Czytaj książkę: «Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl», strona 3

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Unterdrücke es!

Der junge Dostojewski soll seinen Bruder einmal aufgefordert haben, nicht an einen weißen Bären zu denken und ihn damit in große Verwirrung gestürzt haben. Im Jahre 1987 stellten Daniel Wegner et al. einer Gruppe von Studenten die gleiche mentale Aufgabe: Die Studienteilnehmer sollten fünf Minuten lang ihre Gedanken kontrollieren und nicht an einen weißen Bären denken. Jedes Mal, wenn sie an einen weißen Bären dachten, sollten sie eine Klingel betätigen und gleichzeitig aussprechen, was ihnen gerade in den Sinn kam. Danach wurde diese Gruppe aufgefordert, fünf Minuten lang bewusst an einen weißen Bären zu denken und dabei dasselbe zu tun. (Die Teilnehmer einer Vergleichsgruppe sollten während der gesamten Dauer des Experiments an einen weißen Bären denken). Die Probanden, die ihre Gedanken unterdrücken sollten, waren nicht nur in den ersten 5 Minuten dazu außerstande, sondern dachten auch in den folgenden 5 Minuten öfter an weiße Bären als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe, die ihre Gedanken zu keiner Zeit unterdrücken mussten. Diese klassische Studie zeigt, dass Unterdrückung die intensive Beschäftigung mit eben jenem Objekt provoziert, gegen das sie gerichtet ist. Klinische Forscher vermuten, dass ähnliche Prozesse bei psychischen Störungen wie posttraumatischem Stress, Depressionen und Zwangsstörungen ablaufen: Die Gedanken, die wir unterdrücken, kehren zurück und beginnen, uns zu verfolgen.

Im Rahmen eines anderen Experiments, bei dem es um die Unterdrückung von Gefühlen ging, forderten Wissenschaftler der Florida State University Studenten auf, beim Betrachten eines Horrorfilms nicht zurückzuschrecken und bei einer Komödie nicht zu lachen. Danach sollten sie eine komplizierte Fingerübung ausführen. Der Versuch, ihre emotionalen Reaktionen auf die Filme unter Kontrolle zu halten ließ bei den Studienteilnehmern den Blutzuckerspiegel sinken, und die Studenten mit niedrigerem Blutzuckerspiegel gaben bei den Fingerübungen schneller auf. Als man denselben Teilnehmern zuckerhaltige Getränke verabreichte, um den Blutzuckerspiegel wieder zu erhöhen, zeigten sie größere Ausdauer bei der gestellten Aufgabe. Die Unterdrückung von Gefühlen scheint also die Willenskraft zu verringern, und ein Grund dafür könnte ein niedriger Blutzuckerspiegel sein.

Diese beiden Studien liefern vielleicht eine Erklärung dafür, wieso der Versuch, einem Schokoladenkeks zu widerstehen, ein so schwieriges und häufig erfolgloses Unterfangen ist.

Vielleicht will mir jemand aus dem Publikum helfen und ruft: „Atmen Sie doch einmal tief durch!“ (Das ist mir tatsächlich schon passiert.) Hinter meiner Angst steckt der Wunsch, gemocht zu werden, intelligent und charmant zu wirken und das Publikum nicht zu langweilen. Ich gehe von der falschen Vorstellung aus, dass ich absolut zufrieden wäre, würde mich jeder im Publikum mögen. Aber es gibt ja auch noch einen anderen Grund, vor einem Publikum zu sprechen: Man möchte anderen etwas Wichtiges oder Wissenswertes vermitteln. Eine Strategie, die ich schon öfter angewendet habe, um meiner Angst vor öffentlichen Auftritten Herr zu werden, besteht darin, mich wieder auf die eigentlichen Inhalte zu besinnen, die ich den Menschen nahebringen will. Geht es beispielsweise um „Hirnforschung“, konzentriere ich mich darauf, am Ende meiner Rede ein paar nützliche Dinge zum Thema Hirnforschung gesagt zu haben. Es scheint tatsächlich hilfreich zu sein, die Aufmerksamkeit von „mir“ abzuziehen.

