Czytaj książkę: «Das nackte Wort»
Christian Uetz
Das nackte Wort
Roman
Mit einem Nachwort von Fabian Schwitter
Der Autor dankt Pro Helvetia und der Stadt Zürich für die Unterstützung des Romans.
Erste Auflage
© 2021 by Secession Verlag Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Ruzicska
Korrektorat: Peter Natter
Gestaltung und Satz: Erik Spiekermann, Berlin
Herstellung: Daniel Klotz, Berlin
Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-96639-045-4
eISBN 978-3-96639-046-0
Für Barbara »Die Köhlera« (1959 – 2021) und ihre Jahrtausende durchwehende Stimme der Ich-bin-die-ich-bin, in ihrer gegen Verfügbarkeit so sperrigen wie allheiteren Klänge
und
Für Hans-Jost Frey den unübertreffbaren Lehrer der unendlichen Autorität der Sprache
Und keiner Waffen brauchts und keiner Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.
HÖLDERLIN, Dichterberuf
Inhalt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
1. Kapitel
ICH WAR MIR GEWISS, etwas Göttliches gefunden zu haben, das das Jenseits auf eine unverneinbare Tatsache stelle – felsenfest, unumstößlich. Die Tatsache fußte in meiner Überzeugung, jeder Mensch sei durch seine Sprache zugleich in allem und jenseits von allem, was ist, und zwar jederzeit und überall, und könne aus diesem Jenseits heraus auch erst ein Verhältnis zum Diesseits und zur Welt ausbilden. Damit war mir die göttliche Dimension der Sprache offenkundig. Die Tatsache, dass wir sprechen und im Sprechen über allem sind, worüber wir sprechen, diese per se Metadimension der Sprache konnte mir die Frage nach Gott beenden. Die Sprache selbst war es, und die Gedanken waren ein Gottgespräch in sich selbst.
Nun geschah etwas Seltsames: Je mehr ich mich in die Gottgewissheit verstieg, desto stärker wollte ich im Alltag dienen. Ich wollte so ergeben wie möglich dienen, vielleicht war es Dankbarkeit, mir aber wollte vor allem scheinen, es handelte sich um eine schier unglaubliche Sucht zur Anbetung. Wie mir die Göttlichkeit der Gedanken in eine neue Dimension zu treten schien, so verwandelte sich auch meine Neigung zu meiner Herrin in eine neue, mich selbst verblüffende Obsession: Die mich schon immer verfolgt habende und zuweilen ausgelebte Dominafantasie, in der ich von einer mir unfassbar Schönen gepeinigt und erniedrigt wurde, mutierte in meiner Vorstellung zum vollständig geöffneten Paradies, in dem ich der Sklave meiner Ehefrau Liv war, ihr Sexsklave, ihr Haushaltssklave, ihr Kinderhütesklave.
