Blutheide

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Kathrin Hanke / Claudia Kröger

Blutheide

Kriminalroman

Zum Buch

Angst in der Idylle Kommissarin Katharina von Hagemann hat einige Jahre in München gearbeitet und kehrt nach einem schweren Schicksalsschlag nach Norddeutschland zurück. Im beschaulichen Lüneburg tritt sie voller Hoffnung ihre neue Stelle an, doch bereits der Start mit ihrem neuen Chef Benjamin Rehder verläuft alles andere als glatt. Bald schon stellt Katharina ihren Neuanfang infrage. Auch Rehder bezweifelt, dass er mit der jungen Kollegin klarkommt, hat aber ein noch viel größeres Problem damit, dass sein kriminell veranlagter und lange verschollener Bruder in der Heidestadt aufgetaucht ist. Die privaten Gedanken der Ermittler werden in den Hintergrund gedrängt, als kurz hintereinander drei Morde geschehen. Schnell scheint klar, dass es sich um Serientaten handelt, aber es sind weder ein Motiv noch eine einheitliche Vorgehensweise des grausamen Killers erkennbar. Als ein kleines Mädchen verschwindet, wird es zu einem Kampf gegen die Zeit, denn bisher hat der Täter keines seiner Opfer am Leben gelassen …

Claudia Kröger, geboren in Hamburg, absolvierte eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. Bereits in der Schulzeit entstand die Liebe zum Schreiben und führte über diverse Textprojekte zur hauptberuflichen Tätigkeit als Redakteurin und Texterin. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in der Nähe von Lüneburg.

Kulturwissenschaftlerin Kathrin Hanke war jahrelang vor allem als Texterin für namhafte Agenturen kreativ – seit 2014 schreibt sie als freie Autorin in ihrer Heimatstadt Hamburg.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Hamburgs dunkle Seiten (Kathrin Hanke, 2019)

Störtebekers Piratin (Kathrin Hanke, 2019)

Heidefluch (2019)

In der Heide brodelt es (2018)

Mordheide (2018)

Die Engelmacherin von St. Pauli (Kathrin Hanke, 2018)

Die Giftmörderin Grete Beier (Kathrin Hanke, 2017)

Heidezorn (2017)

Wermutstropfen (2016)

Heideglut (2016)

Mörderische Lüneburger Heide (2015)

Eisheide (2015)

Heidegrab (2014)

Blutheide (2013)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

9. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © iStockphoto.com / Olaf Simon

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4164-6

Widmung

Für meine Mutter.

Kathrin Hanke

*

Für Andreas und meine Eltern – weil die Kraft zu schaffen vor allem von denen kommt, die in jeder Situation hinter dir stehen.

Claudia Kröger

Gedicht

Wer sich entschieden hat, etwas zu tun,

und an nichts anderes denkt,

überwindet alle Hindernisse.

(Giacomo Girolamo Casanova)

Prolog: Sonntag, 01. Mai 2011

03.11 Uhr

Er schreckte aus dem Schlaf hoch. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, doch jetzt hörte er nichts mehr, nur den gedämpften Verkehrslärm, der von draußen durch die Mauer und die Fenster direkt an sein Ohr drang und an den er sich schon lang gewöhnt hatte. Er fühlte sich nicht gut. Seine Glieder schmerzten, und ihm war heiß. Sicher hatte er wieder Fieber. Das hatte er immer, wenn er gerade einen Fall gelöst hatte. In der Regel verschwand es so schnell, wie es gekommen war.

Langsam setzte er sich auf und zog sich das durchgeschwitzte Unterhemd über den Kopf. Die kleine Leselampe auf dem Nachttisch brannte noch immer. Er blickte sich in seinem Schlafzimmer um: Das Album, über dessen Seiten er vorhin zufrieden eingeschlafen war, war zu Boden gefallen. Sicher hatte dies das Geräusch verursacht, das ihn aus seinem Traum gerissen hatte. Er wusste, dass er geträumt hatte, nur bekam er nicht mehr in seinen Kopf zusammen, was es gewesen war.