Leider kann diese Technik mein Problem nur teilweise lösen, wenn ich mir unbewusst immer noch wünsche, vor meinen Zuhörern und Zuhörerinnen nicht angespannt zu wirken. Der Meditationslehrer Joseph Goldstein sagt: „Das Motiv ist das Entscheidende.“ Was will ich beim Sprechen erreichen? Nicht nervös zu wirken? Wenn ja, wird ein kleiner Kontrolleur in meinem Kopf sitzen, der mich ständig fragt: „Bist du nervös? … Bist du jetzt nervös?“ Diese bohrende Frage löst genau die Angst aus, die ich zu unterdrücken versuche, und wenn ich erst einmal Angst habe, bekomme ich Angst vor der Angst.

Es gibt nur eine einzige dauerhafte Lösung für die Angst, vor Publikum zu sprechen: sie einfach zu haben. Wir müssen aufhören, uns vor der Angst zu schützen, müssen bereit sein, beim Sprechen vor Angst zu schlottern. Wenn ich das tue, verschwindet meine Angst nach kurzer Zeit. Selbst lange vor einem öffentlichen Auftritt verhindert meine Bereitschaft, die Angst zuzulassen, dass die Negativspirale in Gang gesetzt wird.

Beziehungskonflikte

In Beziehungen gibt es gute und schlechte Phasen innerhalb der Gezeiten von Nähe und Distanz. Wollen wir uns mit unserem Partner verbunden fühlen, wollen wir das Gefühl haben, gesehen und gehört zu werden, auf derselben „Wellenlänge“ zu sein, und dieses Gefühl stellt sich nicht ein, so ist das sehr schmerzhaft. Alle Paare machen solche schmerzhaften Phasen durch, die manchmal über einen langen Zeitraum anhalten:

Suzanne und Michael gingen durch die „kalte Hölle“. Die kalte Hölle ist ein Zustand, in dem Beziehungspartner ablehnend und misstrauisch aufeinander reagieren und in einem kühlen, bewusst unpersönlichen Ton miteinander sprechen. Manche Paare halten das jahrelang durch, sozusagen eingefroren am Rande der Scheidung.

Nach fünf Monaten erfolgloser Therapiesitzungen, die in zweiwöchigem Abstand stattgefunden hatten, gelangte Suzanne zu dem Schluss, dass es nun an der Zeit sei, die Scheidung einzureichen. Für sie war klar, dass Michael sich nie ändern würde: Er würde nie weniger als 65 Stunden pro Woche arbeiten und auch nie auf seine Gesundheit achten (er hatte 50 Pfund Übergewicht und rauchte). Noch mehr belastete sie allerdings die Tatsache, dass Michael nicht das geringste Interesse zeigte, ihrer Ehe schöne Seiten abzugewinnen. Sie gingen nur selten aus und waren vor 2 ½ Jahren zum letzten Mal im Urlaub gewesen. Suzanne fühlte sich einsam und abgelehnt. Michael hatte dagegen das Gefühl, dass seine harte Arbeit für die Familie nicht anerkannt wurde.

Suzannes Schritt in Richtung Scheidung brachte die Wende, denn er bescherte ihnen das „Geschenk der Verzweiflung“. Zum ersten Mal schien Michael bereit zu sein, wirklich hinzuschauen und zu sehen, wie schmerzvoll sein Leben geworden war. Als sie während einer Therapiesitzung über einen schweren Schneesturm in der Umgebung von Denver sprachen, erwähnte Michael, dass sein 64-jähriger Vater an diesem Tag zum ersten Mal in 20 Jahren nicht zur Arbeit erschienen sei. Ich fragte Michael, was das für ihn bedeute. Seine Augen füllten sich mit Tränen und er sagte, er wünschte, sein Vater hätte sein Leben mehr genießen können. Ich dachte laut darüber nach, ob sich Michael das jemals für sich selbst gewünscht hatte. „Ich habe Angst“, erwiderte er. „Ich habe Angst vor dem, was passieren würde, wenn ich nicht mehr ununterbrochen arbeitete. Ich habe sogar Angst davor, aufzuhören, mir Sorgen über meine Arbeit zu machen – dass ich vielleicht etwas Wichtiges übersehen könnte und meine ganze Karriere vor meinen Augen wie ein Kartenhaus einstürzen würde.“ Bei diesen Worten ging Suzanne ein Licht auf. „Vernachlässigst du deshalb mich und die Kinder und deinen Körper?“, fragte sie. Michael nickte, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. „Oh Gott“, sagte Suzanne, „Ich dachte es läge an mir – dass ich nicht gut genug sei, dass ich eine zu große Belastung für dich sei. Wir haben beide Angst – aber vor unterschiedlichen Dingen. Du hast Angst um deine berufliche Position und ich habe Angst um unsere Ehe. Während du bei der Arbeit bist, lebe ich Tag für Tag in der Angst, dass unsere Ehe wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen könnte.“ Allmählich begann das eisige Gefühl der Entfremdung zu schmelzen, das Michael und Suzanne jahrelang voneinander getrennt hatte.

