Czytaj książkę: «Die Wölfe von Pripyat»

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Cordula Simon

Die Wölfe von Pripyat

Roman


© 2022 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Umschlaggestaltung: Sebastian Menschhorn

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4677 4

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1750 7

Inhalt

1Heracleum

2Untermürbwies

3Schach

4Netze

5Ein Sack voll Reis

6Ein Märchen

7Börger

8Der Log

9Nur ein Schritt

10Leben wollen

11Der Blitz schlägt immer zweimal ein

12Die Wälder von Pripyat

13Der Schlund

14Häschen aus dem Hut

15The making of Brause

16Umwege

17Ein fliegendes Schwein

18Ein Gebet

19Erster Brief

20Asche

21Neue Augen

22Zweiter Brief

23Die Sphäre

24Der unabhängige Beobachter

25Distanz

26Reis und Wölfe

27Die Pforte

28Schulung

29Ein Ehrenmann

30Dritter Brief

31Ein Koffer voll Gewalt

32Frank wirft ein Auge

33Die Goldene Stadt

34Die Asche in Gärten, die Asche in Mündern

35Ein Gefängnis

36Die Wölfe von Pripyat

37Sicherheitsmodus

38Vierter Brief

39Schnell und sauber

40Morphologie

41Links und rechts

42Treppab

43Fünfter Brief

44Darf der Log?

45Der Bauer und die Königin

46Blame it on the Weatherman

47Sechster Brief

48Halbe Wahrheiten

49Fremde

50Mit Brotkrumen aus dem Wald

51Tante Brauses Kinder

52Die Schlacht um Pripyat

53Radikale Punkte im Universum

54Der Zufall der Gamula

55Ein paar Klammern

56Die Oase

57Blut und Papier

58Ein Feuerwerk

59Zwei Reden

60Technolomagie

61Natürliche Süße

62Drei Reden

63Das Wetter im Untergrund

64Browsetown

65Die letzte Fahrt

66Der Tag, an dem

67Der Konsul

68Die Wahl nach der Wahl

69Halb Monster, halb Ei

70Das Tal Pripyat und seine Toten

71Das Licht

72Kein Wort

73Jackie

74The downgraded human

1Heracleum

Im Jahr des Konsuls

Da stehst du, nackt. Dein ganzer Körper, von behandschuhten Fäusten in ein Feld gestoßen. »Lauf, lauf, Häschen!«, rufen sie dir zu, und du rennst, rennst durch das Feld. Pflanzen streifen deine Finger, Blätter schlagen gegen deine Knie, peitschen dein Gesicht und der Mond leuchtet so grell, dass es wehtut. Die Luft ist kühl und schneidend. Die Moskitos ruhen bereits. Das Laub in den Bäumen rauscht gleichmäßig hinter den immer weiter entfernten Stimmen der Männer. Du rennst. Tiefe Atemzüge, immer wieder, bis du niedersinkst, dich erschöpft zurückschleifen lässt und wieder in dem dunklen Raum sitzt. Du kannst die Werbung noch im Kopf hören: Termin? Log it. Das sagte der Mann im Anzug auf dem Bildschirm.

Die verbogenen Tore, das Fernsehen, die Nachrichten, Schlagstöcke und Zuckerstangen, und du sprachst von Asche und Sonne. Da sitzt du und wartest und grübelst, wann das alles begonnen hat. Du bist kein großes Licht, hast du damals gesagt. Du bist nur der Wettermensch. Du sagst, wie es wird. Dazu musstest du dich nicht einmal einschulen lassen. Keine Videoumschulungen mehr. Es genügte, dass du freundlich warst und man dich mochte. Kein Umlernen vor dem einen oder anderen Kanal. Auch kein Warten, dass die Maschine bald käme, damit du in Ruhestand gehen kannst. Eine Ersetzungsfeier. Bei wie vielen Ersetzungsfeiern du warst, kannst du gar nicht mehr sagen. Noch ein Glas Champagner darauf, nun tätigkeitsfern zu sein. Nichts zu müssen, alles zu dürfen. Die Maschinisierung feiern.

