Czytaj książkę: «Fahlmann»

Czcionka:

CHRISTOPHER ECKER

FaHLMaNN

roman

mitteldeutscher verlag

Zu diesem Roman ist unter dem Titel Liebeserklärung an eine Zielscheibe ein Materialienband erschienen, der über den Verlag oder den Buchhandel bezogen werden kann.

2012

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Nachdruck, auch auszugsweise verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Recht zur fotomechanischen und digitalen Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages.

Lektorat: Dr. Kai U. Jürgens

Umschlagabbildung: © Cosmin Manci - Fotolia.com

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle

ISBN 9783954620906

INHaLT

Cover

Titel

Impressum

INHaLT

BaND EINS

VOM HERaUSGEHEN AM TaGE

1

2

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BaND ZWEI

DaS LEBEN IN SPITZBERGEN

1

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5

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BaND DREI

DER SCHRIFTSTELLER BEI DER aRBEIT

1

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6

7

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9

BaND VIER

DIE FaLSCHE ETaGE. ROMaN

EINE SONNENBRILLE FÜR MNEMOSYNE

ZWEI FLIEGEN MIT EINER KLaPPE

SCHWULITZER BLUES

DER GROSSE URINELLO

DIE MENSCHWERDUNG THOMaS WINKLERS

DER aLLGEGENWäRTIGE NäGELE

OH, WIE FERN IST DaGOBAH (MEDLEY)

DIE STaDT DEHNT SICH aUS

GROSSE GLOCKEN

MNEMOSYNE NIMMT DIE SONNENBRILLE AB

WOHLaN, ER SEI DEINER HaND ÜBERLaSSEN

DaS MaIGLÖCKCHEN-DILEMMa

VIERMaL HEINZ

DER KaNZLEIBEaMTE DES HERRGOTTS

DER REST DES aBENDS OHNE TON

BaHLOW MaCHT SICH EINEN SCHÖNEN LENZ

MaNCHEN GENÜGT DER MEIERHOF

GEORG DUCK WIRD SUPERBOMBE

WIE ICH DEM NaCHTKOCH EIN SCHNIPPCHEN SCHLUG

aCHIMS FICKE

GRECH

FLÜSSIGES GOLD

DIE EXISTENZ VON SPITZBERGEN

HEITERES ZWIESCHENSPIEL

DER GEBORENE METHODICUS

DER WEISS-HaaR-MaNN ZIEHT DIE aRSCHKaRTE

SIEBZIG ZEILEN MEHR!

IM KOHLENKEHLER

STRIGaLJOW MACHT SICH NOTITZEN

MEGaBUICK NON CRaWEL

SILVERBERGS MULTISPaNNEN-LOGIK

BUT aS I WaLKED DOWN VERE STREET

DaS ENDE DER SCHWaRZEN LISTE

MIT KaRaCHO IN DEN NäCHSTEN BaND

KaTZENSCHaTTEN IN PaRIS

POTPOURRI aUS DEM NOTITZBUCH

WaLG NaSTRaNZ QWaMBaT OG

DER UNENDLICHE ZaUBERTEPPICH

TOPLYRIKER IN TIERKOSTÜMEN

KIMMUNGEN

DIE NaCHRICHTEN- aUS-DER-WELT-DES-GEISTES-SHOW

DENN ER VERLOR SIE GERN

VON UNGLÜCKSKREISEN UND HÖLLENKATZEN

HERR PRESSER WIRFT DEN SPATEN

EWIGER SOMMER

WITZE, WITZE, WITZE

NaCHTSTÜCK MIT WaCHTMEISTER

IM ZEICHEN DER URNEN

aLTES HaUS, EIN SPIEL

WER HaT aN DER UHR GEDREHT?

NEMESIS FaHLMaNNIENSIS

LIEBESERKLäRUNG AN EINE ZIELSCHEIBE

DaS GLÜCK IN DER FREMDE

KINDERGEBURTSTaG IN HELL

EN OGFRG KRIIN

DaS aUSRICHTEN DER KaRTEN

LEIDEN EINES SEEHaSEN

LETZTE INSTRUKTIONEN

aBSCHIED

BaND FÜNF

DER WIND IN FaHLMaNNS UHR

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BaND EINS

1Mein Vater starb, als er sich nach einer Schachtel Zigaretten bückte. Genauer gesagt, bückte er sich nach einer zerknautschten Schachtel Gauloises ohne Filter, und da Heinz der einzige von uns war, der filterlose Gauloises rauchte, kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, wie er am Abend des Vortags den Helm aufgesetzt hatte, sich nach getaner Arbeit eine Zigarette anzündete, die Schachtel achtlos fallen ließ und auf seiner Vespa davon knatterte. Ich gebe ihm jedoch keine Schuld am Tod meines Vaters. Heinz hat eine leere Zigarettenschachtel weggeworfen – nichts weiter!

