Czytaj książkę: «RAF oder Hollywood»
Christof Wackernagel
RAF oder Hollywood
Tagebuch einer gescheiterten Utopie
© 2017 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe
Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de
Umschlaggestaltung: © Hildendesign · München · www.hildendesign.de
Bildmotiv: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von shutterstock.com
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-86674-680-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Denen, die diese Zeit nicht überlebt haben
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Dieses Buch …
Prolog
1954
1955
1956
1957
1958
1959
1960
1961
September
1962
22. Oktober
1963
1964
1965
1966
1967
22. Mai
2. Juni
1968
2. April
11. April
11. Mai
1969
Herbst
1975
Herbst
1976
2. Januar
13., 14., 15. Januar
4. Mai
8. Mai
Juni
Juli
1977
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Epilog
Anhang
Dokumente
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Der Autor
Dieses Buch …
… ist keine Autobiografie.
Es ist auch keines über die RAF. Die RAF – als solche – hat es im Übrigen nie gegeben. Die RAF – das war ihre Besonderheit, ihre Stärke wie ihre Schwäche – war ein Zusammenschluss von Individuen, in dem jedes eine eigene Vorstellung von der Idee der RAF hatte:
Deshalb kann auch jede(r) – ehemals – Beteiligte nur für sich sprechen. In den folgenden Berichten in Tagebuchform geht es um die Entwicklung eines Bewusstseins, die in den Entschluss mündete, sich bewaffnetem Widerstand anzuschließen.
Damit sie nachvollziehbar wird, habe ich diesen in vielen Jahren gewachsenen und von vielen Erfahrungen, Begegnungen und erlebten zeitgeschichtlichen Ereignissen geprägten Prozess rein subjektiv beschrieben: eins zu eins den Zustand, das Denken, das Fühlen, den Zeitgeist zu Wort kommen lassen, wie er damals war, genau so geschrieben, wie ich damals dachte, fühlte, sprach und handelte, alles so dargestellt, wie ich es nach bestem Wissen und Gewissen von damals in Erinnerung habe.1
Wie und warum ich die RAF wieder verlassen hatte, was ich danach gemacht habe, warum ich seitdem auch Gegengewalt und Gegenmacht ablehne, wie ich heute denke und was ich heute tue, habe ich in unzähligen Interviews, Talk-Shows und Artikeln bereits erklärt, es ist auf meiner Webseite2 nachzulesen und liegt in Buchform3 vor.
Prolog
10. November 1977
Irgendetwas roch seltsam. Ich schloss die Tür hinter mir und schnüffelte. Die typische Amsterdamer Vorort-Wohnung in der Pieter Calandlaan hatte einige Wochen leer gestanden und roch nach vergorenem Fisch – ich zuckte mit den Achseln und riss die Fenster auf, um ordentlich durchzulüften.
Seit zwei Monaten in der Illegalität war ich nach Amsterdam gefahren, um Fotomaterial zum Zweck der Passfälschung zu kaufen. Als ehemaliges Mitglied des Fantasia-Druckkollektivs war ich prädestiniert dafür, mich auf diesen Bereich unserer subversiven Arbeit zu konzentrieren. Und da es in der RAF außer mir einige Haschischraucher gab, konnte ich nach getaner Arbeit die Chance nicht ungenutzt vorübergehen lassen, in Amsterdam, dem Mekka aller Kiffer, Nachschub für unsere Fraktion in der Fraktion zu kaufen. Sie war zwar nicht von allen gern gesehen, wurde aber stillschweigend geduldet, zumal unsere Altvorderen, die bis vor Kurzem in der Stammheimer Festung eingesessen hatten, samt und sonders die Cannabis-Heilkräuter liebten; oft waren wir von draußen kaum nachgekommen mit den von Anwälten weitergereichten Lieferungen herrlich duftenden grünen Marokkaners oder schwarzer Afghan-Platten. Wir alle hatten uns allerdings auf die Devise der Black Panthers geeinigt: kein Kiffen während Aktionen. Leider hatte sich diese nicht gerade revolutionäre Tätigkeit in Amsterdam etwas hingezogen, trotz des umfangreichen Angebots fand ich nicht gleich das Richtige – und verpasste den letzten Zug zurück nach Deutschland.
