia.“

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