Michael wusste seit unserer ersten Therapiesitzung, dass er arbeitssüchtig war. Ihm war sogar bewusst, dass er seine Familie genauso vernachlässigte, wie er von seinem Vater vernachlässigt worden war. Aber er fühlte sich hilflos und konnte nicht verhindern, dass sich dieses Leid von einer Generation auf die nächste übertrug. Doch als er den Schmerz über die drohende Scheidung fühlte, kam etwas in Bewegung. Michael gestand sich ein, wie leidvoll sein Leben geworden war, und er empfand einen Funken Mitgefühl – zuerst für seinen Vater und dann für sich selbst.

Suzanne warf Michael oft vor, sich nicht genügend um die beiden gemeinsamen Kinder zu kümmern. Aber hinter ihren Vorwürfen steckte ein Wunsch, der Müttern von kleinen Kindern vertraut ist: dass Michael, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, zuerst einmal ihr Aufmerksamkeit schenken und danach mit den Kindern spielen solle. Suzanne schämte sich für diesen Wunsch, denn sie hielt ihn für egoistisch und für den Beweis, dass sie keine gute Mutter war. Nachdem sie ihn aber als natürlichen Ausdruck ihres Bedürfnisses nach Nähe zu ihrem Mann erkennen konnte, war sie in der Lage, diesen Wunsch offener und selbstbewusster zu äußern. Und das machte es Michael wiederum viel leichter, darauf einzugehen.

Schon ein bisschen Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl half den beiden, ihre schwierigen Gefühle zu transformieren. In Beziehungen verbirgt sich hinter heftigen Gefühlen wie Scham und Wut oft ein großes ICH VERMISSE DICH! Es tut einfach weh und fühlt sich irgendwie nicht richtig an, sich mit den Menschen, die wir lieben, nicht verbunden zu fühlen.

Trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen der Angst, vor Publikum zu sprechen, Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit und Beziehungskonflikten ist diesen Problemen normalerweise eines gemeinsam: der Widerstand gegen das Leid. Doch der Kampf gegen das, was uns unangenehm ist, macht alles nur noch schlimmer. Je mehr wir unsere Ängste oder körperlichen Beschwerden, die Schlaflosigkeit oder den Schmerz der Getrenntheit – und die damit verbundenen Selbstzweifel – annehmen können, desto besser sind wir dran.

Sie können diese Dynamik gewiss auch in Ihrem eigenen Leben beobachten. Wie erfolgreich ist Ihre Schlankheitskur, wenn Sie dabei extrem streng und selbstkritisch sind? Was geschieht, wenn Sie mit Ihrer Tochter im Teenageralter über deren neuen Freund streiten? Wo bleibt ihre Wut, wenn Sie sie unterdrücken? Einer meiner Kollegen witzelte einmal: „Wenn du etwas ablehnst, geht es in den Keller und trainiert Gewichtheben!“

Im schlimmsten Fall kann der Versuch, sich Schamgefühle zu ersparen, indem man andere verbal oder physisch angreift, Beziehungen oder ein ganzes Leben zerstören. Wenn wir zum Alkohol greifen, um Ängsten auszuweichen oder traumatische Erinnerungen auszublenden, können wir alles verlieren, was wir haben oder uns jemals erträumten. Die eigene Haut zu ritzen, um sich Erleichterung von emotionalem Schmerz zu verschaffen, löst gar nichts. Die Herausforderung besteht darin, sich den eigenen Schwierigkeiten mit urteilsfreiem Gewahrsein und Mitgefühl zuzuwenden.

Den Mittelweg finden

Es ist viel verlangt, sich unangenehmen Empfindungen zu öffnen. Als ich beschloss, mir zu erlauben, vor meinem Publikum zu zittern, musste ich mir erst einmal klar machen, was das wirklich bedeutet. Nicht nur darüber nachzudenken, sondern die Szene tatsächlich schaudernd zu durchleben: wie die Leute über mich lachen, sich gegenseitig auf meine armselige Vorstellung hinweisen und sich verächtlich abwenden. Nur so konnte ich sehen, dass mein Leben weitergehen würde, wenn ich ein lausiger Redner wäre. Es war eine Art Desensibilisierung: Ich gewöhnte mich in meiner Vorstellung daran. Glücklicherweise oder leider konnte ich dabei auch auf ein paar reale Erfahrungen zurückgreifen.