Mein Vater war ein Pedant: Scharfe Bügelfalten, korrekte Manieren, glatter, pomadisierter Scheitel, Rabattmarken, der Schnurrbart dicht über der nervös zuckenden Oberlippe gestutzt. Er war jemand, der aus heiterem Himmel beschließen konnte, die Gewürze alphabetisch zu ordnen. Ich erinnere mich gut an die erbitterten Diskussionen, die der Umsetzung dieses Plans vorausgingen. Vater plädierte nämlich dafür, Jodsalz unter J einzusortieren und Chilischoten unter C, was ich (ich war damals neun oder zehn Jahre alt) für ausgemachten Blödsinn hielt. Jodsalz müsse man unter S wie Salz einordnen, argumentierte ich schlüssig, und Chilischoten gehörten zu P wie Pfeffer.

«Nein, nein, nein!», sagte Vater leise und zupfte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackett.

«Oberbegriffe, Armin!», sagte Mutter und ließ das Buch sinken. «Es geht um Oberbegriffe. Der Junge hat vollkommen recht!»

Nach ihrer überraschenden Einmischung stand es 2 : 1 gegen Vater, doch er gab nicht auf. Er gab nie auf, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. «Nehmen wir mal an, ihr sucht das Jodsalz. Sucht ihr es dann unter S? Hieße das Jodsalz Sodsalz, müsste ich euch recht geben. Kein Problem. Aber Jodsalz heißt nun mal Jodsalz. Dafür kann ich nichts!» Sein Seufzer zollte den ungeheuren Leiden all derer Tribut, die sich in großherziger Selbstaufopferung bemühen, unsere unvollkommene Welt ein wenig vollkommener und übersichtlicher zu machen. «Wieso wollt ihr mich nicht verstehen? Wenn man Chilischoten sucht, sieht man dann bei den P-Gewürzen nach oder», seine Stimme wechselte die Tonlage und drang in listige Gefilde vor, «nicht etwa bei den C-Gewürzen?»

«Aber wir wissen doch, wo alles steht», warf ich ein.

«Nein, mein Junge», sagte Vater im Tonfall resignierten Tadels, den Blick auf die Spitzen seiner Lackschuhe gesenkt, «so leicht dürfen wir es uns nie machen.»

Vater hat es sich im Leben nie leicht gemacht. Bei Spaziergängen las er Bonbonpapierchen und Zigarettenkippen auf, und sah er irgendwo die Ankündigung einer Veranstaltung, die bereits stattgefunden hatte, riss er den Anschlag mit einem Ausdruck ungläubigen Zorns von der Plakatwand. Als er starb, war ich erwachsen und stand am Fenster meiner eigenen Küche, wo die Gewürze weder sortiert waren noch sich überhaupt auf einem Gewürzbord befanden. Ich hielt eine große Tasse Kaffee in der Hand, pustete hin und wieder auf die schwarz spiegelnde Oberfläche und war zu faul, mich mit Susanne zu unterhalten, die hinter mir mit der Zeitung raschelte. Ich sah hinab in den Hof. Genauer. Ich muss mich genauer erinnern, auch wenn es schwer fällt. Meine Konzentration ist heute nicht die beste. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, eine Etage und mehrere Jahre über den Jodsalz- und Chilischotendiskussionen meiner Kindheit. Meine Eltern bewohnten zwar noch immer das Erdgeschoss, aber ich war inzwischen mit meiner eigenen dreiköpfigen Familie, deren jüngstes Mitglied sich um diese Uhrzeit im Kindergarten aufhielt, in den ersten Stock gezogen, den Vater, bis ich – übrigens keine Spur reumütig – in mein Elternhaus zurückgekehrt war, an die Familie Bahlow vermietet hatte. Das klingt verwirrend. Mehr dazu später, wenn ich es nicht vergesse.

