Czytaj książkę: «Hans im Glück oder Die Reise in den Westen»

Czcionka:

Christoph Kleemann

Hans im Glück

oder

Die Reise in den Westen

Roman

mitteldeutscher verlag

2015

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95462-510-9

Die Figuren dieses Romans sind erfunden. Sollten sich Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ergeben, dann weil auch unsere Erfindungen dem Leben entstammen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

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Wie normal das heute ist. Man kauft ein Ticket, steigt in einen Zug und fährt, wohin man will. Vierzig Jahre lang haben wir davon geträumt.

Georg saß im Großraumwagen eines ICE, seine Tasche, zu hoch für das Gepäckfach über ihm, lag neben seinem Sitz auf dem Boden. Der Zug fuhr geräuschlos an, brachte das Gleislabyrinth des Bahnhofsgeländes aus Kreuzungen und Weichen schaukelnd und ruckend hinter sich und fand seine Strecke. Ruhig glitt er dahin, mit steigender Geschwindigkeit. Georg kippte die Rückenlehne nach hinten und schaute zum Fenster hinaus. Die letzten Vorortsiedlungen verloren sich am Horizont. Abgeerntete blassgelbe Felder und mattgrüne Weiden, von dunklen Waldfetzen durchbrochen, wie das scheckige Fell einer Hyäne. Rehe blickten auf und fraßen angstlos weiter. Schwärme von Möwen schneiten auf umgebrochene Äcker nieder. Masten flogen vorbei, an durchhängenden Kabeln aufgereiht. In regelmäßigen Abständen senkten sie sich ins Bild und hoben sich wieder an seinen Rand. Ein Kirchturm, von dunklen Dächern umstellt, stach wie ein Bleistift in den stumpfen, grauen Herbsthimmel. Es war Mittwoch, der 17. Oktober, und es war der achtzehnte Herbst seit dem beherzten Aufbruch, der jetzt friedliche Revolution hieß und den so viele nur noch Wende nannten.

Er wusste nicht mehr, was für ein Herbst jener Herbst 89 gewesen war, wie stürmisch oder still, wie kalt oder mild. Er erinnerte sich an kein leuchtendes Laub an den Bäumen, keinen blutroten Abendhimmel, kein tosendes, aufgewühltes Meer. Als Naturereignis schien dieser bedeutsame Herbst ausgefallen zu sein. Geblieben waren Erinnerungen an eine stürmische Zeit, an aufgewühlte Menschen mit leuchtenden Gesichtern, an verdächtige Stille um das nächtliche Hauptquartier und tosende Menschenaufläufe auf dem Weg dahin. Er sah das blutrote Gesicht des Stasi-Offiziers vor sich, der – flankiert von zwei bewaffneten Männern des Wachregiments – die Demonstranten durch ein Megafon aufforderte, den Platz zu verlassen und nach Hause zu gehen, andernfalls … Was andernfalls? Das Weitere ging unter im Gelächter der Tausenden, die soeben ihre Angst verloren vor Drohungen, zornigen Gesichtern und mausgrauen Uniformen. So war es beim ersten Mal. Eine Woche später traute sich kein Offizier mehr vor das Tor. Die Angst hatte die Besitzer gewechselt.

Wovor hatten sie Angst, die Männer da drinnen, hinter den vergitterten Fenstern? Vor den singenden, skandierenden, klatschenden Menschen, von denen keiner eine Waffe trug oder Steine auflas, wie bei manchen Demonstrationen in der neuen Zeit? Oder vor den eigenen Befehlsgebern, derer man sich inzwischen nicht mehr sicher sein konnte? Oder vor dem Wissen um Rechtsbeugung und Gesinnungsterror, vor dem eigenen Gewissen? Nein, das kaum. Das Gewissen kam in ihrem Wortschatz vermutlich gar nicht vor.