Wir kannten uns seit 2007 und behaupteten von der ersten unverbindlichen Nacht an eine offene Beziehung, die wir mit spontanen Nächten hier und da und anderswo lebten. Auch die 2017 erfolgte Heirat war kein Vertrag zur Monogamie, sondern sollte einfach unsere Liebe besiegeln, samt den beiden Kindern, Rosa und Eva, die bei der Heirat null und drei Jahre alt waren. Mit der Offenheit gegenüber anderen glaubten wir nur unser Vertrauen zueinander zu vertiefen. Aber nun erschauderte ich allein schon bei dem Gedanken an meine Ehefrau-Herrin vor Glück und Hingabe und Begehren. Und da mich alles, was ich für sie tat, erotisierte, erregte es mich auch, ihre Wäsche zu waschen, für sie einzukaufen, zu kochen, zu putzen. Ihr im Bett zu dienen entsprach uns beiden von Anfang an. Dass ich nun auch im Haushalt möglichst viel übernahm, und Liv, die das Weimarer Goethe-Institut leitete, infolge einen weniger mühseligen Alltag genoss, freute sie selbstredend sehr. Es führte aber dazu, dass ich sie auch zu meiner tatsächlichen Domina machen wollte, was die üblichen Praktiken einschloss. Als ich ihr zu ihrem 45. Geburtstag, am 15. Februar 2020, Handschellen schenkte, nahm sie das noch gelassen hin, mit der Bemerkung, es sei dies doch eher ein Geschenk für mich selbst. Doch als ich ihr zwei Tage später auch noch eine Femdomfiebel, einen psychologischen Dominaratgeber und eine universale Dominapraktikenanleitung schickte, die sie nichtsahnend aus dem Postkasten holte, da riss ihr die Geduld und sie schrieb mir eine Textnachricht aus dem Zug, mit dem sie zu einer dreitägigen Goethe-Haus-Tagung nach München fuhr. Ich lebte halbwöchentlich in Zürich als Spanischlehrer und halb bei ihr und den Kindern, so dass ich nun wiederum nach Weimar unterwegs war, um die Kleinen vom Kindergarten abzuholen und zu hüten, bis Liv von der Tagung zurückkam. Heute habe ich die Dominabücher aus dem Briefkasten geholt. Mir missfällt diese ganze Nummer. Das sind doch keine Geschenke, dem anderen seine Fantasie aufzunötigen. Ich dachte, du bist in einer Phase der Liebe zu mir, in der ich sein kann, wie ich will. Dass ich keine Domina sein will, weißt du eigentlich. Akzeptierst es nur nicht. Oder was soll ich davon halten?
Wie fast immer in solchen Situationen, schrieb ich eine Mail. 18. 2. 2020: Du möchtest keine Domina sein, wie ich wissen müsste und offenbar doch nicht ganz wusste. Ich dachte wohl, ich könnte Dir mit den Dominabüchern die Domina schenken, die Du als meine Angebetete doch schon bist. Denn als Domina sollst Du nur ganz so sein können, wie Du bist und ganz das wollen, was Du willst. Du hattest mir im Herbst geschrieben, Du wüsstest zwar immer noch nicht so genau, was eine Herrin eigentlich sein soll, aber nichts treibe Dich weg von mir. Die Dominabücher sind meine Verirrung. Aber dass ich Dir im Haushalt und mit den wunderbaren Mädchen möglichst viel abnehmen will, ist doch das, was Dich in jüngster Zeit besonders freut. Dir dienen zu wollen ist mir auch an sexuelles Dienen gekoppelt. Ohne dieses verlöre auch das andere die Erregung. Und es erregt mich buchstäblich, wenn Du schreibst: Es wird spät heute – gibst Du den Mädchen einen Gute-Nacht-Kuss von mir? Wir können die Dominabücher vergessen. Ich will dir stattdessen schreiben, was mir dazu einfällt: Vor Augen schwebt mir die Szene vor wenigen Wochen. Wie Du Dich von meiner Zunge bedienen ließest, wieder und wieder, war für mich so heilig, dass ich schon nichts anderes mehr suchte – was mich nur umso mehr erfüllte. Du hast zuletzt gesagt, dass du Dich plötzlich fragtest, ob es nicht zu anstrengend werde für mich. Aber das wünsche ich mir ja. Keinen Satz höre ich lieber als: Hör nicht auf! Und auch beim Miteinander-Schlafen wünsche ich mir, dass Du immer neu sagst: Hör nicht auf! Wenn ich nur täglich an Dir untergehen und Dir ansonsten im Alltag alles abnehmen kann. Das erfüllt schon alles, was ich mit Domina meine. Ich weiß nicht, ob Du solches denkst, wenn Du sagst: Ich will keine Domina sein. Aber ich glaube es nicht und ich hoffe es nicht. Und wenn Du einfach willst, dass Du nicht dominant sein sollst, sage ich Ja dazu! Ich wage kaum zu schreiben, wie gerne ich sagte: Ja, Herrin. Verrückterweise fühle ich hier Ja, Herrin schreibend direkt zwischen den Beinen. Ich glaube jetzt in dieser Sekunde, dass das Dich Herrin zu nennen am tiefsten das ist, was ich suche, und dass es religiös ist, umfassender als alle konkreten Domina-und-Dienertätigkeiten. Das macht mich geradezu wahnsinnig vor Erkenntnis und Glück, taumelig vor Erregung. Zwar habe ich Dir gegenüber schon seit Längerem von der Herrin gesprochen, die ich gesucht und in Dir gefunden habe, aber nie sprach ich Dich als Herrin an, und noch denke und schreibe ich es nur, in der demutsvollen Hoffnung, es möge Dich so unaufdringlicher ansprechen.