Manche Menschen können da einfach hineinspringen und ihr emotionales Leid annehmen. Andere brauchen mehr Zeit. Sich in dieses Wildwasser zu stürzen funktioniert bei einigen, aber die Bereitschaft dazu ist kein Hinweis auf besondere Tapferkeit – vor allem, wenn man nicht schwimmen kann. Man muss sich sicher und kompetent fühlen, wenn man diesen ersten Schritt auf den eigenen Schmerz zugeht.

Bei den meisten von uns löst die Vorstellung, sich dem eigenen emotionalen Schmerz zu öffnen, bestimmte Befürchtungen aus. Depressive Menschen fürchten vielleicht, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden und im Alltag nicht mehr funktionieren zu können. Menschen mit Angststörungen machen sich Sorgen, es könnte sie zurückwerfen und ihnen eine weitere Panikattacke bescheren, die sie so schnell nicht wieder vergessen würden. Traumatisierte Menschen erwarten, von schrecklichen Erinnerungen eingeholt zu werden, die sie tagsüber quälen könnten. Menschen, die in einer schwierigen Ehe ausharren, befürchten vielleicht, im Hinblick auf ihre Beziehung etwas verändern zu müssen, wenn sie sich erlauben, zu fühlen, wie schlimm es wirklich geworden ist. All das könnte tatsächlich passieren und wir müssen auf solche Dinge vorbereitet sein.

Der Sinn und Zweck dieses Buches ist, Ihnen das notwendige Wissen und die Fertigkeiten zu vermitteln, die Sie brauchen, um dem Leid aus einer Position der Stärke begegnen zu können. Eines kann Ihnen dieses Buch allerdings nicht geben: die Intuition, ob es für Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sicher ist, sich Ihrem Schmerz zu öffnen. Das müssen Sie selbst entscheiden. Wir alle sind empfindsame Wesen, auch wenn wir es nicht zeigen. Wir haben ein zartes Nervensystem. Lernen Sie, Ihrer Intuition zu trauen, um zwischen „Sicherheit“ und „Leiden“ zu unterscheiden. Sich verletzlich oder unwohl zu fühlen bedeutet nicht unbedingt, dass man nicht sicher ist: „Schmerz“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit „Schaden“. Wollen Sie Ihr Leben ganz leben, ist es wichtig, diesen Unterschied zu kennen.

Wir nehmen im Allgemeinen alle möglichen Unannehmlichkeiten in Kauf, um ein sinnvolles Leben zu führen. Ist es Ihnen beispielsweise wichtig, Kinder zu haben, werden Sie wahrscheinlich das Risiko einer schmerzhaften Geburt eingehen, um Ihren Traum zu verwirklichen. Weisheit ist, die kurz- und langfristigen Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen und den Weg zu wählen, der den größten langfristigen Nutzen und Segen bringt. Trotz mancher Hindernisse seinen tiefsten Überzeugungen und Werten treu zu bleiben, ist weise, weil es uns langfristig glücklich macht.

Am besten ist es, einen „Mittelweg“ zu suchen zwischen der Konfrontation mit unseren emotionalen Problemen und dem Umgehen derselben. An einem Tag fühlen Sie sich vielleicht eher schwach und unfähig, sich Ihren Herausforderungen zu stellen. In diesem Fall können sie vielleicht warten. Stellen Sie sich vor, Sie sind im Skiurlaub. An manchen Tagen haben Sie vielleicht Lust, besonders schwierige Hänge zu bezwingen, und an anderen wollen Sie einfach nur in der Skihütte sitzen und heiße Schokolade schlürfen. Wenn Sie versuchen, einen steilen Hang hinunterzufahren, ohne innerlich bereit zu sein, könnten Sie einen Skiunfall haben. Bleiben Sie andererseits immer auf dem Anfängerhügel, werden Sie nie die Freude erleben, „es geschafft zu haben.“ Wenn Sie wählen können, sollten Sie neue Herausforderungen nur annehmen, wenn es Ihnen gut geht und Sie innerlich bereit sind. Geben Sie aber auch nicht auf!