Georg war noch ein Kind, da beeindruckte er seine Hamburger Tante Susanne, als er erklärte, er möge den Herbst von allen Jahreszeiten am liebsten. Wie er denn darauf komme, wollte sie wissen, wo doch alle Kinder den Frühling liebten. Der Herbst habe die schöneren Farben, erklärte er, der Frühling sei ihm zu grell, das Grün steche in die Augen, die Frühlingsfarben seien ihm zu knallig. Außerdem liebe er es, wenn draußen alles langsam zur Ruhe komme. Das waren die Worte, mit denen ihm seine Mutter ihre besondere Vorliebe für den Herbst beschrieben hatte. Er plapperte sie nach, ohne deren Sinn verstanden zu haben, mit dem Erfolg, in den Augen seiner Tante Suse als besonders frühreif zu gelten. Schamhaft erinnerte er sich jener altklugen Attitüde, als er, in die Jahre gekommen, die Reize des Herbstes nun wirklich für sich zu entdecken begann. Das dunkle Gelb der Rudbeckien, die schweren Karmin-, Rubin- und Violetttöne der Astern, die leuchtenden Blätter des Amber, der sich stets als Erster zu verkleiden begann, die lodernden Flammen des Wilden Weins, der von Jahr zu Jahr das Haus fester umschloss. Dann kamen die Elstern, paarweise, schritten und hüpften mit wippenden Schwanzfedern das Revier ab, als müssten sie es vor dem hereinbrechenden Winter ein letztes Mal inspizieren und prüfen, ob ihre winterflüchtigen Geschwister den Garten geordnet hinterlassen hätten. Setzten die ersten Stürme ein, begann die von freundlichen Ritualen begleitete Hausinnenzeit.

Wochenends genoss er die blauen Stunden, die immer früher einsetzende Dämmerzeit, lag schon am Nachmittag im Sessel, schlürfte würzigen Tee und las oder schaute hinaus zu den Birken, die sich im Wind wanden und mit ihren wedelnden Zweigen das Gartenhaus peitschten.

In der Zeit, in der er vor Sonnenaufgang das Haus verlassen musste – Ariane konnte eine Stunde länger schlafen – und, manchmal lange nach ihr, im Dunkeln heimkehrte, roch es im Haus nach Paraffin. Überall standen Kerzen, schon Wochen vor Advent. Selbst wenn Georg bis weit in die Nacht im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe schrieb und las, teilte er den knappen Sauerstoff seines kleinen Arbeitszimmers mit dem letzten Stumpen einer Altarkerze, dessen flüssiges Wachs manchmal über den Rand des gläsernen Untersetzers lief und eine bleiche Spur in die rohe Holzplatte fraß.

Georg liebte diese Zeit, in der sich alles nach innen wandte, in der Natur da draußen wie auch in der eigenen Gedankenwelt. Die Zeit der stillen Stunden, die Zeit auch, in der Georg manchmal Worte fand für scheinbar Unaussprechliches und Bilder sah, die noch gemalt werden wollten.

Schließt er die Augen, kann er noch das Fauchen in den Schornsteinen hören, damals zu Hause, das durch die geschlossenen Türen der Kachelöfen dringt. Wenn das Brausen des Windes einsetzt, liegt auch schon all das schöne Laub wild zusammengefegt zwischen den Hecken, die den Garten von drei Seiten umgeben. An einem windstillen Nachmittag muss die letzte Gartenarbeit getan werden. Seine Schwester und er bekommen Laubrechen in die Hand, um die Blätter unter den Büschen wieder hervorzuholen und mitten auf der Wiese zu Haufen aufzutürmen, von wo sie der Vater mit einem dreirädrigen Karren in die hinterste Gartenecke fährt. Dort hat er einen Komposthaufen angelegt, der nun unter Laub begraben und mit einer Plane abgedeckt wird.

Die blauen Stunden bis zum ersten Schnee hocken Georg und seine Schwester oft eng an die Mutter gelehnt auf ihren kleinen Fußbänken und lassen sich in eine Welt entführen, in der es Zwerge und Feen, Riesen und Räuber, Drachen und Wölfe und vor allem Bauernjungen und Prinzessinnen oder Prinzen und Bauerntöchter gibt und in der sich ihre Mutter so gut auskennt, dass sie nie ein Buch braucht, um davon zu erzählen.

Der Herbst ist zu Ende, sobald der erste Schnee den Garten mit seinen Bäumen und Büschen und Gräsern zu verzaubern anfängt und den Zaunlatten kleine weiße Hüte aufsetzt. Dann verbringen die Kinder die Nachmittage im Freien, oft am nahe gelegenen Galgenberg, der hoch genug ist, dass man in Ketten rodeln kann. Einmal gerät eine Kette von vier aneinandergeknüpften Schlitten so ins Schleudern, dass die Schlitten kippen und sich überschlagen, während die Kinder lachend und schreiend durcheinanderpurzeln. Ein Junge aus der Nachbarschaft aber prallt gegen eine Platane, wo er hart aufschlägt, zwei Zähne verliert und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden muss. Von da ab gilt Schlittenverbot am Galgenberg, zumindest für Georg und seine Schwester.