Ich fürchtete, dass Liv sich ärgerte und wartete bange auf ihre Antwort. Bald aber schrieb sie in einer Kurznachricht, dass meine Mail wunderbar bei ihr angekommen sei. Ich trat auf den Balkon, sah die Sterne und sagte zu mir selbst: Ich war noch nie im Leben so glücklich!
Und als Liv von der Tagung zurückkehrend zur Tür hereintrat, war die gegenseitige Begeisterung unverkennbar, und da die Kinder schliefen, gingen auch wir bald ins Bett. Und siehe da, während ich an ihr unterging, hörte ich sie plötzlich sagen: Hör nicht auf!
Als Liv sich nach der gemeinsamen Zigarette aufs Sofa setzte, positionierte ich mich ihr zu Füßen. Zum ersten Mal plauderten wir, während ich am Boden hockend bald ihren einen, bald ihren anderen Fuß massierte.
–Kannst du dir denken, meine Herrscherin zu sein?
–Ich will nicht über dich herrschen, Georg!
–Wenn Frauen die besseren Herrscherinnen sind und dieser Verantwortung nicht ausweichen, müssten sie dann nicht zuerst privat konsequent durchziehen, über die Männer zu herrschen, um das Politische vorzubereiten? Und wenn ich dir im Bett diene und dir wie jetzt die Füße massiere, gefällt es dir doch auch?
–So habe ich nichts dagegen. Aber es missfällt mir, dass sich das Herrin-Diener-Modell in deinem Kopf zu verfestigen scheint und es so aussieht, als ob wir es vollends als fixe Rolle spielen sollen. Das passt mir nicht und engt mich ein.
–Dein Eindruck, dass ich mich darauf fixiere, trifft mich. Vielleicht hätte ich tatsächlich am liebsten das fix gelebte Modell des dich heiß Bedienenden und der mich kalt Unterwerfenden.
–Du bist eben auch in allem ein sehr obsessiver Charakter, darum steigerst du dich auch so obsessiv in solche Rollen hinein, und das gefällt mir ja besonders an dir, auch wenn es mir manchmal missfällt. Aber ich will nicht, dass du mein unterwürfiger Hund bist. Das passt nicht zu uns. Andererseits erinnere ich mich, wie ich dir doch schon vor Jahren vorgeworfen habe, dass du mir keinen Grund nennen konntest, warum du mich so überhöhst und anbetest, fernab aller Realität. Und da hast du gesagt, dass es keinen nennbaren Grund gäbe, sondern dass mich anzubeten deine größte Lust sei. Da hatte ich verstanden, dass es kein Warum braucht.
–Dass du meinen obsessiven Charakter zulässt, und zulässt, dass ich dich anbete, macht dich für mich nur umso anbetungswürdiger!
–Aber du willst das Leben immer feiern, obschon der Alltag oft ganz banal und freudlos und ärgerlich und fad ist.
–Weil jede Alltäglichkeit eine Beleidigung des Geistes ist. Also willst du eigentlich doch lieber nicht die Geschirrspülmaschine ausräumen?
–Doch, denn mir ist gerade alles umgekehrt: Nichts auch noch so Alltägliches ist alltäglich, auch das Allerbanalste nicht. Und das kann in allem und überall gegenwärtig bleiben, ob es nun beim Wäscheaufhängen ist oder in der Warteschlange an der Kasse oder im unendlichen Gequassel.