Manche Leute fragen sich, wie Antidepressiva und angstlösende Medikamente in dieses Bild passen. Sind das nicht bloß Formen der Vermeidung, die emotionale Herausforderungen wegschieben oder verdecken? In manchen Fällen mag das zutreffen, aber im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass wir gar nicht in der Lage sind, an unseren Problemen zu arbeiten, wenn wir von Angst und Trauer überwältigt oder völlig verwirrt sind. Vermeidung ist gut, wenn sie uns hilft, wieder klarer zu sehen. In diesem Sinne können Medikamente das emotionale Leid wieder überschaubar machen. Manche Menschen können ihre Medikamente irgendwann mit Hilfe von Selbsthilfetechniken, wie sie auch in diesem Buch beschrieben werden, reduzieren.

Der menschliche Geist hat seine eigenen natürlichen Mechanismen, negativem Stress auszuweichen. Dazu zählen unsere „Verteidigungsstrategien“ wie „Verleugnung“, „Projektion“ und „Abspaltung“. Mit Abspaltung bezeichnet man gewöhnlich die Tendenz des menschlichen Geistes zum Schwarz-Weiß-Denken, wenn wir uns bedroht fühlen: „Er ist nur gut, sie ist nur schlecht.“ Solches Denken tröstet uns. Verleugnung ist die Weigerung, bedrohliche Dinge wie den Alkoholismus oder eine Affäre des Partners zu akzeptieren. Bei einer Projektion überträgt man die eigenen inakzeptablen Gefühle auf einen anderen Menschen, um sich mit sich selbst besser zu fühlen: „Er ist ein Rassist“ oder „Sie ist nur eifersüchtig.“

Verteidigungsmechanismen sind ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung des emotionalen Gleichgewichts, weshalb wir ihnen wohl oder übel eine Berechtigung zugestehen müssen. So kann es beispielsweise klug sein, vor der Affäre des Partners die Augen zu verschließen (Verleugnung), bis man die Kraft hat, sich damit auseinanderzusetzen. Es nützt niemandem, wenn wir uns von unseren Gefühlen überwältigen lassen und nicht mehr fähig sind, im Alltag zu funktionieren. Außerdem können manche vorübergehenden emotional schmerzhaften Zustände durchaus erfolgreich ausgeblendet werden – wenn sie nie zurückkehren, umso besser. Unsere psychischen Verteidigungsmechanismen sollen unser Leben aber nicht beherrschen oder unnötig kompliziert machen.

Auf die hedonistische Tretmühle zu steigen, um Angenehmes zu erleben und Schmerz zu vermeiden, kann manchmal sogar positiv sein. Wie können Sie denn je glücklich sein, wenn Sie nicht tun, was Ihnen Freude macht? Wer, wenn nicht Sie, wird kurz- oder langfristig Ihre Bedürfnisse befriedigen oder kann überhaupt wissen, was Sie brauchen, um glücklich zu sein? Für die meisten Erwachsenen sind jene Zeiten, da andere ihre Bedürfnisse besser kannten als sie selbst, lange vorbei. Wir müssen die Verantwortung für unsere innere Zufriedenheit übernehmen, und alles, was uns Freude macht, weist uns den Weg. Es ist jedoch zu hoffen, dass wir uns für langfristige Freuden entscheiden, beispielsweise die Freude an einem gesunden Körper, an geistiger Bereicherung und die Freude, anderen etwas Gutes zu tun.

Entscheidend ist, dass wir erkennen, wann unsere instinktiven Gewohnheiten beim Streben nach Vergnügen und Schmerzvermeidung uns mehr Probleme einbringen, als sie wert sind. Wenn wir uns solchen Aktivitäten hingeben, lässt der Stress nicht lange auf sich warten. Wir leiden, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, wenn wir verlieren, was wir haben und wenn wir bekommen, was wir nicht wollten. Dann ist es hilfreich, die Dinge so anzunehmen und sehen zu können, wie sie sind.