Dann kam die Vulkanaschewolke und gleich darauf folgte der erste Anschlag. Und da standest du und sprachst von Asche und Sonne. Du bist kein großes Licht, hast du gesagt. Es ging um nichts. Nur um ein bisschen Mut. Seither hast du ein Auge verloren und eine Hand ist verkrüppelt. Du siehst aus wie der Affe, den niemand lausen mag, und das weißt du. Auch wenn dir in dem dunklen Raum niemand mehr einen Spiegel geben wird. Sind Sie Teil des Juste Milieu? hat man dich gefragt.

Sind Sie ein Wolfkin? hat man dich gefragt. Tasks? Log it. Die Worte des Mädchens mit dem Irokesenschnitt.

Aber man mochte dich. Man mochte dich. Man glaubte dir. Man filmte dich, überprüfte dich, kannte dich. Der Algorithmus wusste mehr über dich als du und doch: Man ließ dich das Wetter ansagen. Du solltest sie retten, ließ man dich wissen. Du solltest sie beruhigen. All die jungen Menschen mit gefordertem Sozialempfinden. Die sich von der Gruppe entfernen wollten. Die zu grübeln begannen, über denen die Paranoia hing wie eine Regenwolke. »Mit Regenwolken kennen Sie sich aus«, sagte man zu dir.

»Warum signalisieren Sie Ihre Werte nicht?«, hat man dich gefragt. Die Wände des sozialen Netzes sind die Wände des Systems.

»Meine Werte sind die gleichen wie bei allen anderen«, hast du geantwortet. »Sie beschämen mich«, hast du geantwortet.

»Für eine offene Welt«, prangte auf der leuchtenden Werbefläche.

Du hast nicht gewusst, dass man die jungen Menschen mit gefordertem Sozialempfinden mit als bedrohlich Diagnostizierten zusammensperrte. Die Betreuer waren allesamt Wiedereingegliederte. »Patient im Raum«, sagte man über dich, nicht zu dir. »In Zeit und Umweltsphäre richtig orientiert. Weitschweifig. Bemüht sich, gesund zu erscheinen. Frühere psychotische Zustände werden unkritisch betrachtet. Selbstüberschätzung, Messianismus, paranoide Interpretation neutraler Fakten. Einwände werden nicht hinterfragt.« Alles sei folgerichtig, aber dennoch falsch. Du hast dir nachts die Ohren mit Papier zugestopft, um das Geschrei nicht zu hören. Du hast dir die Augen nicht ausgekratzt und weißt nicht, wie du das geschafft hast. Kalorien? Log it. So sagt die freundliche Oma im Werbeclip.

»Hätten Sie gerne, dass ich mich lösche?«, fragt der Mann weiter. Du schüttelst artig den Kopf und er legt ein Bild vor dir auf den Tisch. Breitlappige, mehrfiedrige Laubblätter. Blüten aus Dolden und Döldchen. Weiße Kronblätter und kleine haarartige Dornen. »Kennen Sie das?«, fragt der Mann und du schüttelst den Kopf. »Es nennt sich Heracleum. Bärenklau. Wie Bärentatzen schlägt es tiefe Wunden, doch nicht durch Krallen, sondern durch den Saft, der phototoxisch reagiert. Trifft dieser Saft die Haut und trifft die Haut danach das Sonnenlicht, bilden sich unter unendlichem Schmerz gigantische Brandblasen auf der Haut, nässend und brennend«, sagt er. Und du sagst nichts. Du schweigst. Du weißt nicht, was er will. »Heute haben Sie dies im Mondlicht gesehen«, sagt er, und du bist so müde, dass dein Kopf mit dieser Information nichts anzufangen weiß. Er zieht eine kleine Taschenlampe aus einem schmalen, schwarzen Koffer hervor: »Dies ist eine UV-Lampe. In vier Stunden geht die Sonne auf. Dann ist das hier vorbei.« Er packt deinen Arm. Nicht den verkrüppelten, den anderen, und leuchtet über deinen kleinen Finger, und du spürst gar nichts, und dann ein Dröhnen und Krampfen bis in die Ohren, Schläfen, Stirn hinauf, das dir den Atem nimmt, viel stärker als die behandschuhte Faust, die deinen Lauf bremste. »Wenn diese Sonne aufgeht, geht sie dir nicht mehr unter«, sagt er, wiederholt es, als sei es ein Fluch. »Was haben Sie Ihrer Frau erzählt?«, fragt er wieder. Und was machst du? Was machst du jetzt? Redest du? Auf den Plakaten stand: Der Mensch ist die Summe seiner Gedanken. Darf der Log für Sie posten?