Er beugte sich über die Bettkante und griff nach dem schlicht-schwarzen Album, legte es vor sich und schlug es auf. Die erste Seite hatte er freigelassen. Wer weiß, wozu sie noch gut sein konnte. Dann blätterte er langsam weiter. Mit zärtlichem Blick begutachtete er die Seiten, auf denen sich eingeklebte Zeitungsausschnitte und Fotos abwechselten. Als wäre das Album so kostbar und zerbrechlich wie eine Mingvase, wendete er jedes einzelne Blatt bis zum letzten, auf dem etwas eingeklebt war. Es waren die Fotos vom Tatort zu seinem gerade erfolgreich abgewickelten Mordfall. Später würde er noch die Artikel hinzufügen, die sicher in den nächsten Tagen in der Zeitung erscheinen würden. Wie die anderen im Album akribisch dokumentierten Fälle hatte er auch diesen mit Bravour gelöst. Stolz schwappte in ihm hoch.

Mit einem Seufzer klappte er das Album zu und legte es auf den Nachttisch. Bald würde es voll sein. Er schaltete die Leselampe aus und versuchte wieder einzuschlafen, was ihm nach kurzer Zeit gelang. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.

Gedicht

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen

so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.

(Rainer Maria Rilke)

Kapitel 1: Sonntag, 01. Mai 2011

17.43 Uhr

Es war Sonntag, ein recht sonniger noch dazu, doch Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch, anstatt seinen freien Tag im Garten zu verbringen, wie vermutlich die meisten seiner Kollegen. Hier konnte er die Ruhe genießen. Zu Hause konnte er das nicht. Er hielt es einfach nie lang aus in seinem schmucken Einfamilienhaus am Stadtrand, und so sammelten sich langsam, aber sicher die Überstunden auf seinem Arbeitskonto an. Auch wenn es inzwischen fast zwei Jahre her war, dass seine Frau ihn verlassen hatte, und es ihm ansonsten endlich wieder einigermaßen gut ging – das Zuhause-Gefühl war gemeinsam mit Simone bei ihrem Auszug verschwunden und hatte sich nicht wieder eingestellt. Loslassen konnte er aber auch nicht. Seine Freunde hatten es inzwischen aufgegeben, ihn zu einem Umzug in eine neue Wohnung bewegen zu wollen, die frei von Erinnerungen war. Irgendwann waren es einfach auch die geduldigsten Seelen leid, ständig gegen eine Wand zu reden.

Der Kriminalhauptkommissar hatte eine geöffnete Akte vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Die Personalakte seiner neuen Kollegin. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er das Foto der jungen Kommissarin. Eigentlich hatte er sich einen männlichen Kollegen als Verstärkung gewünscht. Obwohl er noch nie mit einer Frau im Team gearbeitet hatte – oder vielleicht gerade deshalb –, hatte er Bedenken. Genau benennen konnte er sie jedoch nicht und so hatte er auch keine Argumente vorbringen können, als sein Chef Stephan Mausner ihm mitgeteilt hatte, wen er für den offenen Posten ausgewählt hatte. Und gegen die Fakten in ihrem Lebenslauf gab es definitiv keine Argumente. Damit waren die wenigen Mitbewerber schnell aus dem Rennen, und Rehder hatte nun eine Frau in seinem Team.

Er war kein Mensch, der sich gern auf etwas Neues einließ. Am liebsten war es ihm, wenn alles seinen eingefahrenen Weg lief. Der Job selbst brachte schon genug Überraschungen mit sich, fand er. Dass es dagegen auch im Privatleben nicht immer stur geradeaus oder – positiv ausgedrückt – nach vorn ging, hatte er allerdings spätestens bemerkt, als Simone sich Hals über Kopf aus dem Staub gemacht hatte. Er selbst hatte bis zu diesem Moment gedacht, mit seiner Ehe stünde alles zum Besten. Bis heute hatte er das Ganze nicht wirklich verstanden, doch inzwischen hatte er kapiert, dass es ihn nicht weiterbrachte, sich das Hirn deshalb zu zermartern.

Wenn er es sich recht überlegte, gab es eigentlich noch einen Menschen, der seinem Wunsch nach einem normalen, durchgeplanten Leben immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte. Bei diesem Gedanken griff er spontan zum Telefon und wählte die Handynummer seines Bruders. Sofort sprang am anderen Ende der Leitung die Mailbox an. Wahrscheinlich war es auch besser so, dachte Rehder und legte langsam den Hörer wieder auf die Gabel, ohne seinem Bruder eine Nachricht hinterlassen zu haben.