Alle anderen kindlichen Wintererinnerungen schienen wie von einem schwarzen Loch aufgesogen. Die Herbstbilder vermochte er jederzeit abzurufen, so lebendig waren sie in ihm abgespeichert.

Eine Woche seines Jahresurlaubs blockierte Georg für den Herbst, und er nahm sie für sich allein in Anspruch. Manchmal suchte er eine Unterkunft im Elbsandsteingebirge oder im Vogtland, neuerdings auch mal in der Lüneburger Heide oder im Sauerland. Diesmal verbrachte er die letzte Septemberwoche im sächsischen Dreiländereck. Das Haus, eine ehemalige kirchliche Ausbildungsstätte, befand sich im oberen Teil eines Dorfes an der Grenze zu Tschechien.

Hier hatte er schon einmal zwei Urlaubswochen verbracht. Das war im Sommer 1968. Er kann sich genau erinnern.

Mit seinem klapprigen Motorroller knattert er sechsmal in vierzehn Tagen bis nach Prag und besucht tschechische Freunde, um mit ihnen die neue Freiheit zu feiern, die unter Dubček ins sozialistische Nachbarland eingezogen ist. Schon in der Kneipe hinter der Grenze, wo Georg haltmacht, um sich ein erstes Pilsener Urquell zu gönnen, vermag er das Andere zu spüren. Man diskutiert laut und euphorisch über die neue Lage, ohne die Geheimpolizei zu fürchten. Ein alter Mann am Tresen übersetzt für Georg jeden Satz. Ihr werdet auch bald frei sein, meint einer, euer Ulbricht ist doch überfällig. Man prostet sich zu: Vivat Dubček! Vivat Svoboda! und Nieder mit Ulbricht! Nieder mit Breshnew! Russen auf den Mond! In Prag kommt sich Georg wie im Westen vor. Die Stadt legt ihr Grau ab, kleidet sich bunt und hell. Das Schwerlastige und Verkniffene, das ihn bei früheren Besuchen so an die DDR erinnert hat, ist verschwunden. Ihm scheint, er begegne einer neuen Gattung Mensch, offen, zuversichtlich und selbstbewusst. Dann aber, eines Morgens, Georg liegt noch im Bett, schießen Düsenmaschinen über den Kamm in Richtung Tschechoslowakei. Dieser Mittwoch wird sich in sein Gedächtnis tief einbrennen. Mittwoch, der 21. August. Voller unguter Ahnungen springt er aus den Federn und läuft zum Fenster. Unten sammeln sich, schreiend und heftig gestikulierend, die Dorfbewohner. Eine Frau mit Tränen in den Augen erzählt ihm, schon am späten Abend des Vortages sei eine endlose Kette von Panzern der sogenannten Bruderländer dröhnend und kreischend durch das Unterdorf gestoben, habe das Grenztor niedergewalzt und Kurs auf Prag genommen. Ratlosigkeit, Wut und Verzweiflung zeichnen die Gesichter. Ein paar Tschechen aus den benachbarten Grenzdörfern kommen hinzu. Mit zornigem Blick fragen sie: Warum macht ihr alles kaputt?Wir wollen das doch auch nicht, sagen die Einheimischen. Das sind doch immer die da oben. Einer bemerkt: Ihr Tschechen habt die Russen doch selber gerufen. Er muss zusehen, dass er unbeschadet nach Hause kommt. Der Bürgermeister lässt sich zwei Tage verleugnen und zeigt sich erst wieder, als die offizielle Lesart der Geschehnisse aus Berlin vorliegt. Aus der Traum, denkt Georg. Aus die Hoffnung, sein Land könne sich von dieser Variante des Sozialismus doch noch anstecken lassen!