Ich rede nicht.

2Untermürbwies

Im Jahr 1016 des Konsuls

Aus den Newsjumps im Jahr 1016 des Konsuls

Eine Woche nach dem Anschlag erlag die Präsidentin der Toleranzunion heute Nacht ihren Verletzungen. Die Union trägt Trauer. Der morgige Tag ist im Äther den Leistungen ihres Lebens gewidmet. Die Unionsanwaltschaft prüft aktuell die Hintergründe. Das unveröffentlichte Bekennerschreiben der Dragonkin, das dem Unabhängigen Beobachter zugespielt wurde, wird als – piep – des Goldenen Reiches eingestuft. Das Begräbnis findet statt am […]. Sonne und leicht gedunkelte Bewölkung sind eingeplant.

Sie warf ihre Reisetasche über die Schulter und betrat das Gelände. Das war wirklich Pampa, das Ende der Welt, für das man sich erst registrieren musste. »Anmeldung« in tief geschnitzten Buchstaben stand über der Tür der ersten Holzhütte. Echtes Holz. Sie stiefelte darauf zu, gab brav Auskunft, wer sie sei, und zeigte einen Ausweis vor. Der Scanner piepte über ihre Hand. Man habe sie schon erwartet. Hier würde sie auf Menschen mit ähnlichen Problemen treffen, sagte ihr der Mann im blauen Trainingsanzug, der hinter dem Schreibtisch saß. Ein dünner Mensch mit solariumgebräunter Haut.

»Probleme«, dachte Emma, Probleme waren längst gelöst. Hatte man ihm nicht gesagt, dass man »Probleme« nicht mehr sagte? Eigenartige Ansichten hatten manche, das war das einzige Problem. Warum konnte sie die Kurse, die man ihr hier vorgeschlagen hatte, nicht einfach online absolvieren, so wie alle anderen Lerneinheiten auch. Physische Schulen hatte man abgeschafft, aber für ihresgleichen hatte man das hier gebaut. Sie hätte sich einfach zu Hause aus dem Pyjama schälen und in den Glibber des Vibes legen können und dort all dem beiwohnen, was man ihr hier aufzwingen wollte. Sie hätte unendlich Zeit gespart, sie lernte schnell, hätte ein paar Prüfungen abgelegt und die Sache hätte sich gehabt. »Anwesenheitsvorschlag« zerrte Karell in roten Lettern durch ihr Blickfeld, als sie ihn danach fragte. Karell war ihr Log. Neben dem Tor wehte eine weiße Fahne. Die Präsidentin war gestorben. Die weiße Fahne stand für ihr Licht. Der Dünne hielt die Hand auf und deutete auf ihre Brille.

Emma nahm sie ab und reichte sie ihm. »Abgabevorschlag ist Abgabevorschlag«, sagte er. Emma fand es schrecklich unnötig, dass Menschen derlei offensichtliche Sätze sagten. »Es geht uns hier um die Vermeidung von Traumata, darum, Diskriminierungserfahrungen zu tilgen, dies soll ein Sicherer Raum sein, auch wenn …«

Emma schnitt ihm das Wort ab: »… dieser Raum für die Mehrheitsgesellschaft überall ist. Ich diskriminiere nicht.«

Er nickte: »Es ist gut, die exakten Verhältnisse unserer Gleichheitsbestrebungen zu kennen, dennoch hat man dich hergeschickt. Etwas in deiner Lektüre?«

Emma antwortete nicht.