–So kann ich das auch sehen. Aber sein eigenes Leben zu feiern ist ignorant gegenüber allem Elend dieser Welt.
–Ja, ich weiß. Wir haben es auch schon oft besprochen, dass in meiner Sprachfeier eine unauslöschliche Verliebtheit brennt, die dem Jenseits gilt, um hier das Göttliche zu sehen.
–Aber wir haben auch schon oft besprochen, dass du recht hast, wenn du sagst, dass ein Leben ohne Lust sinnlos ist und dass es darum geht, weder die Freude zu verlieren noch das Engagement gegen Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit.
–Aber dass ich es jetzt feiere, dir zu Füßen deine Füße zu massieren, ist das denn nun gut für dich?
–Das kann ich durchaus genießen.
–Du bist eben genuin eine Herrin.
Im Sommer 2018 hatte Liv beschlossen, nie mehr zu fliegen und kein Fleisch mehr zu essen, obschon sie bis dahin immer gerne auch mal für Ferien ans Mittelmeer geflogen war oder dann und wann ein Stück Fleisch gegessen hatte. Das Beste zur Rettung der Erde sei nicht das klimafreundliche Konsumieren, sondern der entschiedene Verzicht auf den Konsum. Das Leben werde nicht weniger intensiv ohne Fliegen und ohne Auto und ohne Fleisch. Ein Auto hatten wir sowieso nie. Plastik-, Wasser- und Energieverschwendungen kamen wie bei vielen Deutschen auch für Liv nicht in Frage. Im August 2019 hatte Liv mehrere Wochen einen Flüchtling aus Eritrea illegal in ihre Wohnung in Weimar aufgenommen, der allerdings kaum da war. Im Oktober 2019 nahm sie von einem Tag auf den anderen den ihr völlig unbekannten Syrer Almud in unsere Wohnung auf, der als Medizinstudent so lange bleiben sollte, bis er eine eigene Wohnung gefunden hatte, was kurz vor Weihnachten der Fall war. Er hätte aber gut noch viel länger bleiben können. Die Mädchen mochten ihn sehr. Liv hatte das Kinderzimmer für den gebrochen Deutsch redenden Almud freigemacht. Rosa und Eva schliefen so lange bei uns. Dass wir somit auch nachts keine Privatsphäre hatten, war sekundär. Liv war eine Urkommunistin und hätte auch gut in einer Kommune leben können. Dementsprechend frei war auch ihr Liebesleben. Sie hatte das so simple wie wirksame, Männer wie Frauen anziehende Schema der schlanken Blondine mit blauen Augen, dazu einen leichten Silberblick, der sie noch sinnlicher aussehen ließ. Obschon sie sich nie besonders sexy aufmachte, war ihre Ausstrahlung immer erotisch. Liv war Atheistin, aber nicht im provokativen Sinn. Sie hatte hohen Respekt vor allen, denen die Realität nicht die einzige Realität und die Welt nicht alles war. So schätzte sie auch mich dafür, dass ich in der Sprache den mangelnden Engel wahrzunehmen glaubte. Und ich wiederum fühlte mich durch Liv permanent darin herausgefordert, was es bedeutete, wenn einer in den Gedanken ein Jenseits sieht und ein Verhältnis zu allem hat, was nicht ist. Und ich hatte auch die uneingeschränkte Hochachtung davor, dass Liv nicht einfach glaubte, sondern redlich dazu stand, religiöse Dinge nicht zu wissen und offen zu bleiben für das Offene, eine das Erhoffte nicht erwartende Unentschiedenheit.