 

18.23 Uhr

Katharina von Hagemann stieß sich vom Fensterbrett ab und schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Oder zumindest in dem Raum, der ihr Wohnzimmer werden sollte. Momentan sah er eher aus wie das Aufbewahrungslager einer Sammelstelle für Hilfsmittel für die Dritte Welt: Überall stapelten sich Kartons, die darauf warteten, von ihr ausgepackt zu werden. Katharina beschloss, dass die Kartons sich noch weiter würden gedulden müssen, nahm die Zigarettenpackung sowie das kleine, schwarze Feuerzeug mit einem Werbeaufdruck der Löwenbrauerei vom Fensterbrett und steckte sich eine Zigarette an. Es war die letzte aus ihrem Stangenvorrat, den sie aus München mitgebracht hatte, und sie rauchte sie mit gemischten Gefühlen.

Mit der München-Zigarette, wie sie sie in Gedanken nannte, ging sie in ihr neues Schlafzimmer. Auch hier standen ein paar geschlossene Kartons herum. Zudem lag ein zwei mal zwei Meter großer, neuer Futon auf dem Holzdielenboden. Nachdem die Möbelpacker sich vorhin verabschiedet hatten, hatte sie ihn ausgerollt und den Inhalt ihrer Sporttasche darauf ausgeschüttet. Sie drückte die Zigarette in einer Aluminiumschale aus, die vorhin noch Sushi enthalten hatte. Dann ließ sie sich auf ihrem Futon nieder und wühlte in dem Berg Zeugs herum, bis sie ihren Kulturbeutel gefunden hatte. Sie ging ins Bad, holte Zahnbürste und Zahnpasta heraus und putzte sich die Zähne. Danach wusch sie sich kurz das Gesicht mit kaltem Wasser, tuschte ihre Wimpern und legte farblosen Lipgloss auf. Sie verließ das Badezimmer, griff sich ihre schwarze Lederjacke und schloss die Wohnungstür hinter sich.

Unten auf der Straße wendete sie sich spontan nach links. Sie hätte genauso gut nach rechts gehen können, da sie sich in dieser Stadt ohnehin noch nicht auskannte, aber sie ging eben nach links. Richtung Lüneburger Stadtkern. Das wusste sie zumindest. Sie schlenderte an geschlossenen Geschäften vorbei, schaute sich hier und da die Auslagen an und ließ sich treiben. An einem Zigarettenautomaten blieb sie stehen, steckte ihre EC-Karte in den Schlitz und zog sich eine Packung. Immer wieder blitzte in ihrem Kopf die Frage auf, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, hierher zu kommen. Nach Lüneburg. Mit den etwas über 70.000 Einwohnern so deutlich kleiner als München. Sie wusste, es war eine Flucht. Sie wusste auch, wovor sie floh, und sie hatte sich fest vorgenommen, hier ein neues Leben anzufangen. Mit allem, was dazugehörte. Vor allem mit dem Vergessen. Sie nahm eine Zigarette aus der jungfräulichen Packung und steckte sie sich im Gehen an. Normalerweise rauchte sie nicht auf der Straße. Aber heute machte sie eine Ausnahme. Zurzeit war sowieso nichts mehr wie früher.