Jahre später, der Sozialismus sowjetischer Prägung gibt sich erinnerungsresistent gegenüber allen gescheiterten Ausbruchsversuchen, besucht Georg einen kranken Freund im trostlos grauen Zittau. Am Nachmittag streift er noch einmal durch den leuchtenden Lausitzer Herbstwald, sammelt Maronen und Perlpilze, gerät auch mal versehentlich auf die tschechische Seite und findet unbemerkt zurück. Er genießt die tiefe Stille der fast unberührten Natur, wie sie nur noch in den Sperrgebieten und grenznahen Zonen zu finden ist. Nur ein Fuchs kreuzt seinen Weg. Von einer Erhebung schaut er nach Böhmen hinüber und meint, ein Bild Caspar David Friedrichs wiederzuerkennen.

Wo Georg auch immer seine herbstliche Urlaubswoche zubringt, am Abend sitzt er bei Kerzenschein in seinem Quartier und schreibt, wenn er nicht liest, in sein Tagebuch. Weniger die bescheidenen Tagesereignisse scheinen ihm wert, festgehalten zu werden, als vielmehr das, was sich von einem Herbst zum anderen ereignet hat. Er berichtet von seinen Reisen, unter denen schon lange keine Westreise mehr zu verzeichnen ist. Er erzählt von Besuchen, die ihn berührt haben, Besuchen auch aus dem anderen Deutschland. Er schreibt von literarischer Bückware, Büchern, die unter dem Ladentisch verkauft werden und die als Geheimtipp gelten, weil sie verschlüsselte Systemkritik enthalten. Manche der Autoren hat er lesen gehört. Eine, die dem Schriftstellerverband den Rücken gekehrt hat, lädt er in seine Gemeinde ein. So viele fremde Gesichter habe es in seiner Kirche nur Heiligabend gegeben, schreibt er in sein Tagebuch. Bewegende Theaterbesuche und Konzerte erwähnt er wie Naturereignisse und meteorologische Besonderheiten. Aber auch kleine, ganz persönliche Begebenheiten notiert er akribisch und unverdrossen in eines seiner unzähligen Oktavheftchen, die er jeweils mit einer Jahreszahl versieht. Manchmal mischen sich schwermütige Bilder aus elenden grauen November- und Dezemberwochen dazwischen.

Später, als es ihn in den Norden verschlägt, setzt er seine Gewohnheit fort und sucht sich für seine Herbstwoche Unterkünfte auf dem Darß, auf Rügen oder Usedom.

Einmal gelingt es ihm, eine Herbstwoche auf Hiddensee zuzubringen, in der Zeit, als die Insel bereits in das Verteidigungskonzept der DDR einbezogen ist.

Auch da trägt er sein kleines Heft bei sich und notiert Stichworte, die er abends im Krug bei einer Flasche Gamza in Sätze fasst.

An einem dieser Abende stehen zwei Männer hinter ihm und wollen wissen, was er da mache. Sie tragen keine Schlapphüte und keine Ledermäntel. Georg hält sie für neugierige Kneipengäste. Er schaut kurz auf und sagt: Ich schreibe.

Das sehen wir auch, sagt der eine und zückt einen Ausweis, zu knapp, als dass Georg erkennen kann, mit wem genau er es zu tun hat. Aber er versteht.

Kommen Sie mit, sagt der andere und führt Georg in einen kleinen Nebenraum. Dort nimmt er ihm sein Heft ab und beginnt darin zu blättern und zu lesen. Er winkt seinen Kollegen herbei und zeigt ihm etwas. Beide zwinkern sich zu und lachen. Dann machen sie wieder ein ernstes Gesicht und belehren ihn knapp und förmlich, er befinde sich im Grenzgebiet und solle sich strikt an die geltende Ordnung halten. Dazu gehöre auch, keinerlei Notizen über militärische Bewegungen oder Standorte auf der Insel zu machen und nach Einbruch der Dunkelheit den Strandbereich zu meiden. Man reicht ihm sein Heft zurück und wünscht ihm ansonsten noch einen angenehmen Abend.

Doch die Leichtigkeit des Abends kehrt nicht mehr zurück, auch an den folgenden Tagen nicht. Georgs Gedanken sind wie blockiert. Bemerkungen zur allgemeinen politischen Lage fanden bisher zwar selten Eingang in seine Tagebücher. Jetzt aber bekommt diese mehr zufällige Unterlassung Vorsatzcharakter, wird zu einer Art Eigenzensur und nimmt damit seinen Notizen ein Stück Authentizität.