Für mich, alias Georg Niemann, war jeder Mensch verstiegen und im Denken abgehoben, weil er mit der Sprache stets über und jenseits der Realität war, also unweigerlich vermessen, aber zugleich gottgleich in der Realität der sprachlichen Illusion. Die Verstiegenheit bürgte mir auch für die Einzigkeit, die die subjektive Illusion zum objektivsten Faktum erklärt, so absolut, dass sie auch die Realität als Realität zu erfahren erst möglich macht. Sie war auch der Grund, warum ich ein Poet zu sein wähnte und ein Gedankenbuch schrieb:
Januar 2020
Der Mensch ist Gott, wenn er spricht, ob er das will und weiß oder nicht. Jeder, der über die Welt spricht, spricht wie Gott, auch wenn es nur die eigene Meinung ist und auch wenn sie gar nicht stimmt. Wer sagt, wie es ist, ob sachlich oder leidenschaftlich, ob wissenschaftlich oder journalistisch oder essayistisch oder literarisch, hat darin den Gottstatus der Herrschaft inne. Wir leben mehr vom Reden als von der Realität, und es ist uns realer als alle Realität. Im Sprechen sind wir Gott und es ist uns in der Sprache alles möglich. Darum können wir so selbstverständlich lügen ein ganzes Leben lang. Im Sprechen sind wir Gott und im Schweigen auch. Im Poetischen oft schönster Weise, im Politischen meist monströser Weise und im Alltäglichen unendlich quasselnder Weise sind wir in der Sprache Gott, in der Tat aber nicht. Und solange wir über alles nur plaudern miteinander, sind wir im Paradies. Es heißt mit recht Taten statt Worte, aber auch das ist ein Wort, und überdies eines, welches meistens nur gesagt wird, und es ist sonderbarerweise umgekehrt genauso wahr: Worte statt Taten, denn wenn wir über all den Horror, den wir Menschen begehen, nur reden würden statt ihn auch zu tun, würde er gar nicht geschehen. So viel ist gewiss: dass wir miteinander und zueinander sprechen können und ein Gespräch sind, ist noch immer das Unfassbarste an uns. Dass wir über alles reden können das ganze Leben, von morgens bis abends, Tag und Nacht, das ist noch immer ein so selbstverständlich gewordenes Wunder, dass es permanent vergessen wird. Wozu denn Göttinnen und Götter, wenn wir sie im Wort selbst sind? Weil wir sie nur im Wort sind, nur in Augenblicken im Fleisch, aber nicht in der Tat. Für das Wort wiederum reicht das Wort. Es sagt alles, was es ist und bringt uns zur Helle wie zur Hölle, zum Glanz wie zur Verblendung. Manche nennen es das Wunderbare, das Herrliche, das Heilige. Mir am liebsten ist es das allerpersönlichste Du. Und wenn Du Wunderbare sagst, wir brauchen keinen Gott, weil die Erde auch ohne Gott so viel Wunderbares und Furchtbares hat, so sprichst Du genau damit das Göttliche aus. Dass Du das Wunderbare und Grässliche auf der Erde aussprechend ans Licht bringst, ist schon die andere Helle. Wir haben die völlige Verantwortung über unser Tun, weil der Sprache die Gottverantwortung innewohnt. Darum ist die Frage nicht: Warum lässt Gott Gräueltaten zu? Sondern: Warum begeht der Mensch Gräuel, obwohl er in der Sprache Gott ist und damit die Verantwortung innehat und die Sprache ihn schon vor der Schrift zur Güte und in die Liebe drängt wie in eine allumfassende Vorschrift? Warum also noch immer überall und wieder und wieder Göttin und Gott, wo wir es im Wort doch selbst sind? Da wir uns in der Sprache der gottgleichen Redlichkeit und mit ihr einem Gerichtshof des Verantwortens und einem Horizont des Verdankens aussetzen, der uns übersteigt. Aber vielleicht macht es doch keinen Unterschied, ob das Wort mit oder ohne das Wort Gott Göttin ist. Das ist jetzt gar das Schönste! So ist allen in der Sprache Göttlichkeit geschenkt, ob angenommen oder nicht. Wie die Sonne für alle scheint, unabhängig von ihrem Tun und ihrem Glauben und ihren Worten und ihrem Sein, so erscheint auch die andere Helle in jeder Sprache und ist Gottlicht in jedem Erkennen.