Katharina gab der schweren Tür einen kräftigen Ruck nach vorn, und schon stand sie in einem länglichen Raum, der wie ein zu breit geratener Flur wirkte. Kleine, runde, klapprige Eisentischchen, wie man sie vor allem bei alten Leuten auf dem Balkon findet, wechselten sich ab mit eckigen weißen Holztischen, die aussahen, als seien sie direkt aus dem Krankenhaus mitgenommen worden. Die Bestuhlung war ebenfalls gemischt und erinnerte an das Sammelsurium eines Trödelhändlers. Im Widerspruch dazu fiel die Ordnung auf: Alles stand in Reih und Glied an der linken Wand, wobei es anders aus Platzgründen auch gar nicht gegangen wäre. Gegenüber den Tischplätzen war gleich die Bar, die sich den ganzen Raum entlang zog. Die Beleuchtung war eher schummrig. Über dem Bartresen hingen gleichmäßig verteilt ein paar Kabel, die nur mit schwach flackernden Stromsparbirnen bestückt waren. Die Tische wurden von tropfenden Kerzen beleuchtet, die in leeren grünen Weinflaschen steckten. Draußen über der Tür hatte Katharina ›Café Krass‹ gelesen. Krass sah es hier tatsächlich aus. Vor etlichen Jahren hatte das sicher mal alles sehr szenig gewirkt. Heute hatte Katharina aber eher den Eindruck, als kenne der Besitzer nicht den Unterschied zwischen Café und Spelunke. Nun denn, jetzt war sie halt hier gelandet.

Katharina überlegte kurz, wo sie sich hinsetzen sollte. Einer der Krankenhaustische war noch frei. Am Bartresen war niemand. Nur ein halb leeres Bierglas stand dort verloren herum. Sie entschied sich für den Tresen und dachte, dass sie noch vor ein paar Monaten das Bierglas als halb voll bezeichnet hätte. So änderten sich die Zeiten. Sie konnte sich später selber nicht erklären, warum, aber sie stellte sich genau an die Stelle des Tresens, an der das einsame Glas stand.

19.23 Uhr

Er knöpfte sich seine Jeans zu und drückte die Spültaste. Hier hatte sich in den letzten acht Jahren tatsächlich nichts verändert. Es standen sogar noch dieselben bekloppten Klosprüche an den Kacheln über dem Pissoir. Und es waren ein paar neue hinzugekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu entfernen. Einer war mit Bene unterschrieben. Er stammte von ihm selbst. ›Julie forever! Bene 2003‹ hatte er damals mit einem fetten Edding aus Jux an die Wand gekliert. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Kurze Zeit später hatte er Lüneburg den Rücken gekehrt und sein Glück in Berlin gesucht. Ohne Julie. Bene drehte sich in dem engen Raum zum Waschbecken um und wusch sich die Hände.

Was wohl aus Julie geworden war? Sicher lebte sie immer noch in dem kleinen Häuschen im Stadtteil Oedeme, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ob sie ’ne feste Beziehung hatte oder sogar verheiratet war? Was sie wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er wieder hier war? Er war sich selbst nicht sicher, was er davon halten sollte, aber das Angebot vom Hotel Heideglanz war einfach zu verlockend gewesen, um es auszuschlagen. Morgen würde er den neuen Job antreten und den reichen Gästen seine Cocktail-Variationen kredenzen. Bisher hatte er noch niemandem Bescheid gegeben, dass er seit einer Woche wieder hier war. Noch nicht einmal seine Eltern oder sein Bruder wussten davon. Nur Gerry, der Besitzer vom Krass, bei dem er jeden Abend aufgelaufen war. So wie auch heute.

Julie war seine längste Beziehung gewesen. Oder besser, die einzige richtige Beziehung überhaupt. Er war einfach nicht der Typ, der sich eng an jemanden binden mochte. Das erinnerte ihn zu sehr an das langweilige Leben seiner Eltern – und täglich grüßt das Murmeltier. Als Julie damals anfing, mit ihm einen auf häuslich machen zu wollen, konnte er nicht anders. Er musste einfach weg. Na ja, und dann war da auch noch dieses krumme Ding gewesen, durch das er sich ganz schön in die Klemme gebracht hatte. Mist! Hier war noch nicht mal Papier zum Händetrocknen. Wirklich alles wie früher. Er schüttelte das Wasser von seinen Händen und seine Gedanken über die Vergangenheit gleich mit ab – damals hatte er sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert und er schämte sich noch immer dafür. Er atmete einmal tief durch, zuckte mit den Schultern und dann ging er wieder zurück ins Lokal.

An seinem Platz am Tresen stand eine schlanke Gestalt. Auffallend war jedoch weniger die gute Figur, sondern vielmehr die langen roten Haare, die ihr sanft gelockt über die Schultern flossen. Lecker. Bene konnte sich nicht erinnern, jemals eine Rothaarige gehabt zu haben, aber er glaubte mal gelesen zu haben, dass die ziemlich leidenschaftlich sein sollen. Na, das wär doch ein prickelnder Einstand für seine Rückkehr in die Heimat. Er setzte sein oft erprobtes Charming-Lächeln auf und ging die wenigen Schritte zu seinem Bier.