Am Küchenfenster bot sich mir die Aussicht auf die schmutzig-graue Ostwand des Gebäudes, das in einer Entfernung von gut zehn Metern den Hof begrenzte und die Einnahmequelle unserer Familie beherbergte. Das schwarze Schild mit den Goldlettern war allerdings nur von der Straße aus zu sehen: Es überspannte zwei Schaufensterscheiben, hinter denen schwere, bodenlange Vorhänge den Passanten die Sicht ins Gebäudeinnere verwehrten. Die halbherzige Dekoration (einige staubige Urnen, einige staubige Grablaternen) verwies auf die Art des Gewerbes, das hier ausgeübt wurde. Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann, stand auf dem Schild, und darunter: Erd-, Feuer- und Seebestattungen. Vater hatte das Unternehmen in den späten fünfziger Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder aufgebaut. Vater kümmerte sich um die Verwaltung, und Onkel Jörg, ein überzeugter Junggeselle, der nicht so zart besaitet war wie sein Bruder, fuhr den Leichenwagen, sargte ein und widmete sich dem kniffligen Handwerk des Präparierens. Bei all diesen Tätigkeiten ging ihm Heinz zur Hand, der ein noch weitaus vierschrötigeres Naturell als mein Onkel besaß.

Heute erscheint es mir mehr als nur merkwürdig, dass mein empfindlicher Vater auf die Idee gekommen war, Bestattungsunternehmer zu werden. Bei einem Sonntagsspaziergang hatte er sich einmal heftig (fast hätte ich geschrieben: orgiastisch) übergeben, weil er beinahe in einen feucht schillernden Haufen Hundescheiße getreten wäre. «Du bist nicht mal reingetreten!» Mutter konnte es kaum fassen. «Stell dich nicht so an! Wärst du reingetreten …» – «Bitte, Marianne, sei still! Hack nicht länger drauf rum!» Vater lockerte den Kragen, löste den Knoten der Krawatte und wischte sich Schweißperlen von der Oberlippe. «Du machst es nur noch schlimmer! Oh, ich darf gar nicht dran denken, sonst wird mir wieder schlecht.» Diese Begebenheit hat mich vermutlich so stark beeindruckt, weil sich hier das Vaterding in den tadellosen Anzügen, das als ständigen Vorwurf gute Manieren zur Schau stellte, kurzfristig in einen richtigen Menschen verwandelt hatte. Allein die Tatsache, dass sich mein Vater wie ein normaler Mensch übergab und wie alle übrigen Menschen einen – wenn auch übertriebenen – Ekel vor gewissen Dingen empfand, ließ damals in mir eine zarte Hoffnung keimen. Aber in aller Öffentlichkeit auf den Gehweg zu kotzen und seinen Sohn vor dem Zubettgehen in den Arm zu nehmen, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Doch ich schweife ab. Vom Fenster aus sah ich also nicht das der Straße zugewandte Ladenschild, sondern nur die auf den Hof hinausgehende Eingangstür des Beerdigungsinstituts, auf deren getöntem Riffelglas ein ehemals weißes Papprechteck die Geschäftszeiten verriet. Rechts neben der Tür starrte ein schwarz verhängtes Fenster ins Leere. An das Institut schloss sich das lang gestreckte Lager an, flaches Dach, getönte Scheiben, und daran fügte sich wiederum die den Hof im Norden begrenzende Garage wie der obere Balken eines F’s.

Unser eigenes Haus war demzufolge, um dieses Bild beizubehalten, ein Punkt, der das bauchbalkenlose, aus einem schmutzig-grauen Beerdigungsinstitut, einem geduckten Lager und einer breiten Garage bestehende F in eine Abkürzung verwandelte. F kürzte natürlich den Namen «Fahlmann» ab, und dass ich diese Beobachtung bereits als Kind gemacht habe, führe ich heute allein auf mein für Anfangsbuchstaben geschultes Auge der Gewürzbordphase zurück. Als mein Vater starb, stand ich also am Küchenfenster, pustete auf den Kaffee, der noch zu heiß war, um einen ersten Schluck zu wagen, und sah, wie Onkel Jörg das Büro verließ. Schwarz gekleidet und erstaunlich früh – er war wie ich ein Spätaufsteher – ging er zum Leichenwagen, der mit der Schnauze das geschlossene Garagentor beschnupperte. Onkel Jörg brüstete sich häufig damit, der einzige Bestattungsunternehmer der Stadt zu sein, der einen Ford Transit fuhr. «Der ideale Leichenwagen! Passen zwei Särge nebeneinander rein. Wir können die ganze Familie mitnehmen, wenn wir die Kinder zusammenklappen und zu den Eltern in die Särge packen», pflegte er zu scherzen, woraufhin Vaters Gesicht einen leichten Grünstich annahm. Für ihn war das Geschäft mit dem Tod eine ernste, aber, und darauf legte er größten Wert, keine wohltätige Sache. «Wir verdienen den Lebensunterhalt mit dem Ableben unserer Mitmenschen. Aber müssen wir deshalb unsere Dienste verschenken?» Vater ließ die Frage eine Weile im Raum schweben, ehe er sie selbst beantwortete, obwohl es inzwischen keinen gab, der die Antwort nicht auswendig wusste: «Nein und nochmals nein! So schlimm der Tod auch sein mag, so traurig für die Angehörigen, so furchtbar, so schrecklich», seine Stimme schwoll an, als wollte er ein Meer teilen, «so wenig haben wir das Recht, mildtätig zu sein. Und warum nicht? Weil wir im Gegensatz zu den Verstorbenen weiterleben müssen. Und zum Weiterleben braucht man Geld!»

