Czytaj książkę: «Sexuelle Gewalt gegen Frauen»
Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie
Herausgegeben von
Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,
Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.
Band 25
Sexuelle Gewalt gegen Frauen
von
Prof. Dr. Daniela Pollich
Marcus Stewen
Julia Erdmann
Dr. Maike Meyer
Corinna Mahle
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
E-Book
1. Auflage 2020
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2020
ISBN 978-3-8011-0858-8 (EPUB)
Buch (Print)
1. Auflage 2019
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2019
Satz: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden
Druck und Bindung: Druckerei Hubert & Co, Göttingen
Printed in Germany
ISBN 978-3-8011-0859-5
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Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden
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Inhaltsverzeichnis
1Eingrenzung und Vorwort
2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen
2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten
2.2Rechtliche Definitionen und Straftatbestände
2.2.1Rechtshistorie
2.2.2Aktuelle Straftatbestände
2.3Grenzen strafrechtlicher Einordnung und wissenschaftliche Definitionen
3Erklärungsansätze für sexuelle Gewalt
3.1Evolutionstheoretische und biologische Ansätze
3.2Psychologische Erklärungsansätze
3.3Soziologische und kriminologische Ansätze
3.3.1Gesellschaftsorientierte und feministische Ansätze
3.3.2Kriminologische und viktimologische Erklärungsansätze
3.3.3Situationsbezogene Erklärungsansätze
3.4Integrative Ansätze
4Kriminalitätslage und -entwicklung
4.1Erkenntnisse aus dem Hellfeld
4.1.1Entwicklung der Fallzahlen
4.1.2Erkenntnisse zu Fällen, Tatverdächtigen und Opfern im Jahr 2017
4.1.3Erkenntnisse zur Vorbeziehung zwischen Tatverdächtigen und Opfern
4.1.4Justiziell bearbeitete Fälle
4.2Erkenntnisse aus dem Dunkelfeld
5Phänomenologie
5.1Tatmerkmale
5.1.1Zeitliche und räumliche Merkmale der Tat
5.1.1.1Zeitliche Aspekte
5.1.1.2Kontaktort
5.1.1.3Ortsverlagerungen zwischen Kontaktort und Tatort
5.1.1.4Tatorte und -örtlichkeiten
5.1.1.5Räumliches Nachtatverhalten
5.1.2Handlungsabläufe der Tat
5.1.2.1Tatentschluss, Planungsgrad und Opferauswahl
5.1.2.2Kontaktaufnahme
5.1.2.3Verbalverhalten und Gewalteinsatz während der Tat, Verletzungsfolgen
5.1.2.4Opferwiderstand, Gewalteskalation
5.1.2.5Sexuelle Handlungen
5.1.2.6Tatabbruch und Nachtatverhalten
5.1.2.7Verschleierungshandlungen und Mitnahme von Gegenständen des Opfers
5.1.2.8Zusammenhang zwischen Tat- und Tätermerkmalen
5.1.3Situative Rahmenbedingungen der Tat
5.1.3.1Opfer-Täter-Beziehung
5.1.3.2Tatbeteiligte, Gruppentaten
5.1.3.3Substanzeinfluss zum Tatzeitpunkt
5.2Täterbezogene Erkenntnisse
5.2.1Soziodemografische Merkmale
5.2.2Soziale Schwierigkeiten
5.2.3Strafrechtliche Vorbelastung und polizeiliche Auffälligkeit
5.2.4Sexuelle Vorerfahrungen und sexualitätsbezogene Einstellungen
5.2.5Psychische Auffälligkeiten
5.3Opferbezogene Erkenntnisse
5.3.1Soziodemografische Merkmale
5.3.2Vorbelastungen der Opfer
6Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten
6.1Der Erste Angriff
6.1.1Sicherungsangriff
6.1.1.1Eingang der Information
6.1.1.2Maßnahmen am Tatort
6.1.1.3Übergabe des Tatortes
6.1.2Auswertungsangriff