Aber seine jährliche Herbstwoche bleibt ihm heilig. Sowohl Sabine als später auch Ariane tolerieren diesen Alleingang, wissen sie sich doch so für eine Woche seiner zwanghaften Ordnungsliebe enthoben, die nicht selten das häusliche Klima in eine mittlere Krise treibt.

Die Liaison mit Katharina allerdings hätte diese eine Herbstwoche beinahe nicht überstanden. Denn Katharina droht, sollte er allein losfahren, sich nie wieder blicken zu lassen. Dann aber findet er sie, als er zurückkehrt, in seiner Wohnung vor, aufgeräumter als diese selber und zärtlicher denn je.

Einmal vergisst Georg seine herbstliche Auszeit. Das ist 1989. In diesem Herbst ist alles anders.

Georg steht am Ausgang und befindet sich unter den Ersten, die hinaus ins Dunkel treten. Er sieht heitere Menschen, von Kerzen angestrahlt, die nach ihm aus dem Portal der Markuskirche quellen, Menschen, die sich verschwörerische Blicke zuwerfen, viele bekannte Gesichter darunter, aber auch neue. Fremde möchte er nicht sagen. Wer jetzt mitgeht, ist nicht mehr fremd.

Georg, hört er eine Stimme, hast du mal Streichhölzer?

Damit der Wind die ungeschützten Lichter nicht ausbläst, hat Georg, wie viele andere, seinem Licht eine Papiermanschette verpasst. Noch leuchtet seines.

Nein, sagt er, hab ich nicht. Aber du kannst dein Licht an meiner Kerze anzünden.

Ich wollt eine rauchen, sagt der junge Mann neben ihm.

Jetzt, wo es losgeht, fragt Georg.

Genau, sagt er, jetzt, weil es losgeht. Ich mag aber meinen Stummel nicht in eine Kerze halten.

Eine befreiende Anspannung liegt über der ersten Demonstration in seiner Stadt.

Sein Blick streift die dunkelblauen Anoraks mit dem roten Futter, die sich schon am Nachmittag in Zweier- und Dreiergruppen völlig unauffällig um die Kirche herum postiert haben, so zivil wie irgend möglich und darin wieder uniform.

Müsste man sich die Gestalten merken, die man in sie gesteckt hat? Wozu?

Aber das Gefühl an diesem ersten Mittwoch muss uns erhalten bleiben, darf niemals ganz verloren gehen, denkt er. Wer weiß, wofür wir es noch brauchen.

Jetzt fuhr Georg in den Westen.

Für ihn war es noch immer eine Westreise, obgleich sich die Spuren des DDR-Grenzregimes inzwischen verloren hatten. Wenn er am Schalter eine Fahrkarte in die alten Bundesländer löste, nannte er den Ort und fügte hinzu: im Westen. Meistens lächelte dann sein Gegenüber.

Manchmal aber trafen ihn auch böse Blicke. Und jedes Mal, wenn er sich der einstigen Grenze durch Deutschland näherte, kroch aus einer nicht lokalisierbaren Tiefe diese alte Angst in ihm empor, die ihm den Hals zuschnürte und ihn Glauben machte, gleich würde die Tür aufgerissen, zwei Uniformierte forderten seinen Pass und stellten unangenehme Fragen, und er brächte keinen ordentlichen Satz mehr heraus.

In den Neunzigerjahren war er oft mit dem Dienstwagen unterwegs. Dann stierte er schon lange vor der ehemaligen Grenze aus den Fenstern und bat den Fahrer, das Tempo zu drosseln. Er wollte sich vergewissern, dass die Grenze wirklich verschwunden ist. Dann aber wollte er auch wieder etwas entdecken, was an sie erinnerte.

Zwei Jahre ist es her, dass er das letzte Mal mit dem Zug in den Westen gefahren ist. Auch diesmal wieder möchte er den einstigen Grenzbahnhof nicht verpassen.

Seine Gedanken verharren im Herbst 89.