»Das Licht leuchte dir«, sagte er. Sie nickte, bekam einen Schlüssel und den Plan des Lagers über den Tisch gereicht und suchte darauf ihr Quartier. Dazu eine Liste mit Workshops: gemeinsames Floßbauen, Team-Origami, darüber wunderte sie sich, schließlich dachte sie, dass man Origami alleine machte, gemeinsames Trommeln. Emma seufzte. Sie trat vor die Tür, kniff die Augen zusammen, sie konnte noch das bedrohliche Wogen der Wipfel erkennen, ihre Augen waren jetzt schon müde. Die Hütten standen allesamt auf Holzpfählen drei Meter über dem Boden. Alles roch holzig, auch die Luft. Frisch gehacktes Holz und Moos. Hinter dem Teich befanden sich einige große weiße Zelte und ein hölzerner Pavillon. Sie blickte auf den Plan, ortete die Tanzbar, das Partyzelt und das Zelt für die Workshops. Der Tagesplan war klar, es gab keinen Grund, den Log zu konsultieren, dennoch murmelte sie: »Karell?« – »Ja?«, sagte dieser. »Schon gut«, flüsterte sie. Sie wollte nur seine Stimme hören, ihre eigene Stimme hören. Auch wenn es kein Netz gab, antwortete die automatische Stimme. Man kann Menschen schließlich nicht einfach alleine lassen. Hätte sie ihn um etwas gebeten, hätte er antworten müssen: »Kein Netz.« Der Log hätte sie auch verstanden, hätte sie ihn nur gedanklich angesteuert, aber sie mochte die offene Unterhaltung lieber.

Die Buchstaben auf den Schildern waren so groß, dass sie sie auch ohne Brille noch lesen konnte. Die Bretter der Treppe knarrten. Hölzerne Dielen für holzige Köpfe. Man konnte den Teich sehen. Eher eine Froschpfütze als der versprochene Badesee. Das war also Untermürbwies am Schöberteich. Ihr war, als starrten selbst die Astlöcher sie unentwegt an. Karell würde ihr hier nicht helfen, im Lager war alles geordnet und draußen, vor dem großen Palisadenzaun, gab es keinen Empfang. Das hatte sie erst auf der Fahrt im Sicherheitsbus hierher bitter erfahren, als die Musik plötzlich abbrach, die sie für die Fahrt ausgewählt hatte, und sie nach Karell fragte, er aber stumm blieb, und sie fühlte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen. Sie würde sich alleine orientieren müssen. Karell würde niemanden für sie anrufen können. Damit man nicht ständig mit Familie und Freunden sprach. Auch die Nachrichten funktionierten auf dem Weg hierher nicht: Postings waren seit dem Tod der Präsidentin abgestellt. Das war das Beste für alle, schließlich sollte man nichts Unsensibles posten. Nur für die im Lager, die Onlineprivilegien hatten, gab es Kabelverbindungen. Wie altertümlich ihr das schien. Sie hatte Onlineprivilegien, sie gehörte nicht zu den Langzeitgestraften. Sie gehörte gar nicht richtig hierher. Sie hatte nichts getan, im Gegensatz zu denen hier, und auf einer globalen Skala betrachtet, hatte vermutlich niemand hier etwas getan. So informiert war sie. Onlineprivilegien, die schon vor Jahren eingeschränkt worden waren.

Sie hatte immer gewusst, wer wann was machte, ob Freund oder Feind. Der Arzt hatte gesagt, dass ihre SM-Jumps auf eine Stunde beschränkt sein müssten, denn diese seien für die Bulimie verantwortlich gewesen. SMS. Social Media Syndrome, bei dem man sich erbrach, wenn man zu lange hinsah. Sie hielt das für Unsinn, auch wenn sie noch weniger wegsehen konnte, wenn sie hier nur eine Stunde am Tag Onlinezeit hatte. Sie klopfte.