6.1.2.1Maßnahmen in Bezug auf das Opfer
6.1.2.2Maßnahmen an den Tatörtlichkeiten
6.1.2.3Maßnahmen am Tatverdächtigen
6.2Weitere Ermittlungsmaßnahmen
6.2.1Personenwiedererkennungsverfahren
6.2.1.1Phantombilderstellung
6.2.1.2„Digitale“ Lichtbildvorzeigekartei
6.2.1.3Wahllichtbildvorlage, Gegenüberstellung, simultane Wahlgegenüberstellung und sequenzielle Wahlvideogegenüberstellung
6.2.2Weitere Informationserhebung und Umgang mit Informationen
6.2.2.1Büroermittlungen
6.2.2.2Datenabgleich und Rasterfahndung
6.2.3Nutzung von DNA im Ermittlungsverfahren und DNA-Reihenuntersuchung
6.2.3.1DNA im Ermittlungsverfahren
6.2.3.2DNA-Reihenuntersuchung
6.3Service der Dienststellen Operative Fallanalyse und ViCLAS
6.3.1ViCLAS
6.3.2Die Operative Fallanalyse
6.3.2.1Grundsätzliches zur Operativen Fallanalyse
6.3.2.2Vergleichende und geografische Fallanalyse
7Polizeilicher Opferschutz
7.1Bedeutung des Opferschutzes bei Sexualdelikten
7.2Rechtliche Regelungen im Bereich Opferschutz
7.3Opferschutz in der polizeilichen Ermittlungsarbeit
7.4Anonyme Spurensicherung als Opferschutz außerhalb der polizeilichen Ermittlungsarbeit
8Prävention von Sexualdelikten
Literaturverzeichnis
1Eingrenzung und Vorwort
Der vorliegende Band befasst sich mit sexueller Gewalt durch strafmündige männliche Täter, die an weiblichen Opfern im Jugend- und Erwachsenenalter verübt wird. Zudem beschränkt sich die Darstellung ausschließlich auf solche Delikte, bei denen sich Täter und Opfer vor der Tat nicht oder nur flüchtig kannten. Der Schwerpunkt der deliktischen Betrachtung liegt auf Fällen sexueller Nötigung und Vergewaltigung.
Mit dieser Eingrenzung soll keineswegs ausgedrückt werden, andere Opfergruppen, wie Männer oder Kinder, andere Tätergruppen, wie Täterinnen, oder andere Täter-Opfer-Konstellationen, wie Gewalt im häuslichen Kontext, seien weniger relevant. Vielmehr unterscheiden sich derartige Fallkonstellationen qualitativ von der hier dargestellten und würden eine gesonderte Darstellung beispielsweise hinsichtlich der Datenlage, der Erklärungszusammenhänge, der Phänomenologie und teilweise der polizeilichen Ermittlungs- und Opferschutzmaßnahmen erfordern. Da dies den Rahmen des vorliegenden Bandes sprengen würde, fand notwendigerweise eine Konzentration auf den oben beschriebenen Gegenstandsbereich statt.
Die Forschungsliteratur zum Untersuchungsgegenstand ist recht heterogen und Studien ausschließlich zu sexueller Gewalt männlicher Täter, die dem weiblichen Opfer fremd oder allenfalls flüchtig bekannt sind, sind rar. Aus diesem Grund wird hier auf eine breite Basis an allgemeineren Studien zu sexueller Gewalt zurückgegriffen, wobei stets angestrebt wird, Befunde zu den hier fokussierten Fallkonstellationen zu extrahieren. Wegen der bestehenden Analogien zwischen sexuell assoziierten Tötungsdelikten und Sexualdelikten, die für die Opfer nicht tödlich enden1, werden die Ausführungen an einigen Stellen zudem durch Befunde zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen ergänzt. In erster Linie wird im vorliegenden Band die deutschsprachige Forschungsliteratur zum Phänomenbereich wiedergegeben, da die für Deutschland gültigen Befunde auch maßgeblich für die polizeiliche Arbeit hierzulande sind. An einigen Stellen wird jedoch ergänzend auf internationale Befunde zurückgegriffen.