Selbst durch das geschlossene Fenster hörte ich den Schotter unter Onkel Jörgs Schuhsohlen knirschen; hinter mir schenkte Susanne sich geräuschvoll Kaffee nach; unten sperrte Onkel Jörg die Fahrertür des Transits auf und stieg ein, wobei er wahrscheinlich herzzerreißend stöhnte. Tck, tck, der Schlüssel wurde im Zündschloss gedreht, tck-ahrrrm!, ein Rauchwölkchen kroch aus dem Auspuff, Onkel Jörg stieß aber nicht zurück, sondern begann im Wageninneren mit irgendwelchen Papieren und Schachteln zu hantieren. Und genau in diesem Augenblick kommt Vater um die Ecke des Hauses, das Haar so korrekt gescheitelt, dass ich von hier oben die weiße Linie Kopfhaut zwischen den dunkelbraun gefärbten Haarhälften sehen kann. Zielstrebig steuert er quer über den Hof auf die Bürotür zu, ein Mensch, der es eilig hat. Vaters Bewegungen wirkten immer eine Spur zu hektisch; nur wenn er etwas erklärte, mich tadelte oder seine geliebten Nachrichten schaute, wurde er ruhig. Plötzlich bleibt er kerzengerade stehen, bückt sich in einer schwungvollen, federnden Bewegung, und genau in diesem Moment, als er sich hinter dem Wagen bückt, nestelt Onkel Jörg mit der rechten Hand am Rückspiegel herum. Ich sehe von meinem schräg über dem Transit gelegenen Beobachtungsposten, wie Onkel Jörg sodann die Hand auf den Schaltknüppel sinken lässt und mit erhobenem Kopf in den neu justierten Rückspiegel blickt, der ihm, wie ich in alptraumhafter Gewissheit begreife, einen leeren Hof zeigt. Und in der Tat entschuldigte sich Onkel Jörg später: «Ich dachte wirklich, es wäre frei.» Ich stehe gelähmt am Fenster, mein Vater hat sich nach etwas gebückt, Onkel Jörg blickt in den Spiegel, und mit irrwitziger Geschwindigkeit stößt der Transit zurück.

Die Reifen schleudern Schotter in die Höhe, ein dumpfer Aufprall, und Vater rudert mit Armen und Beinen durch die Luft, als wollte er zum Mond schwimmen, der als bleiche Muschel am Morgenhimmel klebt. Onkel Jörg erstarrt hinterm Lenkrad, legt den ersten Gang rein, das Getriebe knirscht, erneut wird Gas gegeben, die Hinterreifen entfernen sich von Vaters verkrümmtem Körper, der Motor wird abgewürgt, Onkel Jörg schaut ausdruckslos in den Rückspiegel. Dann steigt er aus, schlägt die Fahrertür zu und verschwindet hinter den schwarzen Scheiben des Hecks.

«Mein Vater ist tot», sage ich tonlos zur Fensterscheibe.

Hinter mir lacht Susanne. Unten taumelt Onkel Jörg hinter dem Heck des Transits hervor, sieht die Gestalt am Boden. Seine Miene ist steinern. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Bisweilen fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Leise und eindringlich sage ich: «Das stimmt wirklich.» Hinter mir knistert es (Susanne legt die Zeitung beiseite), Stuhlbeine scharren über den Küchenfußboden (Susanne steht auf), unten beugt sich Onkel Jörg über seinen Bruder, greift dem schlaffen Körper unter die Achseln, zerrt ihn auf den Transit zu. Vaters Absätze ziehen Furchen in den Schotter.