Die Tür wurde geöffnet. Emma warf ihre Tasche auf das einzige freie Bett. Eine große Bildfläche hing an der Wand. Die drei anderen kannten einander offenbar schon. »Emma«, stellte sie sich gleich vor, »häufigster Vorname meines Geburtsjahrganges, das Licht leuchte euch«, und streckte die Hand aus, um den Ersten zu begrüßen, aber dieser nahm keine Notiz von ihr, stattdessen ergriff der Nächste ihre Hand, drückte sie fast etwas zu sanft: »Richie, eigentlich Richard, Emilia. Das ist Potz. Ignorier ihn.« Richard sah aus wie ein aus der Zeit gefallener Student: Cordhosen, kurzärmeliges Hemd und undefinierbarer Haarschnitt. Vielleicht lag es auch daran, dass seine Haare so fettig waren und wie ein fremdartiges Gebilde auf seinem Kopf anlagen. Er war, sie überlegte, breit, aber »breit« durfte man nicht mehr sagen. Vielleicht: »zu kurz«? Aber das wäre diskriminierend gegenüber Kleinwüchsigen. »Kleinwüchsig« durfte man auch nicht mehr sagen. Man konnte sehen, dass Richard Asthma hatte, weil er, sie überlegte, mehr Raum einnahm als die anderen. Wer weiß, vielleicht war der Eindruck ihrem verschwommenen Blick geschuldet. Sie versuchte an ihm vorbeizusehen. So kurios wie er wirkte auch der andere, dessen langer Mantel über die Stuhlbeine auf den Boden hing.

Das Mädchen kam auf sie zu: »Jacqueline.« Sie machte den Eindruck, einem Modekatalog zu entstammen, dünnes Sommerkleidchen mit Bärenköpfen und Kunstlederjacke. »Ich habe es mir selbst ausgedruckt«, murmelte sie und zupfte an dem Bärenkleid. »Das Licht leuchte«, nuschelte Emma.

Jacqueline wirkte wie ein sommerlicher Geist. Emma hatte nicht gewusst, dass die Zimmer hier gemischt waren. Potz zog Rotz hoch, warf sich im Mantel auf sein Bett und spuckte auf den Teppich mitten im Zimmer, es sollte wohl abgebrüht wirken. Seine Erscheinung traf weniger Aussagen als sein Verhalten. Emma hatte sich bereits ein erstes Bild gemacht.

»Früher hatten sie getrennte Gruppen, dann gemischte, dann wieder getrennte, jetzt sind sie wieder gemischt«, sagte Richie. Als hätte er erraten, was sie gedacht hatte. Es gab keine Selbsteinordnung mehr, die Lagerleitung entschied, wo man dazugehörte. Egal, ob man elektronische Erweiterungen trug, und unabhängig davon, welche Hautfarbe man hatte oder wen man attraktiv fand. Das hatte man vom ewigen Schwanken zwischen Sicheren Zonen und dem Wunsch nach Vielfalt. Wie das Programm so sei, fragte Emma. Nachtschwimmen gebe es, und Filmabende. Ein Freiluftkino. Leider würde nur Schund gezeigt. Aber man war nicht verpflichtet, sich die Filme anzusehen, man konnte auch Gruppensitzung machen. Gruppensitzungen und Kurse, Wanderungen und gemeinsame Projekte waren jedoch virtuell. Die Union stellte dafür die neuesten Vibe-Modelle bereit. Nur das, was man zu Hause gemacht hätte, das dürfe man nicht machen, erklärte Richie, ihm zum Beispiel habe man die Steganografie verboten, aber er hätte hier ja ohnehin niemanden gefunden, mit dem er auf diesem ihm liebsten Weg kommunizieren hätte können. Stegano-? Emma fragte nicht.