Weiterhin wird für die hier betrachteten Delikte der Begriff der sexuellen Gewalt gewählt. In der aktuellen, besonders in der feministisch orientierten Literatur wird alternativ häufig der Begriff der sexualisierten Gewalt verwendet, um aufzuzeigen, dass „Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist“2. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung werden in dieser, teilweise kontrovers diskutierten Sicht in erster Linie als ein Gewaltdelikt gesehen, bei dem die Sexualität eher als ein Tatmittel anzusehen ist.3
Auch in der kriminologischen Forschung zum Deliktsbereich herrscht weitgehend Einigkeit bezüglich der Tatsachte, dass bei weitem nicht alle Sexualdelikte dem Motiv der sexuellen Befriedigung entspringen, sondern „dass die Täter aggressiver Sexualdelikte Sexualität häufig als Instrument der Beherrschung, der Unterdrückung und Erniedrigung einsetzten – regelmäßig als Reaktion auf Kränkungen und Ängste, die zu einem von Hass und Wut bestimmten Verhältnis gegenüber Frauen geführt haben. Taten mit rein sexueller Motivation, d.h. um sexuelle Erregung abzureagieren, sind dagegen vergleichsweise selten“4. Es handelt sich demnach in erster Linie um Gewaltdelikte, bei denen auch ein Machtaspekt im Vordergrund steht. Dennoch ist nicht darüber hinwegzusehen, dass in den meisten Fällen von Vergewaltigung die sexuellen Handlungen das Tatgeschehen auf Verhaltensebene dominieren.5
Womöglich deshalb hat sich in der kriminologischen und kriminalistischen Literatur der Begriff der sexuellen Gewalt derart stark eingebürgert, dass er auch im vorliegenden Band Verwendung findet.
Erwähnenswert ist überdies, dass für die Betroffenen sexueller Gewalt in diesem Band der Begriff des Opfers verwendet wird, auch wenn dieser gelegentlich in der Kritik steht, eine gewisse Passivität und ein Ausgeliefertsein zu unterstellen, das womöglich ein Leben lang nachhallt. Aus diesem Grund bevorzugen einige Autorinnen und Autoren den aktiv konnotierten Begriff der Überlebenden von Sexualdelikten.6 In einem kriminalistisch und kriminologisch ausgerichteten Band wie diesem erscheint dieser Begriff jedoch, auch wenn seine beabsichtigte Konnotation sinnvoll erscheinen mag, unpräzise: Da sich die Darstellung hier nah an strafrechtlichen Sachverhalten orientiert, die danach differenzieren, ob eine Tötung oder auch ein Tötungsversuch bzw. eine Tötungsabsicht vorlagen oder nicht, würde die Argumentation an einigen Stellen verschwimmen. Gerade weil, wie weiter oben im Text beschrieben, auch Forschungsarbeiten zu sexuell assoziierten Tötungshandlungen einbezogen werden, wäre eine pointierte Darstellung von Forschungsbefunden nicht möglich.
Es ist Ziel des vorliegenden Bandes, die komplexen wissenschaftlichen sowie polizeilichen Wissensbestände zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen zusammenzufassen und praxistauglich darzustellen. Damit sollen den Akteuren der praktischen Kriminalitätskontrolle die erforderlichen Kenntnisse für einen sachgerechten polizeilichen Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen kompakt vermittelt werden. An einigen Stellen war dies eine Gratwanderung zwischen der erforderlichen umfassenden Darstellung des Wissensstandes zum Thema und den Bedarfen und Erfordernissen der Praxis sowie von Studierenden im Bereich Polizeivollzugsdienst. Wir hoffen, diese weitestgehend bewältigt zu haben. Für wertvolle Hinweise zum Manuskript danken wir herzlich Arjen Akkersdijk, Horst Clages, Barbara Ernst und besonders Wolfgang Gatzke.