«Was geht denn da ab?», flüstert Susanne neben mir.

Onkel Jörg sieht sich um. Sein Blick zuckt nach links, sein Blick zuckt nach rechts, sein Blick hebt sich, bleibt am Küchenfenster kleben.

«Ich weiß es nicht», sage ich, «aber jetzt hat er uns entdeckt.»

Wir sehen Onkel Jörg an und er sieht uns an, lange und ausdruckslos, ehe er den Körper meines Vaters behutsam auf den Boden sacken lässt. «Halt mal bitte!» Ich drücke Susanne die Tasse in die Hand, öffne das Fenster und rufe Onkel Jörg zu: «Ich komme zu dir runter.»

Gott sei dank, dachte ich auf dem Weg nach unten, ist Mutter in der Schule. Und: Gott sei dank ist Jens im Kindergarten. Mehr dachte ich nicht. Weder empfand ich Trauer noch ein Gefühl der Leere oder des Verlustes (das kam erst Jahre später und hatte andere Gründe) – und schon knirschten meine Sohlen auf dem Schotter des Hofs. Onkel Jörg lehnte am Leichenwagen, der schwarze Lack ließ ihn blass aussehen. Beim Näherkommen verzerrte sich meine Gestalt in der spiegelnden Heckklappe: Erst stauchte es mich zum Zwerg zusammen, um mich gleich darauf wieder auseinander zu ziehen. Ich sah Onkel Jörg fragend an; dieser bewegte den Kopf verneinend hin und her und wich dabei meinem Blick aus.

«Der Krankenwagen kommt gleich!», rief Susanne aus dem Küchenfenster. Der Putz unseres Hauses war, wie mir plötzlich auffiel, erheblich schmutziger als der des Beerdigungsinstituts. Außerdem (auch dies nahm ich mit einer Klarheit wahr, als sähe ich es zum ersten Mal) stand unser Haus eine Spur schiefer. Wegen einer Grubensenkung neigte es sich leicht zur Straße hin, als verbeugte es sich höflich vor den Passanten. Es wurde einem schwindlig, wenn man es zu lange anschaute. Ein sich mit den Jahren verbreiternder Riss, den Vater alle paar Monate neu verputzte, kroch aus dem geschotterten Boden über die Hauswand zum Kellerfenster empor, durchschnitt unsichtbar das Glas, und zuckte sodann eine große fensterlose Partie bis zu einem Punkt empor, den Susanne mühelos berühren könnte, hätte sie sich ein kleines Stück weiter aus dem Fenster gelehnt.

«Ich habe auch bei der Polizei angerufen», sagte sie.

«Polizei?» Onkel Jörg wirkte besorgt.

«Ein Unfall», sagte ich leise. «Sie müssen es zu Protokoll nehmen. Du hast ihn nicht sehen können.» Ich ging neben dem Körper in die Hocke und berührte zum ersten Mal seit Jahren meinen Vater. Die Haut am Hals sah aus wie das schlaffe Gummi einer Faschingsmaske. Die Halsschlagader pochte nicht mehr. Vaters Gesicht war glattrasiert, faltig, weich, ich musste an ein ungekochtes Hähnchen denken. Irgendjemand sollte ihm die Augen schließen. Ich konnte das nicht, stand auf und ließ die Augen weiter ins Leere starren. Im Linken drohte die schmale Sichel der Pupille unter dem unteren Lid davon zu tauchen; wie einen Teppich zog die Sonne den Schatten unseres Hauses behutsam ins Fundament zurück; und auf einmal lag Vaters Hinterkopf in der prallen Morgensonne. Das Licht glitt erst über seine vom Tod geglättete Stirn, dann über die maskenhaften Gesichtszüge. Zur Besinnung brachte mich ein wohlbekanntes Knattern von der Straße her, dem einige mechanische Huster folgten. Ich nahm die zerknautschte Zigarettenschachtel aus Vaters zur Kralle erstarrten Hand und steckte sie in die Hosentasche, bevor Heinz mit der Vespa in den Hof einbog; in meiner Nachttischschublade sollte diese Reliquie noch lange nach Tabak riechen.

«Ich hab ihn nicht gesehen», sagte Onkel Jörg.

Heinz löste den Kinnriemen und nahm den Helm ab.

«Er hat sich nach irgendwas gebückt», sagte ich heiser.