Kein Problem. Die Rote Armee Fraktion, Weltmeister in Sachen Logistik, hatte zu diesem Zeitpunkt mindestens zwanzig Wohnungen in Europa, davon einige in Amsterdam, davon wiederum kannte ich eine, inklusive dem Versteck des Schlüssels. In gewisser Weise frohlockte ich sogar: endlich mal wieder ein ruhiger Abend ohne Gruppe und ohne Diskussionen, wie alles nach dem Desaster in Mogadischu4 und Stammheim weitergehen sollte. Ich fühlte mich nicht wohl mit unserer Propagandalüge, Baader, Ensslin und Raspe seien von den Geheimdiensten ermordet worden, obwohl wir in der Gruppe selbstverständlich von Selbstmord sprachen, schließlich hatten wir ihnen ja die Waffen ins Gefängnis geliefert. Aber warum waren diese bei den doch unübertrefflich scharfen Razzien nicht gefunden worden? Also, klar war da nichts, und ich konnte jetzt endlich ganz in Ruhe allein für mich über all diese Dinge nachdenken. Der Muff der Wohnung störte dabei nicht. Den merkwürdigen Geruch führte ich auf meine durch die vom Proberauchen beim Haschischkauf erzeugte Übersensibilität zurück, denn es war wirklich ausgezeichnetes Zeugs, das ich gekauft hatte, nach zwei Zügen war ich richtig gut stoned.
Doch kaum hatte ich es mir bei einem Glas Tee und einer Zeitung gemütlich gemacht, klingelte das Telefon. Ich stutzte – eigentlich wusste nur ein Mensch, dass ich in dieser Wohnung war, nämlich Cressida, aber mit ihr hatte ich doch eben erst telefoniert, um ihr zu sagen, dass ich über Nacht hier blieb –? Dann musste es arg dringend sein!
Am anderen Ende meldete sich ein Mann – zum Glück erkannte ich ihn: Es war Gert Schneider, der andere Neue, gerade mal eine Woche länger als ich in der Gruppe. Ich war ein wenig neidisch auf ihn gewesen, weil er zur Ausbildung in ein Palästinenserlager im Irak geschickt worden war, was ich mir viel spannender vorstellte, als hier die langweiligen Passgeschichten zu regeln.
»Charly hat Krebs«, kam er sofort zur Sache, »ich muss Zeugs gegen seine Schmerzen besorgen, der lebt nicht mehr lang.«
Diese Information war ein Schock. Charly hatte Krebs und schon so weit? Wie furchtbar – ein weiterer Schlag. Ich hatte ihn nur einmal getroffen, aber wir hatten uns durchaus verstanden, zumal auch er einen guten Joint liebte.
Nachdem Gert gekommen war, beschlossen wir, als Erstes Cressida von dem neuen Tiefschlag zu informieren und dann lecker essen zu gehen, ich wusste ein gutes Lokal in der Nähe. Da es nach den Gesetzen konspirativen Handelns verboten war, von einer Wohnung in die andere zu telefonieren, mussten wir eine Telefonzelle suchen. Für den Weg trat ich ihm meine Handgranate ab, damit er nicht wehrlos herumlief, denn ins Flugzeug nach Amsterdam hatte Gert natürlich keine Waffen mitnehmen können. In der Regel war jeder mit einer Pistole und einer Handgranate ausgerüstet, wenn er auf die Straße ging – es war allerdings noch nie eine Handgranate gezündet worden.