Die Phasen des Annehmens

Die innere Hinwendung zum Schmerz ist ein Prozess, der in mehreren Phasen abläuft. Durch das Leiden wird unser Widerstand allmählich aufgeweicht. Nach anfänglicher heftiger Abwehr treten wir in diesen Prozess ein, indem wir uns dem Problem mit einer gewissen Neugier nähern, und gelangen, wenn alles gut geht, schließlich zu einer vollen Annahme dessen, was in unserem Leben passiert. Dieser Prozess verläuft normalerweise langsam und natürlich. Es ist unsinnig, eine Phase überspringen zu wollen, solange wir uns in unserem jetzigen Zustand nicht stabil fühlen. Die einzelnen Phasen sind:

1. Abwehr – Widerstand, Vermeidung, Grübelei

2. Neugier – man wendet sich dem Problem oder Ereignis mit Interesse zu

3. Toleranz – man erträgt den Schmerz

4. Zulassen – man lässt die Gefühle kommen und gehen

5. Anfreunden – man nimmt die Dinge an, erkennt den verborgenen Wert

Abwehr ist stets unsere erste, instinktive Reaktion auf unangenehme oder schmerzliche Gefühle. Wir wenden beispielsweise den Blick ab, wenn wir etwas Unangenehmes sehen. Abwehr kann auch zu innerer Verstrickung oder Grübelei führen, beispielsweise wenn wir ständig darüber nachdenken, wie wir das Gefühl loswerden können. Wenn die Abwehr nicht funktioniert, treten wir nach einer Weile in die 2. Phase ein: Neugier. „Was für ein Gefühl ist das eigentlich?“ „Wann tritt es auf?“ „Was bedeutet es?“ Wenn wir dann wissen, womit wir es zu tun haben, und der Schmerz anhält, treten wir vielleicht in die 3. Phase ein: Toleranz. Toleranz bedeutet, dass wir den emotionalen Schmerz „ertragen“, ihm aber noch Widerstand leisten und wünschen, er möge vergehen. Wenn unser Widerstand aufweicht, beginnt die 4. Phase: Zulassen. Wir lassen die unangenehmen oder schwierigen Gefühle einfach kommen und gehen. Und irgendwann, nach einer Zeit der Anpassung und Verinnerlichung, befinden wir uns vielleicht in der Phase des Anfreundens, in der wir tatsächlich den verborgenen Sinn oder Wert in unserer Tragödie erkennen. Die Geschichte von Brenda, einer lieben Freundin, mag verdeutlichen, was es bedeutet, diese Phasen zu durchleben.

Brenda und ihr Mann Doug hatten zwei Kinder. Ihr Sohn Zach, der drei Jahre jünger war als seine Schwester, hatte einen angeborenen Herzfehler. Wenn Brendas Familie weite Reisen nach Australien oder Hawaii unternahm, hatte Zach manchmal einen Herzanfall. Trotz seiner Herzkrankheit und der Medikamente war er ein fröhlicher, lebendiger Junge, aber mit neun Jahren starb er plötzlich im Schlaf. Das war vor 19 Jahren.

1. Phase: Abwehr

Der Verlust eines Kindes ist ein unbeschreiblicher Schmerz. Obwohl Brenda und Doug wussten, dass Zach wahrscheinlich nicht lange leben würde, konnte sie nichts auf diesen Schmerz vorbereiten. Es war ein „emotionaler Tsunami“. Beim Begräbnis war Brendas Nervensystem so überlastet, dass ihr peripheres Sehen nicht mehr funktionierte. Nachdem sie nach jüdischer Sitte die siebentägige Trauerzeit Shiva gehalten hatte, legte sie sich ins Bett, und verließ es nur noch selten, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Brenda fühlte sich unter Menschen wie eine Fremde und beobachtete völlig unbeteiligt, wenn jemand in der Kassenschlange ein Aufhebens machte, weil er seine Lieblingsnudeln nicht hatte finden können. Sie hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen.

2. Phase: Neugier

Irgendwann kam Brenda der Gedanke: „Wenn ich einfach aufgeben würde, könnte ich sterben“. Das erschien zunächst wie eine Erlösung, aber dann kam Panik hoch: „Was ist mit meiner Tochter? Was würde sie tun? Ich kann entweder in meinem Leid versinken oder eine bewusste Entscheidung treffen.“ Brenda wachte allmählich auf und erkannte ihre Situation. Ihr wurde klar: „Sich schlecht fühlen kann auch gefährlich sein.“

3. Phase: Toleranz

Nach zwei Wochen beschloss Brenda, das Bett zu verlassen. „Ich war entschlossen, für meine Tochter zu leben.“ Als Kind hatte sich Brenda um ihre eigene Mutter kümmern müssen. Deshalb wollte sie auf keinen Fall, handlungsunfähig durch ihre Trauer, zu einer Belastung für ihre Tochter werden. „Ich muss als Mutter für sie da sein. Das Leben gehört den Lebenden,“ sagte sie sich. Später erklärte sie mir einmal: „Für andere da zu sein war das Einzige, das mein Leid lindern konnte.“