«Man sitzt in dem Ding so gottverdammt hoch», rechtfertigte sich Onkel Jörg und deutete überflüssigerweise auf den Transit. Eine Fliege setzte sich auf meinen Unterarm. Ich ließ sie sitzen. Ihre Füße kitzelten durch meine Haare. Mittlerweile war das Sonnenlicht von Vaters Kinn den Hals hinabgeschmolzen, und mit einer Faszination, für die ich mich heute schäme, registrierte ich, dass Vaters Hemdkragen für den Bruchteil weniger Sekunden die Grenzlinie von Licht und Schatten im Hof bildete. «So eine Scheiße aber auch!», sagte Heinz und steckte sich eine Gauloises an.

Am nächsten Tag lehnte ich wieder an der Leibung des Küchenfensters und sah in den Hof hinab, als wäre nichts geschehen. Susanne war diese Gewohnheit ein Dorn im Auge, aber ich sollte sie erst nach unserem Umzug aufgeben, und das nur notgedrungen, weil die neue Küche bloß durch ein winziges quadratisches Fenster erhellt wurde, dessen ohnehin viel zu schmale Fensterbank Susanne mit Topfpflanzen zustellte, ehe ich protestieren konnte. «Dann bekomme ich beim Frühstück endlich mal dein Gesicht zu sehen!», meinte sie, doch in der Art, wie sie es sagte, schwang das sichere Wissen mit, sich nie mit meiner Morgenlaune anfreunden zu können. Aber ich greife vor. In dem Sommer, von dem ich hier erzählen will, war Vater schon einige Jahre tot und ich schrieb an meinem ersten Roman. An Wochentagen stand ich mit Susanne und Jens, der inzwischen die zweite Klasse besuchte, auf und trank, sobald die beiden das Haus verlassen hatten, einen Kaffee nach dem anderen am Küchenfenster, bis ich mit der Arbeit beginnen konnte. Gegenüber schlich Onkel Jörg durch die Wohnung über dem Beerdigungsinstitut. Um diese Uhrzeit trug er gewöhnlich einen lila Frotteebademantel und bewegte sich durch sein Schlafzimmer, in das der Wind die Vorhänge des geöffneten Fensters blähte, wie ein Taucher mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Heinz war noch nicht da, denn die Vespa lehnte nicht an der Wand des Sarglagers, und Om war wohl wieder unterwegs, um in der fast hüfthohen Wiese hinterm Haus, die bald mal wieder gesenst werden müsste, seinen beneidenswert unkomplizierten und abenteuerlichen Geschäften nachzugehen.

Noch eine oder zwei Tassen, dann eine Zigarette, überlegte ich (im Gegensatz zu Heinz rauchte ich meist eine milde Marke), und dann müsste ich endlich nach oben gehen, um auf dem Dachboden weiter an meinem Roman zu basteln. Wenn ich heute zwei Seiten rausquäle, bin ich gut. Oder drei. Winkler behauptet, sieben Seiten am Tag schreiben zu können, aber das nehme ich ihm nicht ab. Ich ließ Kaffeepulver in die Filtertüte rieseln, ich brauche nicht mitzufahren, nahm meine Tasse von der Spüle, wo sie mehrere Tellertürme bewachte, denn heute ist ein guter Tag, schwenkte sie mit lauwarmem Wasser aus, summte vor mich hin, ein Schreibtag. Seit Vaters Tod fuhr ich montags und mittwochs im Leichenwagen mit, damit Onkel Jörg währenddessen den, wie er es nannte, Bürokram erledigen konnte. In Notfällen rief er mich mitunter nachts an, und war ich nicht zu Hause, probierte er es in Mollingers Eck, wo ich mich fast jeden zweiten Abend mit Achim traf. Dass man uns nachts anforderte, geschah jedoch höchst selten, denn fast neunzig Prozent unserer Klientel zogen es vor, im Krankenhaus zu sterben, und weil dort der Totenschein erst morgens ausgestellt wird, packt man die Toten nachts in die Kühlvitrinen, lässt die Ärzte weiterschlafen, und damit hat es sich. Onkel Jörg mochte es übrigens sehr, wenn ich ihn in angetrunkenem Zustand begleitete. Ich erinnere mich gut an dieses eine Mal, als er mich in Mollingers Eck abholte, um «rasch einen einzusargen» …