»Hab ich gestern noch geübt«, sagte er lachend und steckte sie ein. Es gehörte zu den täglichen Übungen eines Stadtguerilleros, die Fingermuskeln zu stärken, um den Bügel einer bereits entsicherten Handgranate möglichst lange angespannt halten zu können, falls es in einer bedrohlichen Situation einmal nötig werden sollte. »Richtig im Sand robben und dann über eine Düne werfen«, erzählte er amüsiert von dem Leben im Palästinenserlager – ansonsten schien der Alltag in der Wüste jedoch nicht so spannend zu sein, eher eintönig sogar; allzu viel hatte ich offensichtlich nicht verpasst. Auf dem Weg zur Telefonzelle berichtete er vom schrecklichen Zustand Charlys, der so furchtbare Schmerzen habe, dass er härteste Betäubungsmittel brauche, am besten Morphium und Heroin. Ich war zwar ebenso scharfer Gegner aller Suchtdrogen wie ich Befürworter von Cannabis war, aber wenn es darum ging, jemanden den Tod zu erleichtern, gab es da nichts zu diskutieren.5
Kurz vor dem Restaurant fanden wir eine Telefonzelle. Cressida war sofort am Apparat und von der Nachricht schockiert – ich wusste, dass sie Charly mochte und unterstellte ihr, dass sie eifersüchtig auf Luisa war, weil diese seine aktuelle Freundin war, aber das alles spielte in dieser lebensbedrohlichen Situation keine Rolle mehr.
»Brauchen Sie noch lange?«, fragte jemand durch die nur einen Spalt geöffnete Tür der Telefonzelle.
Ich diskutierte gerade mit Cressida, wie und wo wir am schnellsten und sichersten Stoff für Charly bekommen könnten, und Gert, der seitlich hinter mir gegenüber der Tür stand, wiegelte ab: »Wir sind gleich fertig.«
»Hände hoch!« –
Ich fuhr herum und sah Mündungsfeuer aus einer auf Gerts Bauch gerichteten Pistole, während die Tür der Telefonzelle aufgerissen wurde und dahinter eine vermummte Gestalt brüllend und mit ihrer Waffe irre fuchtelnd um sich schoss, aber bis ich meine Sig Sauer gezogen hatte und zurückschießen konnte, spuckte die Pistole vor Gerts Bauch bellend eine zweite Ladung in ihn, und während er zusammenbrach, flog die Angreiferpistole in hohem Bogen durch die zersplitternde Glastür der Telefonzelle und die beiden Schützen zogen sich zurück – ich stürmte heraus – sah mich einem Halbkreis aus knallendem Feuerwerk umgeben, das ich ziellos um mich schießend zu erwidern suchte, doch –
meine Pistole klemmte –
verblüfft sah ich auf meine Hand –
da spürte ich einen derartigen Schlag im Ellenbogen, dass es mich herum- und zu Boden riss, während mir meine Waffe aus der Hand flog und ich hart aufschlug – am Boden versuchte ich mich zu orientieren, es knallte und blitzte von allen Seiten; ich sah, wie Gert sich durch die Glassplitter der Telefonzellentür auf den Gehweg wälzte, die Hände vor dem Bauch verkrampft, sich aufbäumte, mit der linken Hand den Sicherungsbügel der Handgranate wegriss, um sie mit der rechten in Richtung Mündungsfeuer zu werfen – woraufhin ein gewaltiger Donnerschlag durch die Straßenschluchten des Amsterdamer Vorortes hallte – dem ein Geballer aus allen Rohren folgte, das kein Ende nehmen wollte – ich sah, wie Gerts Körper, der unter dem Lichtkegel einer Straßenlaterne lag, von den Einschüssen hin- und hergeschleudert wurde, spürte selbst Einschüsse an den Beinen – bis Kommandos gebrüllt wurden und die Schießerei erstarb.