Fällt dir nicht auf Liv, dass alles, wozu du dir eine Meinung machst, in Sprache geschieht? Deine Ansichten darüber, was Sinn ergibt, deine Bekenntnisse, deine Urteile, deine Befürchtungen, dein Glaube, dein Wissen, dein Wollen? Ist es dir nicht eine Offenbarung, dass alles, was du zu tun und zu ändern gedenkst, sich in der Sprache vollzieht? Alle deine Pläne und Hoffnungen, dein politischer oder sozialer Kampf, dein Engagement für das Klima und die Natur? Dein Wachrütteln-Wollen, deine Erziehung der Kinder und der Mitmenschen? Du denkst, es ist evolutionäre Zufälligkeit, nicht anders als der Brunftschrei des Affen und der Warnschrei der Amsel, nur raffinierter und differenzierter? Aber wie wir Menschen über alles sprechen und über alles nachdenken, macht aus unserem Sein ein Gottsein im Wort, das dem Sprechen ohne das Sprechen über das Sprechen fehlt. Wir sind in der Sprache frei von den Dingen, ob wir das wollen oder nicht. Das freie Gespräch ist eine andere Dimension. Ein Leben lang benutzen wir die Sprache und quasseln in Politik und Wirtschaft und Recht und Kultur und ignorieren das göttliche Gut.
Je mehr jemand in seinem Reden das Sagen hat, desto mehr lässt sich erkennen, wie entsetzlich es ist, dass wir in der Sprache Gott sind. Es ist schlicht grauenhaft. In der unendlichen Fiktion der Sprache ist nicht nur alles möglich, es kann auch schlechthin alles, was gesagt wird, geglaubt oder nicht geglaubt werden. Das heißt, es kann alles behauptet werden. Wir leben so sehr von der Sprache, dass auch noch so hanebüchene Behauptungen so wirksam sein können wie Fakten. Das Wie-Gott-eigene-Bild von allem und also die eigene Meinung sagt uns meist mehr als die Tatsachen. Deshalb lässt sich die Macht der Meinungen auch von Fakten nur schwer korrigieren. Weil wir in den Worten Gott sind, ist die Plage der Rechthaberei so monströs und genügt es, wenn Behauptungen geglaubt werden, egal, ob sie wahr sind oder nicht. Durch die Einbildungskraft der Sprache brauchen überdies Lügen nur arrogant genug gesagt zu werden, um nicht nur Andere zu überzeugen, sondern auch den die Lüge Aussprechenden. Deshalb sind Fake News so mächtige Alternativen. In der Sprache hat alles eine eigene Realität. Jede auch noch so unmögliche und märchenhafte Erzählung ist auf sprachliche Weise wirklich, selbst wenn das Erzählte nicht geglaubt wird. Und umgekehrt bleiben nicht nur die Geschichten, sondern auch die persönliche und die politische Geschichte darauf angewiesen, dass das, was geschehen ist und geschehen wird, geglaubt wird. Auch Filme und Fotos werden nicht verhindern, dass Passiertes nicht geglaubt wird, wenn das Erzählen es anders behauptet. Und noch nicht einmal bei dem, was wir mit eigenen Augen sehen, ist sicher, dass wir glauben, was geschieht, und nicht ein anders Berichten oder gar das eigene Gedächtnis es löscht und verändert. Kein einziger gesprochener oder geschriebener Satz ist davor gefeit, nicht geglaubt zu werden. Ebenso kann, was in der Zukunft geschehen wird, nur geglaubt werden. Selbst wenn mathematisch gewiss ist, was geschehen wird, ist es möglich, dies nicht zu glauben.