Düsseldorf, im Juni 2019
1Siehe beispielsweise Straub/Witt, 2002 S. 17–18, 29; Steck/Raumann/Auchter, 2005, S. 78.
2Sanyal, 2017, S. 41.
3Sanyal, 2017, S. 41–43.
4Elsner/Steffen, 2005, S. 13.
5Siehe beispielsweise Uhlig, 2015, S. 62.
6Siehe genauer Sanyal, 2017, S. 93–95.
2Gesellschaftliche und rechtliche Definitionen
2.1Gesellschaftliche Wahrnehmungen von Opfern, Tätern und Taten
Die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit auch die Definition dessen, was abweichendes oder „unmoralisches“ sexuelles Verhalten ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Damit verschieben sich nicht nur stetig die Bewertungsmaßstäbe in der öffentlichen Diskussion; auch die Entwicklung des Sexualstrafrechts wird essenziell von der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung und Beurteilung mitbestimmt.7
Seit jeher sind Sexualdelikte stark mit den Begriffen „Ehre“ bzw. „Scham“ verknüpft. Schon in der Antike war die Ehre einer Frau – anders als bei Männern, die sich auch im Krieg oder im Beruf unter Beweis stellen konnten – aus gesellschaftlicher Sicht eng mit ihrer gelebten Sexualität, d.h. mit ihrer Jungfräulichkeit bzw. ihrem Status als Ehefrau, verbunden. Hatte eine Frau (freiwilligen oder unfreiwilligen) Geschlechtsverkehr mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, galt sie damit als „entehrt“ und in der Gefahr, alles gesellschaftliche Ansehen und damit auch ihre „Existenzgrundlage“8 zu verlieren.9 Wurde eine Frau gewaltsam zum Sexualverkehr gezwungen, wurde sie damit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ihrer Ehre beraubt. Dies zeigt auch die Herkunft des englischen Begriffs für Vergewaltigung „rape“, welcher vom lateinischen „rapere“ (auf Deutsch „Raub“) abstammt. Auch der heute veraltete deutsche Begriff „Notzucht“ hat sich aus dem althochdeutschen Begriff für Raub im Allgemeinen entwickelt. Bemerkenswert hieran ist, dass die Ehre nur einer solchen Frau geraubt werden konnte, die zuvor in der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Besitz einer solchen war.10
Zeigte eine Frau noch im 18. und 19. Jahrhundert ein sexuelles Gewaltdelikt bei der Polizei an, wurde bei verheirateten oder verwitweten Frauen der unbescholtene gesellschaftliche Ruf überprüft, bei unverheirateten Frauen die Dehnbarkeit der Vagina, um (vermeintlich) festzustellen, ob Geschlechtsverkehr bereits vor dem angezeigten Delikt stattgefunden hatte oder nicht. Zum Nachweis der weiblichen „Ehre“ vor Gericht war es sogar bis in die 1970er Jahre hinein (siehe Abschnitt 2.2.1) nötig, den Verlust eben dieser durch ein entsprechendes Auftreten als Opfer glaubhaft zu machen und nachzuweisen, dass man sich der Vergewaltigung in ausreichendem Maße und während des gesamten Tatgeschehens widersetzt hatte. Nur dann war in der gesellschaftlichen und auch rechtlichen Wahrnehmung eine „echte“ Vergewaltigung gegeben.11
Seit dieser Zeit hat das Konzept der (verlorenen) „Ehre“ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung verloren und wurde durch die „Scham“, die Opfer sexueller Gewalt empfinden, weitestgehend ersetzt. Während eine erlebte Vergewaltigung heute weniger einen (existenziellen) gesellschaftlichen Ehrverlust bedeutet, wenden viele Frauen die Reaktion auf den Angriff in Form von Scham nach innen und damit gegen sich selbst. Diese Scham kann beschrieben werden als „eine hochkomplexe Emotion, die kulturell erlernt werden muss und sich keineswegs automatisch einstellt.“12