Kurz darauf hörte ich ein Keuchen neben meinem Ohr, eine heisere Stimme: »Keine Bewegung«, und ich spürte die kalte Mündung einer Pistole an meiner Schläfe. Es hatte nun keinen Sinn mehr zu reagieren, ich sah, wie immer mehr Gestalten uns umringten, bis eine von ihnen ihren Fuß auf meine Brust stellte und ihren Karabiner auf mein Gesicht richtete – dann löste sich die kalte Mündung von meiner Schläfe. Gert, der schwer verletzt sein musste, schimpfte auf Englisch vor sich hin – ich versuchte meinen Kopf zu heben, um zu ihm hinübersehen zu können, da brüllte der Kerl mit dem Karabiner mich an, drehte ihn um und stieß mir den Kolben in die Schläfe – die Frage durchzuckte mich, ob mir jemand in den Kopf geschossen hatte – und es wurde dunkel.
Sirenengeheul weckte mich, aber ich schaffte es nicht, die Augen zu öffnen, dämmerte wieder weg, kam wieder zu Bewusstein, hörte Gert, der fragte: »Where is my comrade?«, dämmerte wieder weg, spürte, dass meine Kleider aufgeschnitten wurden – ich auf einer Bahre getragen wurde – kam hin und wieder zu Bewusstsein, während wir durch die Straßen fuhren, und ich spürte, dass jemand eine Spritze an meinen Arm setzte – kurz darauf durchfloss mich ein derart unvorstellbar angenehmes Wohlgefühl, dass ich, bevor ich einschlief, dachte: Wenn das der Tod sein sollte, gibt es nichts Schöneres.
Drei Tage später wachte ich im Gefängniskrankenhaus mit einer Binde um den Kopf auf und stellte angenehm überrascht fest, dass ich noch lebte. Sofort herrschte völlige Klarheit in meinem Kopf – und der merkwürdige Geruch beim Betreten der Wohnung fiel mir ein. Wahrscheinlich, erkannte ich, hatte die Amsterdamer Polizei mit Hilfe des BKA unsere Wohnung gefunden und längst beobachtet – ich hatte den Angstschweiß der Männer gerochen, die unsere Wohnung durchsucht hatten und fürchteten, dass wir überraschend auftauchen könnten: Zwei Wochen zuvor war einer ihrer Kollegen bei einer solchen Konfrontation erschossen worden.
Ich hätte nicht die Fenster aufreißen, sondern das Weite suchen sollen.
1954
Mein Vater6 war sehr fromm. Seine Mutter7 war eine glühende Katholikin; ihren Visionen von Apostel Petrus, die sie auch literarisch verarbeitete8, verdankte er seinen Name Peter. In ihren Romanen und Theaterstücken verteufelte sie genauso glühend patriarchalen Männerwahn und identifizierte sich mit den Entrechteten und Gedemütigten dieser Erde. Diese Haltung entwickelte mein Vater in seinen Inszenierungen als Intendant des Ulmer Theaters weiter, indem er christliche Werte wie Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit aller Menschen als allgemeingültige vermittelte.
Da auch meine Mutter9 am Theater arbeitete, führten wir ein unregelmäßiges Leben. Zum Ausgleich dafür traf sich die ganze Familie, zu der noch meine ältere Schwester Sabine10 gehörte, einmal am Tag zum Essen, am Sonntag auch zum Frühstück; da gab es sogar ein weichgekochtes Ei. Wir hatten ein Esszimmer; mein Vater saß mit dem Rücken zum Fenster, ich saß rechts von ihm, meine Schwester Sabine links – ihm gegenüber meine Mutter.
Vor dem Essen wurde immer gebetet: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.«
Eines Tages hatte ich genug von dieser ewigen Einladung: »Wann kommt der denn endlich mal, dieser Herr Jesus?«
1955
Ich spielte mit meinem Freund Rolf auf dem Gehweg vor unserem Haus, einem vierstöckigen Neubau in der Gideon-Bacher-Straße. Er war ein Hund und ich eine Katze. Wir bellten und miauten die Passanten an, und wenn welche erschraken, lachten wir jubelnd. Einige schimpften sogar, was uns besonders freute; eine Frau gab uns Bonbons.
Ein älterer Junge kam vorbei. Er zwinkerte wichtig und winkte uns, mit ihm zu kommen. Wir folgten ihm neugierig.