4. Phase: Zulassen

Brenda beschreibt sich selbst als eher „intellektuellen Typ“, der Probleme durch gründliches Nachdenken zu lösen versucht, nach dem Motto: „Wenn dein Ansatz nicht funktioniert, probiere es mit einem anderen“. Aber die Wucht der Trauer hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Sie und Doug hielten ihren Kummer auf einem erträglichen Level, indem sie Zachs Grab nur zweimal jährlich besuchten und hin und wieder seine Sachen hervorholten und betrachteten. „Wusstest du, dass sein Geruch nach fünf Monaten aus dem Bademantel verschwindet?“ Nach und nach konnten beide mehr Schmerz zulassen, wenn sie bei diesen „Besuchen“ zusammen weinten.

Innerlich hielt Brenda eine liebevolle Beziehung zu Zach aufrecht. Diese Verbindung wollte sie nicht aufgeben, und das war auch gar nicht nötig. Brenda stellte fest, dass sie sich Zach immer dann nahe fühlte, wenn sie traurig war. Aber sie fühlte sich ihm auch nahe, wenn sie eine Welle der Dankbarkeit verspürte – Dankbarkeit dafür, dass sie ihn überhaupt gekannt hatte. Brenda war damals in psychotherapeutischer Behandlung und einmal fragte sie ihren Therapeuten: „Ist es in Ordnung, eine lebendige Beziehung zu einem verstorbenen Menschen zu haben?“, und er erwiderte: „Warum nicht? Schmerz und Dankbarkeit sind Formen der Liebe.“ Brenda verließ sich auf ihre Intuition, um in ihrer Beziehung zu Zach ein gesundes Maß zu finden.

5. Phase: Anfreunden

Als ich Brenda 17 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes begegnete, sagte sie zu mir: „Der Schmerz über Zachs Tod hat mich mit allen Müttern verbunden, die je ein Kind verloren haben.“ Zwei Jahre später nahm sie an einem Meditations-Retreat teil, bei dem der Meditationslehrer die Teilnehmer einlud, „mit ihrem Leid in Kontakt zu treten.“ Brenda hörte eine innere Stimme sagen: „Tu’ es nicht!“ Daraufhin sagte der Lehrer zu ihr: „Wenn du die schwierigen Momente nicht voll und ganz erleben kannst, wirst du wahrscheinlich auch die besten Momente deines Lebens nicht voll und ganz erleben.“ In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie an ihrem Schmerz festgehalten hatte, und sie dachte: „Vielleicht brauche ich das gar nicht mehr?“ Gegenüber ihrer 32-jährigen Tochter hatte sie diese Begebenheit mit keinem Wort erwähnt, aber eine Woche nach dem Retreat rief die Tochter bei ihr an und bat sie um die Adresse eines guten Psychotherapeuten, um über den Tod ihres Bruders sprechen zu können. Dass Brenda nun lernte, mit ihrem Schmerz Freundschaft zu schließen, hatte vielleicht ihre Tochter auf unsichtbaren Wegen dazu gebracht, dasselbe zu tun. Brenda sagte zu mir: „Ich habe so viele Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass ich voll und ganz lieben kann, ohne zu leiden.“

Diese Geschichte zeigt uns, wie unser Widerstand gegen unerträglichen emotionalen Schmerz allmählich aufweichen kann. Die einzelnen Phasen verlaufen nicht unbedingt linear. An manchen Tagen fallen wir zurück und an anderen machen wir einen Sprung nach vorne. Je größer der Schmerz, desto länger brauchen wir, um die Phasen des Annehmens zu durchlaufen. Es hilft jedoch nichts, wenn wir versuchen, den Prozess zu beschleunigen, denn das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass wir den Schmerz eher wegschieben wollen, anstatt zu lernen, ihn anzunehmen. Dieses Buch will Ihnen zeigen, wie Sie das Annehmen Tag für Tag üben können – insbesondere im Hinblick auf sich selbst.