Als die erste Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz auftaucht, erschrickt er. Es kommt ihm wie Verrat vor. Eben waren wir uns noch einig: Wir sind das Volk, wir werden es euch zeigen, wir haben keine Angst mehr, wir bauen uns unsere Demokratie selber, wir jagen euch zum Teufel mit euern Wanzen und mit euern Panzern. Manche wollen sie in einen Zug sperren, der erst in Moskau wieder hält. Dann sind sie in ihrem Paradies. Wir brauchen nur eine Wirklichkeit, in der sich gerne leben lässt. Sein Bild vom Westen ist nicht vom Westbild beeinflusst. Wenn er gefragt wird, was hast du für ein Westbild, muss er antworten: Wir haben kein Fernsehen. Ich höre Radio. Das reicht mir. Er kennt weder Traumschiff noch Schwarzwaldklinik noch Denver Clan. Aber auch Aktuelle Kamera und Schwarzer Kanal sind ihm fremd.

In Westberlin lebt Tante Veronika, die Schwester seiner Mutter. Sie versorgt die Familie mit Kaffee und Literatur. Als Patentante – mit Bedacht für beide Geschwister erwählt – erfüllt sie kleinere, später auch größere Kinderwünsche und ist Ziel und Ausgangspunkt für alle Westreisen der Familie, vor der Mauer natürlich. Wenn sie zu Besuch kommt, schmuggelt sie gern einen SPIEGEL unter ihrer Diakonissentracht über die Grenze. Vitaminkapseln und Herzpräparate für den Vater mischt sie unter die Zuckereier im Osterpäckchen. Und über die Korrespondenz, die die Schwestern mit nahezu täglichen Eilbriefen hin und her pflegen, hält sie die Familie über die Tagespolitik auf dem Laufenden. Sein Vater nennt sie: Schwester für Politik und Zeitgeschichte.

Der Brandt wird einmal Kanzler werden, schreibt sie. Der Adenauer hat zwar mit den Franzosen Frieden geschlossen und die letzten Gefangenen aus Russland zurückgeholt. Aber er hat Angst vor den Russen. Angst ist kein guter Ratgeber. Der Brandt kennt das Leben in der geteilten Stadt und weiß, wie man mit den Russen umgeht. Der wächst in Bonn, glaub mir. Außerdem respektieren ihn die Ehrlichen unter den Kommunisten, weil er in Norwegen im Widerstand war …

Der Heinemann hat neulich gesagt, wir müssen endlich aufhören, immerfort auf Wachstum zu setzen. Irgendwann kippt unser Wohlstand um. Stattdessen sollten wir Reserven schaffen, damit der Sozialstaat noch hält, wenn sich die Dritte Welt emanzipiert. Wenn das man nicht schon zu spät ist! …

Ob euer Ulbricht noch lange zugucken wird, wie die Kirche in der Zone von der Westkirche unterstützt wird? Diese Atheisten warten doch nur auf eine Gelegenheit, der Kirche den Garaus zu machen.

Im Übrigen, wenn die Alliierten nicht in West-Berlin säßen, die würden nicht davor zurückschrecken, auch noch durch Berlin eine richtige Grenze zu ziehen

Als Kind darf er manchmal, wenn sein Vater in Berlin zu tun hat, mitfahren, im Dienstauto, einem Mercedes 170 S. Der steht heute in einem sächsischen Verkehrsmuseum. Herr Friebel, fahr mal hundertzwanzig, drängelt er dann. Und Herr Friebel gibt Gas und saust an den anderen Autos vorbei. (Wenn seine Mutter mitreist, ruft sie gleich: Nicht so schnell, Herr Friebel, da wird einem ja ganz schlecht. Außerdem wollen wir doch heil ankommen.) Ihn bringt der Vater zu Tante Vero, während er seinen Amtsgeschäften nachgeht. Wenn er abends bei Tante Veronika eintrifft, ist Georg meistens schlecht, so viel Schokolade und Marzipan hat er gegessen. Jede Schwester in Tante Veronikas Krankenhaus will dem Neffen aus dem Osten etwas Gutes tun. Meist ist es zu viel des Guten.

Apropos Schokolade. Er zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf und angelte nach der Schokoladentafel, die er sich eingesteckt hatte. Heute nur noch schwarz und bitter, von 75 Prozent aufwärts. Ein Stück, mehr nicht. Dafür waren die Stücken jetzt viermal so groß.

Langsam ließ er den Leckerbissen auf seiner Zunge schmelzen. Draußen fegte eben ein Kleinstadtbahnhof vorüber, zu schnell, als dass man den Ortsnamen hätte entziffern können.

Wo war ich eben? Westberlin, richtig.