In der nächsten Querstraße gab es eine Kriegsruine. Es war uns strengstens verboten, in ihr zu spielen, weil da vielleicht noch Bomben lagen, die losgehen könnten. Genau dorthin führte uns der Junge.
Davor angekommen, sah er sich sichernd nach allen Seiten um, und nachdem die Luft offenbar rein war, flüsterte er: »Los« – und wir huschten über moosbewachsene Gesteinsbrocken durch eine Mauerlücke in den Keller der Ruine. Drinnen war es kalt, glitschig und es roch muffig; Rolf und ich zitterten vor Aufregung.
»Jetzt zeig ich euch mal was«, sagte der Junge und nickte bedeutungsschwer – dabei zog er etwas aus seiner Hosentasche. Es waren an einem grauen Bändchen aufgereihte kleine rote Pappröhrchen. Während er Streichhölzer aus der Tasche zog, streckte er sie uns entgegen, damit wir sie näher betrachten konnten, und erklärte grinsend: »Des sen Judafirzle!11«
Wir lachten unsicher, wiederholten aber stolz: »Judafirzle!«
Der Junge legte sie auf den Boden, kniete sich davor und zündete ein Streichholz an. Etwas unheimlich war mir ja schon, hier, mitten zwischen den Bomben, die vielleicht hochgehen könnten, aber es war so spannend, dass ich alle Bedenken beiseiteschob. Der Junge hielt das lodernde Streichholz an das graue Bändchen, an dem sodann ein Funke entlangzischte, bis er das erste rote Pappröhrchen erreichte – das explodierte – erschrocken sprangen wir zurück – alle weiteren explodierten in rasender Schnelle hintereinander knatternd, Funken sprühend und in den düsteren Gemäuern hallend.
Offenen Mundes standen Rolf und ich da, ergriffen von dem Spektakel, dann jubelten wir – und der Junge zog geschmeichelt die nächsten Kracher aus der Tasche.
Nachdem ich die vier Stockwerke zu unserer Wohnung hochgestürmt war, berichtete ich meinen Eltern atemlos vor Begeisterung von meiner neuen Erfahrung.
Mein sonst so milder Vater12 wurde ernst. »Sag dieses Wort nicht noch einmal«, ermahnte er mich, »ich will das nie wieder hören.«
Ich hüpfte laut lachend vor ihm hin und her und rief extra auf schwäbisch, weil wir zuhause nur Hochdeutsch sprachen: »Judafirzle! Judafirzle! Judafirzle!«
»Christof!«, rief er, richtig wütend, »lass das! Ich verbiete dir das!«
Ich war kurz verunsichert – doch dann streckte ich meine Zunge heraus und wiederholte: »Judafirzle! Judafirzle!« – seine Hand landete klatschend auf meiner Wange.
Ich war so verblüfft, dass ich vergaß zu weinen.
Das hatte es noch nie gegeben.
Dann spürte ich den Schmerz und flüchtete zu meiner Mutter13, die von dem Krach alarmiert ins Zimmer gekommen war.
»Aber Peter«, sagte sie und streichelte meinen Kopf, »sei doch nicht so streng, das kann er doch noch nicht wissen.«
»Dann weiß er’s jetzt«, sagte mein Vater traurig.
1956
Familientreffen in Amsterdam. Meine Lieblingstante Yella14 und ihr Mann Otto waren aus London angereist, meine Tante Susi mit ihrem Mann aus Südwest-Afrika15, mein Opa Erich aus Brasilien. Wir fuhren alle zusammen in einem Boot durch die Grachten. Ich durfte auf dem Schoß von Yella sitzen und Kapitän spielen. Feuchter Wind streifte über mein erhitztes Gesicht, es roch aufregend, die Häuser sahen aus wie im Spielzeugland.
Mein Opa schwitzte und rauchte eine Zigarre. Das tat er oft. Er hatte eine lange Narbe auf der linken Wange, einen »Schmiss« – ich bewunderte diese Narbe und fand sie eklig zugleich. Er war einmal bei der Olympiade Schiedsrichter gewesen, das hatte ich auf einem Foto gesehen; darauf schwitzte er auch und diese Narbe war deutlich zu sehen.