Gedicht

Der Schmerz um Liebe, wie die Liebe, bleibt

Unteilbar und unendlich. Fühl’ ich doch,

Welch ungeheures Unglück den betrifft,

Der seines Tags gewohntes Gut vermisst.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Kapitel 2: Montag, 02. Mai 2011

07.30 Uhr

Ein paar Minuten noch, dann würde sie ihren neuen Arbeitsplatz erreichen. Katharina hatte sich mit sehr gemischten Gefühlen auf den Weg gemacht, denn für den ersten Arbeitstag hatte sie sich selbst die ungünstigsten Voraussetzungen geschaffen. Als sie am Vorabend die Wohnung verlassen hatte, war sie mit der Absicht gegangen, irgendwo mit sich selbst auf ihren Neustart anzustoßen, dann in ihrer neuen Wohnung noch für etwas Ordnung zu sorgen, um schließlich halbwegs vernünftig schlafen zu gehen und ausgeruht zu ihrem ersten Dienst zu erscheinen. Toller Neustart, wenn schon die Vorsätze des ersten Tages komplett danebengingen. Es war nicht die beste Idee gewesen, in die schummrige Kneipe zu gehen und sich ausgerechnet an den einzigen Platz am Tresen zu stellen, an dem ein Glas stand. Zumindest nicht aus der Retrospektive. Mannomann, sie hätte es gleich ahnen müssen, als der Typ ihr sein breites Grinsen schenkte, sich selbst ein weiteres Bier bestellte und ihr ungefragt einen Martini.

Bene – so hatte der Enddreißiger sich ohne große Umschweife vorgestellt – war irgendwie nicht das, was Katharina in dieser Umgebung als Kneipengast erwartet hatte. Ganz im Gegenteil. Sein durchtrainierter Körper steckte in einem gepflegten Outfit, geschmackvoll und trotzdem lässig. Ganz offensichtlich ein Typ, der eine Menge Wert auf sein Äußeres legte. Für Katharinas Geschmack war er fast schon etwas zu sehr gestylt, und eigentlich stand sie auch gar nicht darauf, am Tresen angebaggert zu werden, als wäre sie Freiwild. Aber gestern Abend hatte sie sich genau so gefühlt – wie Freiwild. Ohne die geringste Ahnung, was die Zukunft wirklich für sie bereithielt, in einer fremden Stadt, mit einem neuen Job und voller Zweifel und Ängste. Gerade diese Ängste waren es, die sie verfolgten. Sie hatte gedacht, sie in München zurücklassen zu können. Dort in der Wohnung, wo es damals passiert war und die sie nahezu voll möbliert ihrem Nachmieter übergeben hatte. Der junge Mann hatte sich über die Möbel gefreut, die sie ihm für einen geringen Abstand gelassen hatte. Das Geld hatte sie einer sozialen Einrichtung gespendet. Es war der Versuch gewesen, sich freizukaufen. Doch hatte es etwas genützt? Sie fühlte es noch nicht, obwohl so viele Kilometer zwischen München samt ihren Schuldgefühlen und Lüneburg lagen. Da hatte es verdammt gut getan, sich für den Moment von einem attraktiven Mann ein bisschen aufbauen zu lassen, der in ihr nichts weiter sah als eine Frau, die allein an einer Bar stand. Dem Einstiegs-Martini waren weitere gefolgt, ihrem Kopf nach zu urteilen, mussten es etliche gewesen sein. Den ersten halbwegs klaren Moment hatte sie erst wieder gehabt, als sie morgens um drei in einem fremden Bett aufgewacht war – nackt. So manche Erinnerungen hatten sich inzwischen wieder eingestellt, und es waren zugegebenermaßen nicht die unangenehmsten, aber trotzdem war sie erschrocken über sich selbst. So hatte sie ihr neues Leben eigentlich nicht starten wollen. Nach dem ersten Schreck hatte sie ihre Sachen zusammengesucht, sich leise angezogen und aus dem Staub gemacht. Der blonde Hüne, von dem sie nicht mehr als den Vornamen kannte – wenn es überhaupt sein richtiger Name war –, war glücklicherweise nicht aufgewacht. Als sie auf der Straße gestanden hatte, war ihr schlagartig klar geworden, dass sie nicht im Geringsten wusste, wo sie war oder wie sie zu ihrer Wohnung kommen sollte. Also hatte sie sich ein Taxi geschnappt und den Fahrer ungewollt verärgert, weil die Strecke zu ihrer Wohnung letztlich kaum mehr als eineinhalb Kilometer lang war. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen, und so hatte sie die Zeit bis zum Morgen genutzt, um wie geplant ihr neues Zuhause noch ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Dann hatte sie versucht, mit einer kalten Dusche die unübersehbaren Spuren der vergangenen Nacht aus den müden Augen zu verbannen und mithilfe einiger weiblicher Tricks ein halbwegs munteres Gesicht in den Spiegel zu zaubern.