Dass derartige Reaktionsweisen von Opfern erlernt werden, liegt sicherlich auch daran, dass die Gesellschaft bis heute Vergewaltigungsopfern, mehr oder minder bewusst, häufig eine gewisse Mitschuld am Erlebten zuschreibt. Beispielsweise in Form so genannter Vergewaltigungsmythen werden die althergebrachten Vorstellungen in die heutige Zeit übertragen. Vergewaltigungsmythen können definiert werden „als Meinungen über Opfer, Täter und Umstände einer Vergewaltigung, die durch vorliegendes Tatsachenwissen nicht gestützt bzw. widerlegt sind“13. Diese Mythen bieten vermeintliche Erklärungen für das Erleben sexueller Gewalt dahin gehend, dass nur bestimmte Frauen einem Risiko unterliegen, Opfer eines solchen Delikts zu werden: „Nice girls don’t get raped“14. Der Ursprung derartiger Mythen liegt nicht zuletzt in der gesellschaftlich lange verankerten Vorstellung der (vermeintlichen) Ungleichwertigkeit von Mann und Frau, die insbesondere von der feministischen Bewegung seit den 1970er Jahren angeprangert wird. Die damals gelebte Dominanz des Mannes über die Frau führte zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verharmlost wurde und zum Teil auch heute noch wird.15
Vor diesem Hintergrund wird Opfern sexueller Gewalt häufig eine Mitverantwortung an ihren Viktimisierungserfahrungen zugeschrieben, beispielsweise durch ihre Kleidung, ihr Verhalten, ihre unzureichende Wehrhaftigkeit oder den unterstellten Wunsch, sie wollen „zum Sex überredet“ oder gar „insgeheim vergewaltigt“ werden. Schneider berichtet in diesem Kontext von einem lang gehegten „gesellschaftliche[n] Stereotyp, das bis heute nachwirkt: ‚Wirkliche’ Vergewaltigung besteht darin, dass ein psychisch abnormer, bewaffneter Fremder eine Frau aus dem Hinterhalt sexuell angreift und ihr erheblichen körperlichen Schaden zufügt. Das weibliche Opfer leistet vergeblich verzweifelten Widerstand“.16 Weicht eine Tat von diesem klischeehaften Bild ab, kann es für Opfer oftmals heute noch schwierig sein, für glaubwürdig gehalten zu werden. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Missstände gesellschaftlich und auch im behördlichen Umgang etwas abgeschwächt17, obwohl derartige Schuldzuweisungen auch heute noch durchaus vorzukommen scheinen.18
Doch nicht nur die gesellschaftliche Wahrnehmung der Opfer, sondern auch die der Täter ist im Bereich der Sexualdelikte besonders und wohl mit keinem anderen Delikt vergleichbar. So schreibt beispielsweise Sanyal, dass eine „unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Tätern ein noch größeres Tabu zu sein [scheint] als all die anderen Fragen um das hochaufgeladene Thema Vergewaltigung“; daraus resultiere eine „Entmenschlichung der Täter“19 seitens der Gesellschaft. So zeigen Studien, dass für Vergewaltigungstäter seitens der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Straftätern höhere Strafen gefordert und deren Chancen auf Rehabilitation gleichzeitig deutlich niedriger eingeschätzt werden.20 Besonders bei Vergewaltigungstätern ist die Angst der Bevölkerung vor Wiederholungstaten groß und die gesellschaftliche Wiedereingliederung wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern skeptisch gesehen.21 Die Täter eines derartig ablehnenswerten Verbrechens werden von der Gesellschaft daher als andersartig und bösartig, gar als nicht zur Gesellschaft gehörig definiert: „Vergewaltiger sind nicht wie wir. Oder anders ausgedrückt: Vergewaltiger sind nicht wir.“22