»Du bist einfach nur ein Trottel«, sagte Potz und saugte an einem Vaper. Sie fragte sich, wie er sich das Qualmen leisten konnte, und wunderte sich, dass nicht gleich ein Feueralarm losging und dass es keinerlei harte Maßnahmen gegen so etwas gab. Emma wartete bereits darauf, dass er auch sie beleidigte. Es roch süßlich, ihr war schlecht. Potz schloss die Augen. Jacqueline lächelte, auch sie könne nicht machen, was sie zu Hause gemacht hatte. Das sei schließlich der einzige Sinn dahinter, hierher geschickt zu werden, nach Untermürbwies.

»Wissen Sie, Emma, ich gehöre zu einer Familie magischer Wesen. Wir alle wählen den Zeitpunkt unseres Ablebens selbst. Das ist unsere Freiheit. Verstehen Sie?« Eine Suizidale also, dachte Emma, aber immerhin eine, die sich gepflegt ausdrückte. Potz blickte Emma an, als käme nun die nächste Beleidigung, drehte sich dann aber zu Jacqueline um.

»Ach, Jackie«, sagte er, zog Rotz hoch und spuckte in imposantem Bogen wieder mitten ins Zimmer. Jackie befühlte einen Pickel an ihrem Kinn, als hätte sie nicht bemerkt, dass er sich beherrscht hatte. Wer weiß, vielleicht sogar ihr zuliebe. Jackie zog ihre Weste aus, das Kleid war rückenfrei. Sie wollte wohl, dass man es sah, dass man sah, was sie war. Sie bemerkte Emmas Blick auf ihrem Rücken: »Lichtenbergfiguren«, lächelte sie, »ich bin vom Blitz getroffen worden.« Wie rote Äste, wie eine Tätowierung in Form eines japanischen Kirschbaums zogen sich die Linien vom Nacken nach unten. Aufmerksamkeitshure, dachte Emma und biss sich auf die Zunge. Immer wieder ließen reiche Eltern, die ihre Kinder als Embryo genetisch »repariert« hatten, diese vom Blitz treffen, wenn sie größer wurden. Als Emma klein war, war einer in ihrer Kindergruppe gewesen. Er musste Windeln tragen, bis er alt genug war, es operativ in Ordnung zu bringen. Auch die gelähmte Gesichtshälfte. Den meisten Lichtkindern blieben Andenken. Was vor der Geburt genetisch herumgecrispert werden konnte, war danach eben nicht mehr möglich.

»Wie bedauerlich. Hat es wehgetan?«, fragte Emma und bemühte sich um einen möglichst natürlichen Ton.

»Das wollen Sie doch nicht wirklich wissen«, entgegnete Jackie, »in Wahrheit denken Sie nur: Nur gut, dass mir das nicht passiert ist.«

»Jackie ist vermutlich die beeindruckendste Person, die mir je begegnet ist«, begann Richie.

Irgendjemand hat immer ein krankhaftes Harmoniebedürfnis.

»Sie treffen nicht viele Leute, Richard, oder?«, wandte Jackie sich ihm zu.

»Da hast du recht, Jackie«, warf Potz ihr zu. Sie lächelte immer noch. Emma gingen sie jetzt schon auf die Nerven.

»Heute am Abend gibt es ein Lagerfeuer. Schon wieder. Aber wir sind angehalten, möglichst alle hinzugehen. Du kommst doch mit?«, fragte Richie. Neben der Tür hing großformatig der Wochenplan mit den bevorstehenden Veranstaltungen. In Blockbuchstaben waren die Angebote aufgezählt: Rudern, Schwimmen, Modern Dance und einzelne Programme von privaten Fernsehsendern, die meisten davon endeten auf -camp. Viele waren mit dem kleinen Vibe-Logo markiert. Freizeitaktivitäten waren grün unterlegt. Rot unterlegt waren Veranstaltungen mit Anwesenheitsvorschlag: Richtig Lesen, Wertvolle Informationen erkennen, Freude an der Natur, Soziale Interaktion. Emma schluckte. Nein, sie gehörte nicht zu denen. Irgendwo roch es nach Pinien. Sie wäre lieber mit Karell allein gewesen.