Seinen letzten Besuch in Westberlin unternimmt er trampenderweise mit Ulrike, seiner zweiten Liebe, wenn man die erste mitrechnen darf. Die heißt Karin und teilt mit ihm die Schulbank von der ersten bis zur dritten Klasse, bleibt ihm aber treu, bis er in den Chor kommt. Dass sie sich aus den Augen verlieren, schreibt er sich später als sein Versäumnis zu. Sie lässt ihn noch Jahre später über seine Mutter grüßen.

Ulrike kann man nicht mehr eine Kinderliebe nennen, weil er inzwischen ausgesprochen männliche Gefühle in sich verspürt. In Westberlin gibt es 1960 eine große Expressionismus-Ausstellung. Da muss er hin. Und Ulrike, die sich mehr für Georg als für Literatur und Kunst interessiert, muss mit. Sie erhalten natürlich getrennte Zimmer auf unterschiedlichen Fluren im Christlichen Hospiz in der Albrechtstraße. Ulrike ist die Tochter eines Arztes und bekommt viermal so viel Taschengeld wie er. Sie bezahlt die Übernachtung. Er besitzt ein bisschen Westgeld und übernimmt die Eintrittskarten für die Expressionismus-Ausstellung und die Wurst am Bahnhof Zoo. Diesmal meidet er Tante Vero. So groß ihr Herz auch ist, er befürchtet, sie werde die Reise des Neffen seinen Eltern nicht verschweigen wollen. Das zu erwartende Donnerwetter würde nicht ausbleiben, erst recht nicht, wenn sein Vater erführe, dass sein Sohn in weiblicher Begleitung unterwegs war.

Georg kann nicht wissen, dass er seine Tante für Jahre nicht wiedersehen wird.

Nicht ganz unerwartet klopft es an seine Tür. Da steht Ulrike im Nachthemd und tut, als fröre sie. Er zieht sie ins Zimmer und nimmt sie mit in sein Bett. Sie schmiegt sich an ihn, und er spürt ihre straffen kleinen Brüste. Er küsst sie und streichelt sie halsabwärts, bis er ihren kleinen runden Po zu fassen kriegt. Dann streichelt er sie poaufwärts unter ihrem Nachthemd weiter. Und auf einmal geschieht es. Er erschrickt so, dass er die Hand hervorzieht und Abstand sucht. Es tut mir leid, stammelt er und weiß nicht, wohin mit sich. Sie scheint das nicht aus der Fassung zu bringen. Sie schlingt ihren rechten Arm um seinen Hals und schiebt sich auf ihn. Er aber stößt sie zurück und wendet sich ab vor Scham. Sie bleibt bei ihm, dicht an seinen Rücken gepresst. Vor Sonnenaufgang muss sie sich aus seinem Zimmer geschlichen haben. Er findet nur ihren Geruch noch vor.

Beim Frühstück kein Wort davon, stattdessen eifrige Anstrengungen, den Vormittag sinnvoll zuzuplanen. Und während sie auf den Stufen des Pergamonaltars ins Schwärmen gerät, denkt er immer nur: Das nächste Mal wird es besser werden. Aber es gibt kein nächstes Mal.

Er schaute zum Viererabteil über den Gang. Ein stoppelbärtiger junger Mann, die Ärmel halb aufgekrempelt, die oberen Hemdknöpfe offen, sodass die Wolle herausquoll, saß mit ernstem Gesicht an seinem Laptop wie in einem rollenden Büro. Immer wieder las er etwas, scrollte mit seiner rechten Hand rauf oder runter, schrieb mit flinken Fingern ein paar Zeilen, stellte die Ellenbogen auf, klemmte nachdenklich seinen Kopf zwischen die Hände und las erneut. Die junge Frau ihm schräg gegenüber krümelte eben die andere Hälfte der Tischplatte mit ihrem Kuchen voll. Jedes Mal, wenn sie abbiss, beugte sie sich über den Tisch. Ihr grün-weiß gestreifter Pullover und der Schoß ihres langen meergrünen Rockes waren ebenfalls schon voller Krümel. Durch ihre leicht verschmierte Brille schaute sie zu Georg hinüber und lächelte. Er lächelte zurück und fragte: Schmeckt’s?

Selbst gebacken, sagte sie, dabei blies sie weitere Krümel aus den Winkeln ihres vollgestopften Mundes. Sie zog die Stirn in Falten, was so viel heißen sollte wie Pardon, und wedelte die Krümel von Pullover und Rock auf den Boden.