Wie ist es nur möglich, dass wir die Göttlichkeit der Sprache übersehen? Wo doch alles im menschlichen Leben unter der Herrschaft der Sprache geschieht. Nicht nur alles, was geglaubt werden kann, sind Worte, und nicht nur religiöse Bücher wie Bibel, Thora und Koran, nein, auch sämtliche Gesetze des Rechts und der Politik sind Sätze. Auch die mathematischen und physikalischen Gesetze sind wie alle Lehren in allen Fächern als Sätze erfasst. Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat ist ein auf eine Formel gebrachter Satz. Und der Mensch quasselt sein Leben lang. Wenn uns überdies irgendetwas am Humor liegt, und es gibt viele, die Ironie und Witz für das Wertvollste überhaupt halten, wenn uns also irgendetwas an der Heiterkeit Humor liegt, so haben wir es von der Sprache. Des Menschen Witz ist Sprachwitz, schon bei der Zweijährigen und bis zum Greis. Und das die Sprache habende Tier namens Mensch quasselt Tag und Nacht, und alle Politik, absolut alle, handelt durch Sprache. Es wird überall gequasselt, ohne Pause, insbesondere bei den Nachrichtensendern, deren Sprechen ist Reden über alles, was geschieht und getan werden soll. Es ist meist kein Quatsch, doch die Ignoranz davon, was es heißt, über alles sprechen zu können, begründet die Not, dass dieses Reden hier Quasseln genannt werden will, weil es blindes Reden ist mit oft verheerender Wirkung.
Aber, will man meinen, die Sprache ist doch nicht das Wichtigste in unserem Leben. Alles Nichtsprachliche, das Sinnliche, die Natur, das Erleben des Lebens und das Tun des Lebens sind doch viel wahrer als die Sprache! Wo bleibt denn alles Nonverbale, die 99 Prozent des Menschen, die nicht Sprache sind? Nein, sage ich, es ist eben für uns zu 100 Prozent umgekehrt. Es spricht alles für uns. Überhaupt alles spricht zu uns. Alles sagt uns etwas. Nicht nur selbstredend das gesamte psychische Erleben teilt sich uns sprachlich mit, auch alles rein Physische spricht und spricht. Auch alles Sprachlose spricht zu uns. Und alles, was uns nichts sagt, sagt uns das Nichtssagende, und auch das Schweigen und die Stummheit sind Modi der Sprache. Wenn ich sage: Dieses Bild sagt mir nichts, oder Dieser Augenblick sagt mehr als tausend Bücher ist das Sprache pur. Auch alles Körperliche spricht, jede Geste ist Sprache. Wer sagt, dass für ihn das intensivste Erleben erst da ist, wo die Sprache aufhört, bei dem spricht die Intensität als Intensität. Wer sagt, die Musik spreche für ihn viel mehr als jede Sprache, für den spricht die Musik als Musik. Wer sagt, in der Meditation geschehe genau das Auflösen der Sprache und das Auflösen des Denkens in eine sprachlose Gegenwart, für den spricht die Meditation als Gegenwart. Denn für uns Menschen spricht alles und alles kommt zur Sprache. Wer sagt, sein Klettern ist pures Klettern ohne Sprache, sein Schwimmen Schwimmen ohne Sprache, sein Essen Essen ohne Sprache, sein Küssen Küssen ohne Sprache, bei dem spricht das Klettern als Klettern und das Schwimmen als Schwimmen und das Essen als Essen und das Küssen als Küssen als Sprache im Raum des Verstummens, der in der Sprache der tiefste ist. Und wer sagt, unendlich viel wahrer als die Sprache sei der Schmerz und das Leiden und die Folter und das Morden, bei dem spricht der Schmerz als Schmerz und die Folter als Folter und das Leiden als Leiden und das Morden als Morden im Raum der Empfindungen und der Handlungen bis ins Wirklichste einer Wirklichkeit, die uns auch sprachlos Sprache ist. Und wer mit den Händen spricht, dem sprechen die Hände, und wer mit Zeichen und Gesten spricht, dem Sprechen die Zeichen und Gesten. Und wer mit den Augen spricht, dem sprechen die Augen. Denn im Menschen spricht alles. Und je stummer uns eine Musik oder ein Bild oder ein Film oder ein Verbrechen oder eine Schönheit oder eine Grässlichkeit machen, desto dichter sprechen diese Dinge. Denn alles spricht für den Menschen. Aber für das Verhalten des Menschen spricht gar nichts.