Nach dem siebten Klingeln öffnete die erwachsene, verschlafen aussehende Tochter des Hauses. «Örps!», machte es hinter ihr. «Kommen Sie rein!», sagte die Frau, und wir betraten einen Flur, wo sich ein zerzauster Beo auf seiner Stange freute und rülpsende Geräusche von sich gab. Durch einen Türspalt sah ich eine ältere Dame mit wirrem Haar, vermutlich die Gattin des Verstorbenen, auf dem Ehebett sitzen. Jedes Mal, wenn der Beo rülpste, riss sie die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. Der Vogel hüpfte zum rechten Rand der Stange, sah die Männer mit dem Sarg nachdenklich an, legte den Kopf schief und erklärte Onkel Jörg: «Örps!» Der holte Luft und wollte gerade etwas erwidern, da fragte ich routiniert (und nach sieben Bieren noch bewundernswert beherrscht): «Wo befindet sich der Verstorbene?» Die Tochter führte uns ins Wohnzimmer, gehäkeltes Deckchen auf dem Fernseher, Nussbaumbücherregale ohne Bücher, Bilder von Waldtieren und Seen, ein nacktes, unangenehm behaartes Bein, das unter einem Plaid mit bunten Rauten hervorlugte. «Brauchen Sie mich noch hier?» – «Nein, danke! Das kriegen wir alleine hin.» Wir setzten den Sarg ab, Onkel Jörg zog die Decke vom Leichnam, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf einen Sessel. Der Tote war höchstens sechzig, hatte ein versoffenes Gesicht und eine dicke aufgequollene Nase. Schmutzig weißes, ehemals wohl blondes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Wie die meisten Toten sah er erstaunt aus. Und auf einmal legte der Beo im Flur los und gab mit heiserer, vulgärer Stimme eine Sottise nach der anderen zum Besten, und ich sah in verblüffender Klarheit den Verstorbenen vor mir, dem wir gerade das Leichenhemd anlegten, sah ihn vor der Stange im Flur stehen und seinem Beo das Sprechen beibringen: «Ich bin der Felix. Hallo! Hallo! Wie gehts dir? Ich bin der Felix! Ich hab Hunger! Fe-lix! Fe-lix! Ich bin der Fe-lix!» Bei jedem Krächzen des Vogels ertönte aus dem Schlafzimmer ein Schluchzen, und als der Beo in der weinerlichen Cholerik eines Betrunkenen «Wo sind denn die Scheißschlappen?» keifte, verlor ich die Beherrschung.

Onkel Jörg zwinkerte mir zu, sagte: «Der Vogel, der Vogel …», und wir mussten uns aufs Sofa setzen. «Gibt es Probleme?» Die Tochter des Toten erschien in der Tür, ein Postsparbuch in der Hand. «Nein», würgte Onkel Jörg und erhob sich ächzend. «Alles ist in bester Ordnung.» Doch kurz darauf ging es die fürchterlich steile, eng gewundene Treppe hinab, die zu allem Überfluss noch ein unnötig hohes Geländer hatte. Drittes Stockwerk, der Beo keifte, die Tochter war uns in den Füßen, und ich arbeitete ohnehin lieber mit Heinz zusammen, der in etwa meine Größe hatte. Musste ich mit Onkel Jörg, er war klein und dick, einen Sarg tragen, spürte ich es noch am nächsten Tag im Kreuz. «Du solltest den Sarg anheben!», schlug ich vor. «Ja», sagte Onkel Jörg, tat es aber nicht, ich strauchelte, und Zack! schrammte der Sarg an der Wand entlang, Kratzer in der Tapete. Geduldig: «Du musst versuchen, den Sarg noch ein Stückchen anzuheben!» – «Nein», widersprach Onkel Jörg, dessen Augen vor Anstrengung aus den Höhlen traten. «Wenn ich in die Knie gehe, kannst du …» – «Nein, ich gehe in die Knie, und du hebst den Sarg an.» – «Gut», sagte er, machte jedoch keine Anstalten, den Sarg anzuheben. «Vorsicht!», warnte ich vergeblich. «Hoch! Anheben! Langsam!» Zack! wieder die Wand, und Bomm! setzte Onkel Jörg den Sarg ohne Ankündigung auf dem Treppenabsatz ab, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, hatte danach aber keine Geduld, sich mit mir über unser weiteres Vorgehen zu beraten, sondern hob den Sarg so plötzlich an, dass ich einen Schritt treppauf machen musste, um mein Rückgrat zu retten. «Sag: ‹Hallo!›», rief oben der Beo mit der versoffenen Stimme des Verstorbenen. «Scheißvogel! Sag endlich was! Sag: ‹Hallo!›, du Idiot!» – «Hallo!», sagte ich. – «Örps!», kam es von oben. – «Ich drehe mich um», verkündete Onkel Jörg, «dann kann ich besser greifen.» Ungeschickt wie ein Käfer begann er, sich im Treppenhaus umzudrehen. «Ich bin der Felix Örps!», rief es oben. Dem «Örps!» folgte das obligatorische Geschluchze aus dem Schlafzimmer. Die sterbliche Hülle Ihres Mannes nehmen wir mit, aber seine Stimme lassen wir Ihnen noch ein Weilchen da. Ich lachte immer noch, als ich versuchte, zu Susanne ins Bett zu kriechen, ohne sie aufzuwecken. «Was ist denn los?», fragte sie. «Der Örps ist los!», sagte ich. Sie fixierte mich schlaftrunken, und ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und verkündete mit Grabesstimme, dass in dieser Nacht der Örps gestorben sei.