Dabei zeigt die Forschung, dass zahlreiche Vergewaltigungstaten durch Täter mit einer breiten Palette krimineller Aktivität begangen werden, die nur gelegentlich durch psychologische oder psychiatrische Störungsbilder auffallen (siehe hierzu genauer Abschnitte 3.2 und 5.2.5) und dass sich sexuelle Gewalt nicht selten situativ entwickelt. Damit zeichnen sich die Täter von Vergewaltigungen in vielen Fällen nicht durch wesentlich andere Merkmale aus, als die Täter anderweitiger Delikte. Dennoch werden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung „vollkommen bösartige Täter“ „gute[n] unschuldige[n] Opfer[n]“23 (sofern diese als „unbescholten“ gelten und das Delikt dem oben geschilderten Stereotyp entspricht) gegenübergestellt. Dieses durch eine Vergewaltigungstat anhaftende gesellschaftliche Etikett ist für die Täter kaum wieder abzustreifen. Wie drastisch die Folgen einer solchen Etikettierung sein können, wird besonders an unschuldig bezichtigten Tatverdächtigen sexueller Gewalt deutlich. Jedoch auch die gesellschaftlichen, beruflichen und existenziellen Folgen für einige Täter, die im Kontext der #MeToo-Debatte24 als solche bekannt wurden, können hierfür als Beispiele herangezogen werden, ohne dabei die Tragweite der von ihnen begangenen Delikte schmälern zu wollen.
Die gesellschaftliche Funktion dieses Schwarz-Weiß-Denkens besteht womöglich – ähnlich wie bei der gesellschaftlichen Sicht auf die Opfer – darin, das Kontinuum und die Graubereiche der Ursachen von sexueller Gewalt nicht anzuerkennen. Auf diesem Weg kann vermieden werden, gesellschaftlich akzeptieren zu müssen, dass auch „normale“ Männer zu Vergewaltigungstätern werden können und dass auch das gesellschaftliche Klima eine Mitverantwortung für die Entstehung derartiger Übergriffe trägt.25 Diese Sichtweise hat einigen Autorinnen und Autoren zufolge auch auf gesetzliche Änderungen der jüngsten Zeit (siehe genauer Abschnitt 2.2.2) Einfluss genommen: Das höhere Strafbedürfnis und das gesellschaftliche Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Vergewaltigungstätern spiegle sich auch im heutigen Sexualstrafrecht und den anhaltenden Diskussionen um dessen Ausweitung wider.26
Insgesamt zeigt sich, dass die Einstellungen zu Opfern und Tätern sexueller Gewalt sehr eng mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, Werten und Moralvorstellungen zusammenhängen. Selbiges gilt auch für die Taten selbst: Welche Arten sexueller Handlungen aus Sicht der Gesellschaft gegen die gültige Moral verstoßen oder sogar unter Strafe gestellt werden, hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird stets einem Wandel unterworfen bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die Homosexualität, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gesellschaftlich abgelehnt und auch bis 1994 unter Strafe (ehemals § 175 StGB) gestellt war.27 Erst langsam hat sich in dieser Hinsicht die gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was als moralisch „akzeptabel“ gilt, gewandelt und führte zu einer Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität. Beispiel für einen Wandel in eine umgekehrte Richtung ist die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe ab dem Jahr 1998 (siehe genauer Abschnitt 2.2.1), die bis dahin straflos war und gesellschaftlich lange Zeit als moralisch bedenkenlos akzeptiert wurde. Diese Beispiele zeigen, wie eng die sich stetig wandelnde gesellschaftliche Wahrnehmung und Definition sexueller Gewalt mit der Gesetzgebung verbunden ist.