Onkel Otto und mein Opa hatten sich vorher noch nie gesehen und redeten nun zum ersten Mal miteinander.
»Da zieht man extra ans andere Ende der Welt, um Ruhe vor den Nazis zu haben«, sagte mein Opa und schmauchte heftig, »und von wem wird man dort empfangen?«
Onkel Otto, der neben mir und vor meinem Opa saß, lächelte und nickte. »Ja«, sagte er, »sie sind überall und es geht ihnen gut.«
»Dabei«, fuhr mein Opa fort, »leben in Norte16 die meisten deutschen Juden, die es geschafft hatten! Deshalb bin ich ja dorthin.«
»Deshalb sind die Nazis ja auch dorthin«, versetzte Onkel Otto, wandte seinen Kopf nach hinten, bis es nicht mehr ging, und sagte: »Die Nazis können ohne die Juden nicht leben, das ist doch das Problem.« Er drehte sich wieder nach vorne und um seine Lippen kräuselten sich in seinem sowieso schon sehr zerfurchten Gesicht weitere zitternde, heruntergezogene Falten.
»Lasst doch diese Gespräche«, sagte meine Lieblingstante Yella. »Was soll der Christof denn denken?«
Ich dachte nichts, aber es war alles wahnsinnig spannend.
1957
Auf dem Eselsberg bei Ulm wohnten Inge17 und Otl18. Sie waren Freunde meiner Eltern, hatten viele gleichaltrige Kinder, und wir fuhren oft sonntags dorthin. Es gab immer selbstgemachten Kuchen und alle waren fröhlich.
Inge war wie eine Heilige, sanft und entrückt. Ihre Geschwister waren von den Nazis umgebracht worden. Sie hatten sich »Weiße Rose«19 genannt.
Otl war sehr lustig und machte gerne Quatsch mit uns Kindern. Er war Professor an der Uni auf dem Eselsberg20, die man von dem Haus der Aicher-Scholls aus sehen konnte. Alle Gebäude waren weiß und strahlten.
Die Fenster sahen merkwürdig aus, nicht normal rechteckig, sondern klobig viereckig. Ich fragte Otl, warum die Fenster so dick seien und brachte ihn damit zum Lachen. Dann erklärte er mir ganz viel, von dem ich nur verstand, dass die normalen Fenster »unmenschlich« seien. Das erschreckte mich, denn dann waren ja fast alle Fenster auf der Welt unmenschlich!
Da lachte Otl nicht mehr und nickte: »Das ist ja das Schlimme! Die Menschen müssen endlich umlernen!«
Die Volksschule, auf die ich ging, war ein Backsteinbau aus quadratischen Klassenzimmern, von denen jedes seinen eigenen Garten hatte, nur durch eine Glasscheibe vom Boden bis zur Decke getrennt. Sie war nur zwei Straßen von unserer Wohnung entfernt. Es herrschte eine helle, freundliche Atmosphäre in diesen Räumen, ich war gerne dort und es war spannend zu lernen. Außerdem gab es ein wunderschönes Mädchen, Susi, die ich später heiraten wollte. Zusammen mit meinem Freund Rolf, der zwei Häuser neben uns wohnte, ging ich jeden Morgen hin.
Vor der Schule holte ich bei dem Bäcker, dessen Laden im Parterre unseres Hauses lag, frische Brötchen, manchmal durfte ich sogar ganz alleine im Milchladen in der nächsten Querstraße Milch holen und sie meinen Eltern ans Bett bringen. Mein Vater freute sich sehr darüber und bedankte sich in wohlgesetzten Worten bei mir: »Das haben Euer Ehren aber aufs Vorzüglichste erledigt – welch außerordentliche Labsal!«
Dann verneigte ich mich und sagte: »Ich bin der schnellste Milchmann der Welt!«
»Ja«, sagte mein Vater, »wenn alle Menschen so wären, lebten wir im Paradies!«