Vom Annehmen zum Selbstmitgefühl

In der Psychotherapie erkennt man heute zunehmend, wie wichtig das Annehmen des emotionalen Schmerzes für den Heilungsprozess ist. Wenn jemand zum Psychotherapeuten geht und sagt: „Ich bin total gestresst“, versucht der Therapeut normalerweise, diesem Menschen zu helfen, seinen Stresspegel zu senken – etwa indem er ihm Entspannungstechniken beibringt. In dieser Hinsicht sind Psychotherapeuten sehr gefällig. Manchmal versuchen sie, negative Denkmuster zu verändern, die die Depressionen des Klienten auszulösen scheinen (wie beispielsweise „Ich bin dumm“ oder „am Ende werde ich doch immer verlassen“). Diese Strategien fallen unter die Rubrik: „Schildere mir das Problem, und wir lösen es.“ Im Grunde gehen Therapeuten und Klienten hier eine unbewusste Allianz ein, um negative Erfahrungen auszumerzen.

Mit solchen Ansätzen konnte man einigen Erfolg erzielen, doch neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass der Heilungsprozess im Rahmen einer erfolgreichen Therapie anders verläuft, als wir bisher dachten: Es ist ein Prozess, bei dem wir ein ganz neues Verhältnis zu unseren Gedanken und Gefühlen entwickeln, anstatt sie direkt anzugehen und zu versuchen, sie zu ändern. Dieses neue Verhältnis ist weniger vermeidend, weniger verstrickend, annehmender, mitfühlender und bewusster. Indem wir unseren Problemen mit offenen Augen und Herzen begegnen – mit Wachheit und Mitgefühl – erfahren wir emotionale Heilung.

Was ist Akzeptanz?

Wie bereits erwähnt, schließt das „Akzeptieren“ oder „Annehmen“ eine Reihe von Erfahrungen ein, wie beispielsweise Neugier, Toleranz, Bereitschaft und Freundschaft. Das Gegenteil von Akzeptanz ist Widerstand. Wo Widerstand Leid erzeugt, wird Akzeptanz Leid lindern. Akzeptieren bedeutet nicht, schlechtes Verhalten einfach hinzunehmen, sondern sich emotional dem zu öffnen, was im gegenwärtigen Moment in unserem Innern vor sich geht. Wenn Sie in einer leidvollen Beziehung leben, bedeutet Akzeptanz nicht, „Ja“ zu der Beziehung als Ganzes zu sagen, sondern eher, sich einzugestehen: „Das tut weh!“ Ich konnte oft beobachten, dass Menschen ihr Leben änderten – Beziehungen, Essgewohnheiten, Jobs –, wenn sie mit den Gefühlen in Kontakt kamen, die eine Situation oder ein Verhalten in ihnen auslösten, und wirklich spürten, wie sehr sie darunter litten. Akzeptanz hat nichts mit Resignation oder Stagnation zu tun, denn auf das Annehmen folgt die Veränderung ganz von selbst.

Aber wir müssen wissen, was wir annehmen oder akzeptieren. Wenn wir nicht „wach“ sind, kann es sein, dass unser Akzeptieren zur Anpassung wird, so wie bei vielen Menschen, die für einen politischen Kandidaten stimmen, den sie kaum kennen. Blinde Akzeptanz kann auch in Sentimentalität ausarten – man überdeckt die Realität mit einem Zuckerguss. All das hat überhaupt nichts mit echtem Annehmen zu tun und führt letztendlich dazu, dass wir noch mehr leiden. Wenn ich in diesem Buch von „Akzeptanz“ oder „Annehmen“ spreche, meine ich die bewusste Entscheidung, die eigenen Empfindungen, Gefühle und Gedanken im gegenwärtigen Moment zu erleben, wie sie sind.

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl ist eine Form der Akzeptanz. Normalerweise bezieht sich Akzeptanz auf das, was wir erleben – das Akzeptieren eines Gefühls oder eines Gedankens. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir die Person akzeptieren, die diese Dinge erlebt. Wir nehmen uns in unserem Schmerz an.

Sowohl das Annehmen als auch das Selbstmitgefühl scheinen uns leichter zu fallen, wenn wir aufgehört haben, zu kämpfen und uns nicht länger darum bemühen, uns besser zu fühlen. Die Anonymen Alkoholiker nennen diesen Zustand „das Geschenk der Verzweiflung“. Wenn alle Versuche fehlgeschlagen sind, werden wir wahrscheinlich empfänglicher dafür, uns anzunehmen und Mitgefühl entgegenzubringen. Obwohl Sie sich vielleicht immer noch besser fühlen wollen, glauben Sie nicht mehr daran, dass Ihnen noch irgendetwas helfen kann. Ihr Vertrauen ins Leben ist fast auf dem Nullpunkt, der Verstand hat alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.