Als Katharina nun an die Tür des Dienststellenleiters Stephan Mausner klopfte, riss sie sich mächtig zusammen. Sie wollte einen guten ersten Eindruck machen. In dem Moment, in dem sie das Büro betrat, erstarrte sie jedoch: Neben Stephan Mausner, der ihr freundlich die Hand entgegenstreckte, stand noch jemand – der Mann, dessen Bett sie erst vor wenigen Stunden fluchtartig verlassen hatte. Verdammt. So was konnte auch nur ihr passieren.

08.01 Uhr

»Guten Morgen, liebe Frau von Hagemann, und herzlich willkommen bei der Kripo Lüneburg!«, begrüßte Stephan Mausner die neue Mitarbeiterin seiner Dienststelle. »Das trifft sich ja hervorragend. Tolles Timing, tolles Timing, dass ich Sie beide hier gleich zusammenhabe. Darf ich also vorstellen: Das ist Kriminalhauptkommissar Rehder, Benjamin Rehder. Mein bester Mann hier. Er wird Sie in der ersten Zeit ein bisschen unter seine Fittiche nehmen, wie man so schön sagt. Hängen Sie sich an seine Fersen, da können Sie sicher noch eine Menge dazulernen und werden sich schnell eingewöhnen.«

 

Benjamin Rehder kannte die Floskeln seines Chefs bereits zur Genüge und fand diese gezwungen lockeren Vorstellungen alles andere als angenehm. Zumal die Sache mit dem ›tollen Timing‹ ein einziger Witz war, da Mausner ihn extra schon um kurz vor acht in sein Büro gebeten hatte, damit sie Katharina von Hagemann gemeinsam begrüßen konnten. Was Benjamin Rehder aber viel mehr irritierte, war das merkwürdige Verhalten der neuen Kollegin. Kaum dass sie den Raum betreten und ihn gesehen hatte, war sie wie zur Salzsäule erstarrt. Es hatte einige Sekunden gebraucht, bis sie ein komplett verunsichertes »Vielen Dank, ich freue mich, hier zu sein!« hervor gestottert hatte. Jetzt erst schien sie sich langsam wieder in den Griff zu bekommen. Allerdings war ihm, als würde sie seinem Blick ausweichen. Darum wendete er sich jetzt ganz direkt an sie.

»Frau Oberkommissarin von Hagemann, ich fürchte, das wird ein Sprung ins kalte Wasser und keine langsame Eingewöhnung. Letzte Nacht ist etwas vorgefallen, ich werde Sie am besten gleich mit den Details vertraut machen.« Rehder nickte seinem Chef zu und hielt der jungen Kommissarin die Tür auf. »Ich zeige Ihnen kurz Ihren Arbeitsplatz, und dann müssen wir reden.«

»Ja, ich denke, das sollten wir wohl«, antwortete Katharina von Hagemann leise.