Als er wieder zu ihr hinüberschaute, war der Platz aufgeräumt. Sie lümmelte in der Fensterecke, die Füße auf dem Nebensitz, und las.

Georg versank wieder in Gedanken.

Es ist ein sonniger Morgen. Wie immer steht er als Erster auf.

Eine Angewohnheit aus frühen Internatszeiten.

Achtzig Jungen auf vierzig Waschbecken. Wer da nicht schnell ist, muss warten. Und wer ein Becken erobert hat, lässt sich manchmal Zeit. Dann wird es für die anderen eng. Zur Morgenandacht müssen alle unten im Speiseraum sein.

Später genießt er die frühen Morgenstunden. Er gehört inzwischen zu den Oberen, ist Tischältester, Mentor von drei Fünftklässlern, besitzt einen eigenen illegalen Hausschlüssel und schläft schon längst nicht mehr im großen Schlafsaal mit den 40 Betten, sondern in einer Dachschräge, zusammen mit weiteren fünf Sechzehn- und Siebzehnjährigen. Wenn die anderen aufstehen, hat er sich schon rasiert.

An diesem Morgen steht er nackt auf einer Kuhweide bei Sparow und rekelt sich. Er läuft hinunter zum See und wirft sich ins kalte Wasser. Enten schrecken schreiend aus dem Röhricht auf. Winzige blassgrüne Fische schwärmen vor seinen Schwimmbewegungen davon. Mit kräftigen Zügen erreicht er die Mitte des Sees. Er dreht sich um, sieht, wie die Sonne über den Dächern des Dorfes aufsteigt und alle Dürftigkeit mit einem goldenen Schleier bedeckt. Er wendet. Als er nicht mehr weit vom Ufer entfernt ist, kommt ihm ein Kanon in den Sinn: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Und während er zurück ans Ufer watet, fängt er laut zu singen an. Aus einem der Zelte setzt eine zweite Stimme ein, dann, zaghaft, eine dritte, eine Oktave höher. Er steigt aus dem Wasser, schüttelt sich wie ein Hund, dass es aus seinem vollen Haarschopf spritzt, und hüpft in großen Sprüngen hügelan. Außer Atem, den Kanon mit gebrochenen Lauten fortführend, gelangt er zu seinem Zelt, greift sich ein Handtuch und verstummt. Seine Schwester und Daniel haben singend den Frühstückstisch zu decken begonnen. Ein halbes Mischbrot liegt auf dem vierpfähligen Brettergestell, das er gebaut hat, sein Hirschfänger, eine neue Dose Schmalzfleisch und Marmelade, die nach nichts außer süß schmeckt.

Nächste Woche ist es vorbei mit Bundeswehrreserven, sagt er. Da essen wir nicht mehr, was die Bundeswehr an den Osten abtritt, da essen wir wie die Bundeswehr, lauter gute Sachen: Schinken und französischen Käse und Sardinen und Oliven.

Er sucht eine Musik auf dem kleinen Kofferradio, aber überall wird gerade gesprochen.

Dann müssen wir halt warten, sagt er, und stellt den Ton lauter: … hat die DDR-Führung alle Übergänge nach Westberlin geschlossen …

Alle drei stehen wie erstarrt und schauen sich ratlos an.

Das kann nicht sein, sagt er.

Aber welchen Sender er auch einstellt, überall die gleiche Meldung: Berlin ist dicht.

Das werden sich die Alliierten nicht gefallen lassen, darin sind sie sich einig.

Dann sickern weitere Einzelheiten durch. Die S-Bahn nach Potsdam halte nicht mehr auf Westberliner Bahnhöfen. Alle in Westberlin arbeitenden und studierenden DDR-Bürger seien aufgerufen, sich bei den Behörden zu melden. An den Grenzzäunen, die die DDR über Nacht gezogen habe, stünden Kampfgruppen der Arbeiterklasse zum Schutz der sozialistischen Errungenschaften. Der RIAS berichtet, auf Westberliner Seite versammelten sich Tausende Menschen. Protestrufe, Tränen und Verzweiflung charakterisierten die Stimmung in der nun erst recht geteilten Stadt.

Und wenn nicht? Wenn die Amis nichts machen? Und Adenauer auch nicht? Dann werden wir den Westen nie wieder sehen.