Solche Nachtfahrten mit Onkel Jörg waren glücklicherweise eine Seltenheit. Das ersparte mir zum einen Kreuzschmerzen, außerdem blieb mein Freund Achim ungern allein in Mollingers Eck sitzen. Montags und mittwochs fuhr ich, wie bereits erwähnt, mit Heinz den Leichenwagen. Er arbeitete länger im Beerdigungsinstitut, als ich mich erinnern konnte, und trug nun Jens auf den Schultern im Hof umher, wie er früher mich getragen hatte. Heinz war früher Gewichtheber gewesen und hatte sogar, was mir schon als Kind imponierte, bei einigen Provinz-Meisterschaften im Kraftdreikampf (Kreuzheben, Bankdrücken, Kniebeugen) Medaillen errungen, doch seit etwa einem Jahrzehnt ließ er die Hanteln ruhen und die Muskeln verfetten, was seiner Stärke jedoch nur unwesentlich Abbruch tat. Es ist schwer, sich das Aussehen von Menschen zu vergegenwärtigen, die man lange Zeit fast täglich sah. Heinz hatte kurzes drahtiges Haar, das er mit dem Bartschneider trimmte, schwarzes Haar mit vereinzelten grauen Strähnen. Er vertrug mindestens zehnmal so viel Bier wie ein Normalsterblicher, wirkte immer unrasiert, und eine deutlich konturierte tiefe Mulde zwischen Nase und Oberlippe ließ ihn im Zusammenspiel mit den dichten Brauen nicht gerade clever aussehen.

Heinz dürfte damals einundfünfzig oder zweiundfünfzig gewesen sein, benahm sich aber nicht, wie man es von einem Mann im gesetzten Alter erwartet. Es war ein Riesenspaß, mit ihm den Leichenwagen zu fahren, ein entlastender Ausgleich zu jeglicher intellektueller Tätigkeit, ein Ausgleich, den ich in diesem Sommer bitter nötig hatte. Stets eine Filterlose im Mundwinkel kurbelte er das Fenster runter, wenn wir an Ampeln hielten, und schlug älteren Damen im öligen Tonfall eines Jahrmarkt-Anreißers eine Spritztour um den Block vor. Manchmal brüllte er auch Sachen wie: «Ich komm dich holen!» und griff mit behaarter Pranke nach einem Fußgänger, doch zu solchen Entgleisungen kam es erst, wenn die zahllosen Abstecher ihre Wirkung zeigten, die uns zu Kiosken mit Namen wie Bierhalle oder Sonjas Hähnchen Grill geführt hatten oder zu diesen in Getränkehandlungen mit Stehausschank umfunktionierten Garagen, wo Heinz jeden mit Vornamen anredete. Nach einem Tag mit mehreren dieser «Päuschen» konnte es vorkommen, dass er Susanne fröhliche Obszönitäten zurief, was diese mit schiefem Grinsen quittierte; dennoch mochte sie Heinz, er hatte (es ist mir peinlich, es hinzuschreiben, aber ich tue es trotzdem) ein großes Herz, und – was ich besonders an ihm schätzte – einen zwar derben, aber nie verletzenden Humor.

128,42 zł
Ograniczenie wiekowe:
0+
Data wydania na Litres:
25 maja 2021
Objętość:
1441 str. 2 ilustracje
ISBN:
9783954620906
Właściciel praw:
Автор
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