Erneut irritiert sah der Hauptkommissar sie an: »Natürlich, ich muss Sie ja über den Stand der Dinge informieren. Letzte Nacht wurde eine Frau ermordet, und Sie werden umgehend in die Ermittlungen einsteigen müssen.«

09.41 Uhr

Katharina hatte sich etwas beruhigt, war aber immer noch verunsichert. Seit rund eineinhalb Stunden erläuterte ihr neuer Boss nun den laufenden Fall, ohne auch nur ansatzweise ein Problem damit zu haben, dass er noch bis vor wenigen Stunden das Bett mit ihr geteilt hatte. So betrunken, dass er sich an nichts erinnern konnte, war er nicht gewesen, da war Katharina sicher. Zum einen hätte sie das gemerkt, zum anderen könnte er dann nicht so klar und zielgerichtet agieren, wie er es jetzt tat.

»Frau von Hagemann, hören Sie mir eigentlich noch zu?« Rehder war inzwischen leicht genervt, denn die neue Kollegin schien nicht so ganz bei der Sache zu sein. »Hören Sie, ich habe Ihnen vorhin bereits gesagt, das wird ein Sprung ins kalte Wasser. Wir sind hier nicht in München, wo es ein riesiges Team bei der Kripo gibt und jeder sich nach eigenem Gusto überlegen kann, ob er gerade Lust auf den Fall hat oder ihn lieber einem anderen überlässt. Wenn Sie sich das nicht zutrauen, dann …«

»Nein«, fiel Katharina ihm erschrocken und leicht verärgert ins Wort, »es tut mir leid, natürlich traue ich mir das zu. Es ist nur … sollten wir nicht auch über … ich meine …«

Das Telefon klingelte bevor Katharina einen Versuch unternehmen konnte, die delikate Situation anzusprechen. Rehder griff zum Hörer und meldete sich. Nachdem er einige Sekunden nur stumm zugehört hatte, sagte er: »Wo genau? Okay, wir sind gleich da.«

Während er zu seiner Jacke griff, die über dem Stuhl hing, wendete er sich Katharina zu und erklärte: »Wir haben eine neue Leiche, ist gerade aus dem Wasser gefischt worden. Die müssen wir auch übernehmen. Meinen Sie, Sie vertragen das?«

Der zynische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören, aber Katharina wollte sich nicht weiter provozieren lassen und antwortete so lässig, wie es ihr möglich war: »Sicher, ist ja nicht die erste Leiche, die ich zu sehen bekomme. Wo müssen wir hin?«

»Ins Hotel Heideglanz, das ist hier so ziemlich das, was man als das ›erstes Haus am Platz‹ bezeichnet. Man wird dort sicher nicht begeistert sein, wenn wir vor Ort ermitteln. Ich kenne den Hoteldirektor, das wird schon anstrengend, bevor wir die Leiche überhaupt zu sehen bekommen haben.«

Während der kurzen Fahrt zum Tatort informierte Rehder seine Kollegin über die wenigen Fakten, die man ihm am Telefon mitgeteilt hatte. Eine männliche Leiche, die offenbar schon etwas länger im Wasser gelegen hatte, bisher nicht identifiziert. Die Hotelterrasse lag direkt an einem kleinen Schleusenkanal, und die Leiche hatte sich offensichtlich im Gebälk der Terrasse verfangen, als sie von einer Angestellten entdeckt worden war.

»Ist die Spurensicherung schon vor Ort?«, fragte Katharina und versuchte, sich ganz und gar auf den Job zu konzentrieren. Sie wollte ihrem neuen Boss und Ex-Bettgenossen keine weitere Angriffsfläche bieten, auch wenn sie sein Verhalten mehr als befremdend fand.

»Ja, die sind schon da. Und wie es aussieht, nicht nur die …«

Rehder fuhr in die Auffahrt des Hotels, und sofort sah Katharina, was er meinte: Die Terrasse des Hotels war abgesperrt, doch auf einer nahegelegenen kleinen Brücke, von der aus man freien Blick auf den Außenbereich des Hotels hatte, hatte sich eine ganze Horde Schaulustiger versammelt.

Die beiden waren noch gar nicht ganz ausgestiegen, als ihnen schon ein großer, kräftiger Mann hektisch entgegenlief.

»Wusste ich’s doch. Das ist der Hoteldirektor«, raunte Rehder Katharina ins Ohr, sodass sie seinen Atem im Nacken spürte. Ihr lief ein kleiner, wohliger Schauer über den Rücken, da sich durch diese Intimität die Erinnerung an die letzte Nacht ihren Weg bahnte. Schnell entfernte Katharina sich einen Schritt von Rehder. Solche körperlichen Gefühle hatten hier jetzt nichts zu suchen. Darüber hinaus tat Rehder weiterhin so, als sei nichts vorgefallen. Was trieb er bloß für ein Spielchen mit ihr? Katharina riss sich zusammen. Was er konnte, konnte sie schon lang. Sie setzte ihre undurchdringliche Profimiene auf, die sie sich vor allem in der letzten Zeit in München antrainiert hatte, und schaute dem Hoteldirektor entgegen.

»Guten Morgen, Kommissar Rehder«, rief der Direktor schon aus der Entfernung. »Schrecklich, dass das ausgerechnet bei uns passieren muss! Ich hoffe, Sie können das so diskret wie nur irgend möglich regeln. Sie wissen schon, die Gäste …!«

»Hallo, Herr Gronau«, erwiderte Rehder knapp, »wir tun unser Bestes, aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Noch haben wir ja nicht einmal den Tatort gesehen. Also lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen, ich halte Sie auf dem Laufenden. Halten Sie sich aber bitte weiterhin zu unserer Verfügung und sorgen Sie dafür, dass auch das Personal, das heute Morgen hier war, vor Ort bleibt, falls wir Fragen haben. Am besten erstellen Sie eine Liste der Angestellten, die Dienst hatten. Ob es nötig sein wird, Ihre Gäste zu befragen, kann ich noch nicht sagen.«

»Um Gottes willen, ich hoffe, das bleibt uns erspart! Aber ich sichere Ihnen selbstverständlich meine volle Unterstützung zu, wenn wir die Angelegenheit dadurch beschleunigen können. Ich kümmere mich umgehend, die Leiche finden Sie ja sicher auch ohne mich.« Gronau verschwand hinter dem Empfangstresen, während die Kommissare die Hotelterrasse betraten, um sich dann zu trennen.

Es herrschte das übliche sortierte Gewusel am Tatort, das Katharina aus den Jahren bei der Polizei längst vertraut war. Die Tätigkeiten der einzelnen Polizeieinheiten waren im Prinzip immer gleich: Die uniformierten Kollegen waren dabei, Personalien aufzunehmen, die Spurensicherung ging mit mehreren Leuten ihrer Aufgabe nach, und der Fotograf schoss Fotos rund um die Fundstelle und von der Leiche. Katharina empfand bei aller Vertrautheit mit den Abläufen immer noch eine gewisse Faszination bei diesem Szenario, das sich immer dann bot, wenn ein neuer Fall begann. Aber als noch viel spannender empfand sie das, was unabhängig von der eigentlichen Polizeiarbeit im Hintergrund vor sich ging. Es war viel unauffälliger, konnte aber mindestens genauso wichtig für ihre Ermittlungen sein.

Sie ließ ihren Blick schweifen. In der Ecke der Terrasse saß eine junge Frau, die äußerst geschockt wirkte. Der Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie zum Hotel. Vermutlich war sie diejenige, die die Leiche am Morgen entdeckt hatte. Eine Kollegin saß bei ihr und redete beruhigend auf sie ein. Aus den Fenstern der Hotelzimmer, die zur Terrasse gingen, schauten sich einige Gäste das Treiben von oben an. Die restlichen Angestellten des Hotels versuchten zwar, ihren Aufgaben nachzugehen, doch Katharina bemerkte hier und da einige von ihnen an den Fenstern der Innenräume. Die Brücke, die sie bei der Ankunft durch Rehders Bemerkung bereits registriert hatte, hatte sich zwischenzeitlich noch weiter gefüllt. Während Katharinas Blick jetzt durch die Schaulustigen wanderte, hatte sie kurz das Gefühl, ihren Chef Kommissar Rehder in der Menge gesehen zu haben. Doch sie musste sich getäuscht haben, denn als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Terrasse richtete, sah sie ihn mit jemandem von der Spusi sprechen. Sie ging wieder zu ihm rüber und hoffte darauf, dass er ihr eine konkrete Aufgabe zuteilen würde.